von Niklas Hartmann, Anne C. Thaeder, Jörg Riedel, Maike Piesker, Catherine Herbin, Hannah Mahé Crüsemann und Norman Sieroka
Wissenschaftliches Schreiben kann man nicht von allein. Ein Tutorium, begleitend zur zweisemestrigen Vorlesung „Geschichte der Philosophie“, soll jetzt Abhilfe schaffen. Anhand von kurzen Schreibaufgaben soll Studierenden der Einstieg ins wissenschaftliche Schreiben erleichtert werden. Im Peer-Reviewing lernen die Studierenden nicht nur, fachliche Themen für Mitstudierende verständlich darzustellen. Sie werden auch schrittweise an die Prinzipien des kritischen Denkens geführt. Das Halbzeit-Ergebnis zeigt erste Erfolge.
Wissenschaftliches Schreiben an deutschen Hochschulen
Die Beherrschung von Fach- und Wissenschaftssprache wirkt sich sehr stark auf den Studienerfolg aus. Das legt eine Untersuchung zum Studienabbruch Studierender an deutschen Hochschulen nahe (Ebert/Heublein 2017:42). Als Hauptgrund nennt ein Drittel der befragten das Scheitern an den Leistungsanforderungen, wozu in den meisten Fächern auch das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten gehöre. Mit Abstand folgen weitere Gründe, wie fehlende Motivation, persönliche Gründe (z.B. gesundheitliche Einschränkungen) sowie schlechte finanzielle Bedingungen (ebenda: 117). Auch andere Untersuchungen zeigen, dass Studierende gerade zu Beginn ihres Studiums Schwierigkeiten mit der Wissenschaftssprache haben (Pohl 2007, Steinhoff 2007, Lüdke/Deutscher 2013).
Lange Zeit dominierte an Hochschulen die Einstellung, dass die Schulen für die Vermittlung grundlegender Kenntnisse im Umgang mit wissenschaftlichen Texten verantwortlich seien (Girgensohn/Sennerwald 2012:85). Allerdings weist die Forschung zu Fachsprachen und zu schulischen Kompetenzen auf einen erheblichen Unterschied zwischen schulischem und hochschulischem Lesen sowie Schreiben hin (Decker 2016:76). Die Schwierigkeiten vieler Studierender mit akademischen Texten seien auf eine „mangelnde Passung“ zurückzuführen zwischen den zu lesenden und zu schreibenden Texten an Schule und Hochschule (ebenda:84). Spätestens seit Beginn des Qualitätspakts Lehre 2012 findet hier ein Umdenken statt. Bundesweit werden bis Ende 2020 an den Hochschulen viele Projekte zur Vermittlung des akademischen Schreibens gefördert (Knorr 2016:12). Neuankömmlinge an der Universität seien wie „traveller in a strange land“ (Cronin 1984: 65). Interessante und herausfordernde kleine Schreibaufgaben könnten eine gute Gelegenheit bieten, sich nicht nur die neue Umgebung vertraut zu machen, sondern auch dort heimisch zu werden.
Schreibübungen im Tutorium zur Ringvorlesung „Geschichte der Philosophie“
Ein vermuteter Zusammenhang von mangelnder Routine im fachlichen Schreiben und Studienabbruch nach dem ersten Studienjahr führte auch zur Einrichtung von Schreibübungen und Peer-Reviewings im Tutorium zur Begleitung der Ringvorlesung „Einführung in die Geschichte der Philosophie“ im Studiengang Philosophie an der Universität Bremen.
Trotz des Pflichtseminars „Wissenschaftliches Arbeiten“, das im ersten Studienjahr absolviert werden sollte, gab es immer wieder den Eindruck, dass die Studierenden im zweiten Studienjahr Schwierigkeiten beim Erstellen wissenschaftlicher Hausarbeiten hatten. So kam es nach wiederholten Gesprächen zu der Idee, „Wissenschaftliches Arbeiten“ in die mittlere Studienphase zu verschieben, um die Studierenden besser zu begleiten. Im ersten Jahr sollten stattdessen mit verpflichtenden aber unbenoteten Schreibübungen im Tutorium zur Geschichte der Philosophie die Schreibkompetenzen gefördert werden, die notwendige Voraussetzungen für das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten sind: Gut lesbare, orthographisch korrekte, prägnante Zusammenfassungen von Inhalten.
