Das Ringen um Vorherrschaft: Eine studentische Konferenz zur Hegemonietheorie

von Marie Kübler, India Hartung, Carla Ostermayer und Tom Seiler

Autor_innenfoto

Konferenz im Rahmen des Seminars Hegemonietheorie von Prof. Dr. Nonhoff für die Master Politikwissenschaft und Sozialpolitik der Universität Bremen

Hegemonie – unter diesem Schlagwort wird die Frage diskutiert, welcher Akteur und welche Idee gesellschaftliche und politische Vorherrschaft innehaben. Das Konzept ist brandaktuell, aber keineswegs neu: Schon seit ungefähr 100 Jahren beschäftigen sich Politische Theoretiker*innen damit. Das Masterseminar „Hegemonietheorie und Hegemonieanalyse“ verband im Sommersemester 2017 unter Leitung von Prof. Dr. Martin Nonhoff „Klassiker“ der Hegemonietheorie und konkrete Analyse in einer besonderen Form: In der ersten Hälfte erarbeiteten die Studierenden im Stil eines typischen Lektüreseminars die Theorien Gramscis sowie Laclaus und Mouffes. Im zweiten Teil wurden dann zunächst Auszüge aus der Dissertation des Professors analysiert und diskutiert, zudem gab es die Möglichkeit, studentische Textvorschläge zur Vertiefung zu besprechen. Abschließend übten die Studierenden Analysemöglichkeiten ein und schufen Anschlussfähigkeit für eigene – teils sehr aktuelle – Beiträge. Das Ergebnis am Ende des Semesters: Siebzehn ganz unterschiedliche studentische Papiere zum Thema „Hegemonie“, die am 30. Juni auf einer in Eigenregie organisierten Abschlusskonferenz diskutiert wurden.

Das Konzept dieses besonderen Seminars geht auf Professor Martin Nonhoff zurück, dessen Grundgedanke war, den fruchtbaren Austausch von wissenschaftlichen Tagungen auf die studentische Ebene zu übertragen. So sollte es auch den Studierenden ermöglicht werden, Papiere einem breiteren Kreis von Leser*innen zugänglich zu machen und dort argumentativ prüfen zu lassen. Die Studierenden erhalten Input für potentielle Hausarbeiten, trainieren aber auch, ihre eigene Argumentation gegenüber Rückfragen zu verteidigen. Nachdem die Idee bereits im Jahr 2013 – damals zum Thema Demokratietheorie – gut funktionierte, wurde das Experiment in diesem Jahr wiederholt. Als theoretische Grundlage konzentrierte sich das Seminar auf zwei zentrale Werke im Bereich der Hegemonietheorien. Zunächst lag der Fokus auf dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci und dessen „Gefängnisheften”. Durch Antonio Gramsci wurde der Begriff der „Hegemonie” populär gemacht. Um sich diesen Begriff bei Gramsci erschließen zu können, war es jedoch zuvor nötig, sich tiefer mit der Perspektive des Philosophen auseinanderzusetzen. Seine Schriften haben eine durchaus praktische Komponente, waren sie schließlich auf eine Strategie für die Durchsetzung sozialistischer Ideen angelegt und kritisieren den einseitigen Materialismus bei Marx, ohne vollkommen aus dessen Tradition herauszutreten. Hegemonie bezeichnet bei Gramsci keine vollkommene Herrschaft, sondern eine praktische Deutungshoheit, für die eine Mehrheit überzeugt wird, sich einem politischen Projekt anzuschließen oder sich ihm freiwillig unterzuordnen. Anschließend beschäftigten sich die Seminarteilnehmer*innen mit dem Werk „Hegemony and Socialist Strategy” von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Diese griffen den Hegemoniebegriff Gramscis kritisch auf und erreichten eine neue Popularität des Begriffs in wissenschaftlichen Kreisen. Laclau und Mouffe kreierten einen diskursanalytischen Ansatz der Hegemonietheorie, der große Auswirkungen auf Sozial- und Kulturwissenschaften hat. Ihr Ansatz ist vor allem bei der Analyse von sozialer Identitätsbildung und politischer Machtformation ein hilfreiches Analyseinstrument. Die Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes fand Anschluss in zahlreichen empirischen Studien und anderen theoretischen Ansätzen wie der Demokratietheorie.
Für die Studierenden des Seminars boten die Theorien von Gramsci und Laclau/Mouffe deshalb ein großes Spektrum an möglichen Anknüpfungspunkten. Es stand ihnen frei, ob sie die Theorie von Gramsci und Laclau/ Mouffe im Paper auf spezifische Fälle anwenden oder sich theoretisch tiefer mit den Konzepten auseinandersetzen möchten. Vielfältig las sich deshalb auch das Abstractheft, das die studentische Programmkommission zusammengestellt hatte: Von aktuellen politischen Projekten wie der „Leitkultur-Debatte“ über Populismus und Rechtsextremismus bis hin zu Bildung und Ökonomie reichte die thematische Bandbreite. Die Konferenz versprach also – trotz der überraschend hohen Anzahl von siebzehn eingegangenen Beiträgen – keinesfalls langatmig zu werden. Tatsächlich bestätigte sich diese Einschätzung am Konferenztag: An die Beiträge der Kommentierenden und die Replik der Autor*innen schlossen sich bis zum Schluss immer wieder rege Diskussionen der übrigen Konferenzteilnehmer*innen an. Grundsätzlich stand die Erkenntnis, dass bei der Hegemonieanalyse zuerst überlegt werden muss, ob der Untersuchungsgegenstand auf der diskursiven oder der materiellen Ebene angesiedelt ist. Beides ist möglich, aber es ergeben sich teils sehr unterschiedliche Ergebnisse, so auch bei Laclau/Mouffe und Gramsci. Professor Nonhoff merkte an, dass einige Aspekte auffallend wiederholt auftauchten. So gibt es offenbar ein ausgeprägtes Interesse an der Forschung über Populismus und rechte Projekte, gleich mehrere Teilnehmer*innen hatten in ihren Papers versucht, diese mithilfe der im Laufe des Semesters gelesenen Schriften zu untersuchen. Die angeregte Lern- und Denkatmosphäre des Seminars konnte dadurch verdeutlicht werden, dass am Schluss die Frage nach einer reflexiven Hegemonieanalyse aufgeworfen wurde. Die Teilnehmer*innen dachten darüber nach, ob die Konferenz eine Hegemonie bestimmter vorherrschender Ideen in der Seminargruppe offenbart hat. Darauf gab es keine endgültige Antwort, diese Idee hat jedoch unterstrichen, dass von Hegemonie nicht nur auf der Ebene von Nationalstaaten – welche die meisten Studierenden für ihr Paper gewählt hatten – gesprochen werden kann, sondern ebenfalls in kleineren Gruppen.

Abbildung 1

Abbildung 1

Abbildung 2

Abbildung 2

Panel 1 – Hegemoniale Projekte in heterogenen Gesellschaften

Schon das erste Panel gab einen Vorgeschmack auf die Spannbreite an Themen, die im Laufe des Tages diskutiert wurden. So war der erste Block sehr gemischt: Eröffnet wurde die Konferenz von Stephan Thorskes theoretischem Paper unter dem Titel „Hegemoniale Projekte in heterogenen Gesellschaften“ und der Frage, wann ein hegemonialer Kampf eigentlich als gewonnen gelten kann. Darauf folgten zwei Papiere, die sich mit ganz konkreten politischen Projekten auseinandersetzten: Carla Ostermayer fragte, inwiefern die Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ als hegemoniales Projekt verstanden werden könnte und India Hartung beschäftigte sich mit dem Projekt der deutschen Energiewende. Beide Papiere waren noch keine vollständigen Analysen, sondern eher eine Hinführung dazu – machten aber schon deutlich, wie Hegemonietheorie sinnvoll zur Erklärung gegenwärtiger Politik herangezogen werden kann.