Das Schreibcoach-Tutorium begleitet seit dem Wintersemester 19/20 das ganze Studienjahr und bietet den Studierenden gleich zu Beginn des Studiums ohne Leistungsdruck Übungsmöglichkeiten zum fachlichen Schreiben. Dafür wird neben dem Verfassen einer bestimmten Anzahl von inhaltlichen Darstellungen auch das Reviewen von Texten der Kommiliton*innen geübt. So lernen die Studierenden von Anfang an bei der Erstellung der Kurztexte „Ver-Antwortung“ im akademischen Kontext zu zeigen: Sie müssen Position beziehen und Rede-und-Antwort stehen. Auf diese Weise wird das kritische Denken geschult (Sieroka et al. 2018), Sicherheit beim Schreiben erworben und die Inhalte der Ringvorlesung repetiert. Mit kritischem Denken ist die Fähigkeit gemeint, verschiedene Positionen, Handlungen und Haltungen zu unterscheiden, zu hinterfragen, Fehlerhaftes zu erkennen und sich für das Angemessene zu entscheiden (CTETH o.J.). Um sich diesem Ziel anzunähern, werden die Schreibaufgaben schrittweise in ihrer Komplexität gesteigert.
Die Idee zum Peer-Reviewing im Rahmen des Tutoriums gab Norman Sieroka, der seit April 2019 Professor für Theoretische Philosophie und modulverantwortlich für das Modul „Geschichte der Philosophie“ ist. Sie basiert auf den Erfahrungen aus der Lehrveranstaltung „Philosophical Aspects of Quantum Physics“, die er von 2016 bis 2018 an der ETH Zürich durchführte. Dort hatten die Studierenden die Aufgabe, als Kurztexte so genannte Critical Statements zu den Themen der Veranstaltung zu verfassen. Der Fokus lag dabei darauf, den Inhalt der physikalisch-philosophischen Fachtexte in verständlicher Sprache darzustellen. Adressaten der Statements waren die Mitstudierenden, die wiederum kurze Reviews als Feedback schrieben. Das Ergebnis war für Studierende und Lehrende damals gleichermaßen positiv: Die Studierenden erhielten mehr Sicherheit und ein höheres Tempo beim Schreiben. Das Peer-Reviewing förderte das Verständnis über die Wirkung eigener Texte. Die Lehrenden erhielten im Verlauf der Veranstaltung qualitativ deutlich verbesserte Texte.
Vorbereitung
Für die Leitung des Tutoriums zur Ringvorlesung fanden sich mit Hannah Mahé Crüsemann, Maike Piesker und Niklas Hartmann drei geeignete Philosophie-Studierenden höher Semester. Sie erhielten von der Studierwerkstatt im Rahmen des ForstA-geförderten Peer-Schreibcoachings in einem Workshop eine methodische Vorbereitung zur Gestaltung des Schreibprozesses. Im Zentrum der Vorbereitung standen neben einem Überblick über gängige didaktische Übungen zum Schreibprozess vor allem Methoden zur Gestaltung von Mitschriften, zur Textanalyse und zur Textverständlichkeit. Als ein methodischer Weg zur Förderung des kritischen Denkens wurde zusätzlich die Lernziel-Taxonomie von Bloom vorgestellt (vgl. Abbildung 1: Bloomsche Taxonomie). Nach diesem Modell lassen sich sechs verschiedene Lernziele differenzieren, die im Schwierigkeitsgrad aufeinander aufbauen (Brüning/Saum 2007:100).
Bezogen auf die Steigerung der Komplexität studentischer Texte ergeben sich anhand der Lernziel-Taxonomie folgende Möglichkeiten: In einem ersten Schritt geht es darum, in den Texten die zentralen Themen einer Einzelvorlesung darzustellen und in eigenen Worten wiederzugeben (Stufe 1 und 2 des Bloom-Modells). Darauf aufbauend lässt sich im zweiten Schritt die Information anhand eines Beispiels illustrieren und in inhaltliche sowie formale Bestandteile zerlegen (Stufe 3 und 4). Ein dritter Schritt bietet schließlich die Möglichkeit, die Information in den Kontext der gesamten Veranstaltung zu stellen und ein eigenes Urteil zu bilden (Stufe 5 und 6).
Für das Wintersemester 19/20 hatten die Studierenden die Aufgabe, jeweils zehn Kurztexte zu schreiben, wovon mindestens vier die zentralen Inhalte der jeweiligen Einzelvorlesung erfassen und für die Mitstudierenden verständlich und nachvollziehbar darstellen sollten (entsprechend der ersten beiden Stufen des Bloom-Modells). In wiederum mindestens vier der weiteren Texte sollten die Studierenden für ihre Kommiliton*innen ein Feedback auf deren inhaltliche Darstellung in der Form eines Reviews formulieren. Die zehn Kurztexte sind Bestandteil der Zulassung zur Prüfung am Ende der Vorlesung.