Panel 2 – Hegemoniale Analyse aktueller Projekte

Genauso aktuell ging es im zweiten Panel weiter: Drei Papiere beschäftigten sich auf unterschiedliche Weise mit rechten Projekten bzw. Populismus. Den Anfang machten Laura Gerken und Lukas Thöle mit einem Beitrag, der Hegemonietheorie als Erklärung für Populismus heranzog und der im Plenum den Ausgangspunkt für eine Debatte über den Begriff des „leeren Signifikanten“ bildete. Darauf folgte Jasper Nehms Papier zur hegemonialen Strategie der „neuen Rechten“ und Joschka Mrozs Beitrag über das gesellschaftliche Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, dem er selbst beigewohnt hatte und das er als antirassistische, gegen-hegemoniale Strategie einordnete. Auch aus diesen beiden Arbeiten ergaben sich fruchtbare Diskussionen. Der letzte Beitrag vor der Mittagspause thematisierte hegemoniales Ringen dann nicht länger in Bezug auf die politische Rechte, sondern innerhalb der politischen Linken: Tom Seilers Beitrag behandelte den Disput um die Wählbarkeit von Jeremy Corbyn innerhalb der britischen Labour Party. Spannend war darin nicht zuletzt die Untersuchungseinheit: Haben andere Papiere häufig den „nationalstaatlichen Container“ im Sinn, stand hier die Ebene der Partei im Vordergrund.

Panel 3 – Bildung und Erziehung bei Gramsci

Nach der Mittagspause erwartete die Konferenzteilnehmer*innen ein Themenwechsel: Gleich vier Papiere waren dem Panel „Bildung und Erziehung bei Gramsci“ zugeordnet – einem Themengebiet, das im bisherigen Seminarkontext eher wenig präsent gewesen war. Der Block begann mit einem Vergleich zwischen Antonio Gramsci und Hannah Arendt: Mareike Würdemann verglich in ihrem Paper den gramscianischen Hegemonie- und Herrschaftsbegriff mit dem arendtschen Machtbegriff. Ein interessantes Konzept, allerdings auch eines, das Diskussionsbedarf mit sich brachte: Dort, wo Arendts Machtbegriff keinerlei hierarchischen Charakter besitzt, sondern gemeinschaftliche Handlungsmacht meint, ist Gramscis Hegemonie nicht ohne Hierarchie denkbar. Im nächsten Beitrag „Gramscis Einheitsschule vor dem Hintergrund der heutigen Problematiken im Bildungssystem“ zogen Nele Tiedemann und Therese Papperitz mit Blick auf wirtschaftliche Ausrichtung und Chancenungleichheit Parallelen zwischen den von Gramsci angeprangerten Problemen des italienischen Bildungssystems in den 1920ern und dem deutschen Bildungssystem der Gegenwart. Sie beleuchteten Gramscis Lösung, die Idee einer Einheitsschule. Inwieweit dieser Vergleich tatsächlich sinnvoll und tragfähig ist, wurde im Plenum kontrovers diskutiert. Direkt darauf folgte ein weiterer Vergleich zweier politischer Theoretiker: Nehle Penning verglich in ihrem Beitrag Gramscis und Marx’ Überlegungen zu dem Bereich Erziehung und Bildung. Beide verstanden Erziehung und Bildung als Herrschaftsinstrument, aber nur Gramsci schrieb ihnen eine positive Bedeutung zu. Den Abschluss dieses Panels bildete Daniel Urbachs Theoriebeitrag, der die These aufwarf, bei Gramsci gäbe es verschiedene Typen von sogenannten „organischen Intellektuellen“, die sich in eine hierarchische Reihenfolge bringen ließen.