Ablauf
Die Studierenden verteilten sich zu Beginn des Wintersemesters auf die drei wöchentlich angebotenen Tutoriumstermine, parallel zu den Veranstaltungen der Vorlesung. Dabei war das Tutorium im unmittelbaren Anschluss an die Vorlesung mit anfangs knapp 30 Personen das am besten besuchte. Die beiden anderen Tutorien fanden mit 10 bis 15 Personen (vielleicht aus terminlichen Gründen) weniger Resonanz.
In jedem Tutorium teilten sich die Gruppen in je zwei Hälften. Die eine Hälfte schrieb die inhaltlichen Darstellungen und die andere die entsprechenden Reviews. Anschließend wechselte die Aufgabe, auch ein Wechsel der Partnerschaften des Peer-Reviewing war möglich. Die Studierenden sollten die inhaltliche Darstellung innerhalb einer Woche nach der jeweiligen Veranstaltung auf die Plattform zur Aufgabenbearbeitung DoIT! an der Universität Bremen hochladen. Ebenfalls spätestens nach einer Woche sollte das entsprechende Review verfasst und hochgeladen sein.
Damit war gewährleistet, dass die Abstände zwischen Vorlesung, inhaltlicher Wiedergabe und Feedback nicht zu groß wurden. Außerdem konnten die Tutor*innen so den Schreibprozess verfolgen und sich anhand der Texte auch inhaltlich vorbereiten: Unpräzise oder fehlerhafte Darstellungen wurden aufgegriffen und im Tutorium thematisiert. Auch ließen sich so formale Unklarheiten zur Textgestaltung beheben, falls die Studierenden sie nicht im Tutorium von alleine ansprachen. Die studentischen Texte waren allerdings nicht notwendigerweise Bestandteil der Tutorien. Die Tutor*innen konnten selbst entscheiden, inwieweit sie sich in ihren jeweiligen Veranstaltungen bedarfsgerecht auf die Texte der Studierenden beziehen wollten.
In einem Tutorium bekamen die Studierenden anhand des Schaubilds zur Analyse des Lesevorgangs Anregungen, worauf sie beim Schreiben eines Reviews achten können (vgl. Abbildung 2: Analyse des Lesevorgangs). Die teilnehmenden Studierenden konnten dann auch selbst bestimmen, wie sie mit den Reviews auf die eigenen Texte verfuhren. Eine Überarbeitung und nochmalige Abgabe der Texte war nicht verpflichtend. Vielmehr – so die konzeptionelle Annahme – sollte das Feedback des Reviews den nächsten Text beeinflussen.
Begleitend zum Tutorium gab es regelmäßige Austauschtreffen des Organisationsteams. Das bestand neben den beiden Tutorinnen Hannah Mahé Crüsemann und Maike Piesker und dem Tutor Niklas Hartmann aus Norman Sieroka und zwei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Catherine Herbin und Anne Christina Thaeder. Zudem war Jörg Riedel aus der Studierwerkstatt bei den Treffen dabei.
Zwischenergebnis
Die Erfahrungen aus den Tutoriumsveranstaltungen des Wintersemesters weisen auf erste Erfolge hin: Die Tutor*innen stellten eine positive Entwicklung in der Qualität der studentischen Texte fest. Neben einer zunehmend ausgeprägten Sicherheit und Präzision in der Darstellung von fachlichen Inhalten verbesserte sich auch die Angemessenheit der Formulierungen. Der korrekte Gebrauch des Konjunktivs und der Modalverben sowie die Nutzung des fachadäquaten Vokabulars nahmen mit der Anzahl der geschriebenen Texte zu. Auch die fortgeschrittenen Studierenden profitierten von den regelmäßigen Schreibaufgaben und konnten durch verschiedene Aufgaben einen eigenen Stil entwickeln. Gerade beim Schreiben philosophischer Texte geht es nicht darum, einer vermeintlichen Musterlösung möglichst nahezukommen, sondern eine Darstellung und einen Stil zu finden, der dem Inhalt angemessen ist (Sieroka 2018). Die Entwicklungen der Texte legen nahe, dass die Arbeit ohne Notendruck diesen freieren Zugang zum Schreiben ermöglichte.
Durch das Reviewen „auf Augenhöhe“ verbesserte sich die Textqualität. Die Studierenden hatten die Aufgabe, in ihren schriftlichen Feedbacks nicht nur auf die verständliche und korrekte inhaltliche Darstellung ihrer Kommiliton*innen zu achten, sondern sollten in ihren Texten auch auf die Nachvollziehbarkeit des Textaufbaus, auf Zitierweise und sprachliche Richtigkeit eingehen. Ebenfalls entscheidend für das Gelingen des ersten Teils der Veranstaltung war das hohe Engagement der Tutor*innen: Die Doppelfunktion in der inhaltlichen Unterstützung und der gleichzeitigen Organisation des Review-Prozesses samt Fokus auf die Schreibentwicklung der Studierenden verlangt eine hohe inhaltliche und methodische Kompetenz.
Auch die Treffen des Organisationsteams schätzten alle Beteiligten: Aus unterschiedlichen Perspektiven mit großer Offenheit auf die Gestaltung universitären Lehrens und Lernens anhand einer konkreten Veranstaltung zu schauen, wurde von allen als sehr gewinnbringend empfunden.
Fazit und Ausblick
Als Zwischenergebnis lassen sich folgende Vorteile der Schreibübungen und des Peer-Reviewings im Tutorium festhalten:
- Kurze Schreibaufgaben bieten Studierenden eine Gelegenheit, Routine im akademischen Schreiben zu erhalten, ohne Notendruck.
- Das kontinuierliche Schreiben über einen begrenzten Zeitraum sowie das unmittelbare Feedback auf die eigenen Texte bieten Studierenden Sicherheit im Umgang mit dem wissenschaftlichen Denken und Arbeiten.
- Das Review-Verfahren bietet den Studierenden die Möglichkeit, das Schreiben in seiner kommunikativen Funktion zu erleben; sie lernen, sprachlich sinnvoll und angemessen zu reagieren, und was es bedeutet, einen eigenen Stil zu entwickeln.
- Adressaten der studentischen Texte sind unterschiedliche Personen und nicht nur allein die Lehrperson, wie an Hochschulen zumeist üblich.
- Die Kurztexte geben anhand des Review-Verfahrens Aufschluss über Lern- und Reflexionsprozesse einer großen Anzahl von Studierenden.
Für die zweite Phase des Begleittutoriums zur Ringvorlesung im Sommersemester soll das Modell auf jeden Fall fortgesetzt und die Komplexität der Schreibübungen weiter gesteigert werden. Es ist auch angedacht, die mündliche Darstellung als Vorbereitung für die Abschlussprüfung des Moduls „Geschichte der Philosophie“ zu üben.
Einige Resultate dieser neuen Art des Tutoriums werden sich erst im Verlauf des Studiums zeigen. Aber es besteht schon jetzt die begründete Hoffnung, dass die begleitenden Schreibübungen den Studierenden in der ersten Studienphase dabei helfen, den Einstieg in das akademische Arbeiten zu finden und dabei zu bleiben.
Literatur:
- Brüning, Ludger;/Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Visualisieren.
- Cronin, Blaise (1984): The Citation Process. London.
- CTETH (o.J.): https://ethz.ch/de/die-eth-zuerich/organisation/schulleitung/praesident/critical-thinking/ueber-cteth.html. Zugriff am 13.2.2020.
- Decker, Lena (2016): Schreiben als diskursive Praxis – Schreibend an fachlichen Diskursen partizipieren. Köln.
- Julia Ebert/Ulrich Heublein (2017): Ursachen des Studienabbruchs bei Studierenden mit Migrationshintergrund. Hannover.
- Girgensohn, Katrin/Sennewald, Nadja (2012): Schreiben lehren, Schreiben lernen. Darmstadt.
- Knorr, Dagmar (2016): Akademisches Schreiben. Universitätskolleg-Schriften Bd.13. Hamburg.
- Lüdke, Susanne/Deutscher, Guy (2013): Deutsch in den Wissenschaften. München.
- Pohl, Thorsten (2007): Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens. Tübingen.
- Sieroka, Norman (2018): Kritisches Denken fördern in Forschung und Lehre. In: Philosophie aktuell (Blog-Serie des Swiss Portal for Philosophy), https://www.philosophie.ch/philosophie/highlights/philosophie-aktuell/kritisches-denken-foerdern-in-forschung-und-lehre
- Sieroka, Norman/Otto, Vivianne I./Folkers, Gerd (2018): Critical Thinking in Education and Research – Why and How? (Guest Editorial). Angewandte Chemie 57: 16574-16575.
- Steinhoff, Torsten (2007): Wissenschaftliche Textkompetenz. Tübingen.
Über die Autor*innen:
Niklas Hartman (BA-Student, Philosophie), Anne C. Thaeder (Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Philosophie), Jörg Riedel (Studierwerkstatt), Maike Piesker (BA-Studentin, Philosophie), Catherine Herbin (Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Philosophie), Hannah Mahé Crüsemann (BA-Studentin, Philosophie), Norman Sieroka (Professor für Theoretische Philosophie)
Bildnachweise:
Autor*innenfoto und Abbildung 1 und 2: Niklas Hartmann; Anne C. Thaeder; Jörg Riedel; Maike Piesker; Catherine Herbin; Hannah Mahé Crüsemann; Norman Sieroka; Universität Bremen