Abbildung 3

Abbildung 3

Abbildung 4

Abbildung 4

Panel 4 – Kulturelle Hegemonie und Ökonomie

„Ökonomie und cultural turn – Geht das zusammen?“ So lautete die Ausgangsfrage des vierten Panels, die Laura Lankenau mit ihrem Beitrag aufwarf. Die Autorin sah insbesondere die Gefahr, dass sich eine Theorie, die den Fokus auf kulturelle Entwicklungen legt, affirmativ gegenüber ökonomischer Ungleichheit verhält. Sie plädierte dafür, dass ökonomische Verhältnisse und ideologische Diskursanalyse zusammengedacht werden. Zwei weitere Beiträge wurden im Panel „Kulturelle Hegemonie und Ökonomie“ besprochen: Tom Gaths Text „Linker Neoliberalismus und seine Bedeutung für aktuelle hegemoniale Kämpfe“, der das Zusammenspiel Linksliberaler und Neoliberaler angesichts der Herausforderung von rechts problematisierte. Außerdem ein Papier von Stephanie Ecks und Bastian Roth, das sich mit der These befasste, der Erfolg der AfD beruhe auf ihrem Bild als einzige Kritikerin des Status Quo.

Panel 5 – Hegemoniale Strukturen auf internationaler Ebene

Im fünften und damit letzten Panel des Konferenztages verließ die Diskussion die zuvor überwiegend nationalstaatliche Ebene: Unter dem Titel „Hegemoniale Strukturen auf internationaler Ebene“ wurden abschließend noch einmal drei ganz verschiedene Papiere diskutiert. So zog Marie Kübler in ihrem Beitrag die Verbindungslinie zwischen dem Hegemoniebegriff bei Gramsci und dem Gebrauch des Konzeptes in den Internationalen Beziehungen nach. Florian König präsentierte in seinem Papier die Europäische Union als erfolgreiches hegemoniales Projekt und Annette Kanns abschließender Text beschäftigte sich mit der Finanzmarktregulierung als Beispiel für diskursive Hegemonien. Die interessante Mischung von Themen und methodischen Herangehensweisen behielt die Konferenz also bis zum Schluss bei.

Fazit

Als die Konferenz gegen 18:30 Uhr ihren Ausklang fand, waren alle Teilnehmer*innen erschöpft, aber sehr zufrieden mit der Veranstaltung. Prof. Dr. Nonhoff lobte die Qualität der eingereichten Paper und freute sich darüber, dass die Studierenden die Paper ihrer Kommiliton*innen gelesen hatten und sich engagiert an den Diskussionen beteiligten. Auch die Studierenden waren sehr zufrieden mit der Konferenz als runden Abschluss des Seminars, verdeutlichte die Abschlusskonferenz doch den Lernfortschritt, der im Laufe des Semesters erreicht wurde. Indem die Studierenden ihre eigenen Paper im Rahmen einer Konferenz präsentieren konnten, bekamen sie ein Gefühl dafür, wie eine Konferenz im universitären Raum abläuft und erhielten, im Gegensatz zu anderen Seminaren, direktes Feedback von dem Dozenten und den Kommiliton*innen. Gerade dieses direkte Feedback und die Möglichkeit, seine eigenen Gedanken hinter dem Paper erläutern zu können, war ein großer Mehrwert für die Teilnehmer*innen. Das Lesen der Paper der anderen Teilnehmer*innen ermöglichte es, die verschiedenen Facetten der Theorien kennen zu lernen und Zusammenhänge profunder zu durchdringen. Auch wenn es für die meisten Studierenden eine Herausforderung war, das eigene Paper dem ganzen Kurs zum Lesen bereitzustellen und sich dessen Kritik zu stellen, war die Konferenz im Endeffekt für alle eine bereichernde Erfahrung – dabei half nicht zuletzt auch die angenehme Stimmung innerhalb der Gruppe. Am Ende zeigte die Veranstaltung, wie viele unterschiedliche Gedanken aus der Seminarthematik heraus entwickelt werden konnten. Zum Tagesausklang ging die Gruppe schließlich in das Haus am Walde, wo in gemütlicher Atmosphäre über verschiedene Aspekte von Hegemonietheorie und -analyse weiterdiskutiert wurde.

 

Über die Autor_innen:

Marie Kübler, India Hartung, Carla Ostermayer und Tom Seiler sind Studierende im Master Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Universität Bremen.

 

Bildnachweis:

  • Autor_innenfotos: Marie Kübler (privat); India Hartung (privat); Carla Ostermayer (privat); Tom Seiler (privat)
  • Abb. 1-4: Marie Kübler; India Hartung; Carla Ostermayer; Tom Seiler

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert