Seminare als „Organisationen auf Zeit“

von Sylke Meyerhuber

Autorinfoto

In General Studies Seminaren erforschen Studierende Fakten-, Prozess- und Erfahrungswissen für „sozial nachhaltiges Handeln in Organisationen“. Dabei üben sie Schlüsselkompetenzen der Kommunikation und Steuerung von Gruppen ein.

» Verstehen ist eine Reise in das Land eines anderen.
(in Anlehnung an den türkischen Dichter Fazil Hüsnü Daglarca)

Am artec | Forschungszentrum Nachhaltigkeit forsche ich zu Fragen „sozial nachhaltigen Handelns in Organisationen“. In der postmodernen Arbeitsgesellschaft wird es immer dringlicher, Wege zu finden, die „drei Pole im Nachhaltigkeitsdreieck Ökonomie – Ökologie – Soziales“ in eine gute Balance zu bringen: Wird die Ökonomie einseitig effizienter gestaltet zulasten des Menschen als ökologisch-soziales Hybridwesen, so wird die „Humanressource“ beschädigt.

In Deutschland geht lt. Rentenversicherungsträger 2011 die Hälfte aller Arbeitnehmer_innen vorzeitig in den Ruhestand, während Krankenkassen einen enormen Anstieg an gesundheitlichen Notlagen bei Arbeitnehmer_innen verzeichnen.

In zwei General Studies Seminaren an der Schnittstelle von Arbeit und Gesundheit finden Studierende der Soziologie und weiterer Fachrichtungen Gelegenheit, fachliches und methodisches Wissen sowie persönliche Kompetenz im nachhaltigen Umgang mit eigenen arbeitsbezogenen Ressourcen zu entwickeln. Hierbei kommen verschiedene  Ebenen forschenden Lernens zur Anwendung. Ziel ist es, Studierende auf Praktika und Berufseintritt so vorzubereiten, dass sie erstens erwachsenengemäße Seminare geben können, zweitens Probleme der postmodernen Arbeitswelt fachlich einordnen können, drittens sozial nachhaltige Interaktionsformen einüben und viertens auch das eigene Ressourcenmanagement achtsam zu reflektieren lernen.

Lehren und Lernen

Beide Seminare eines Semesters – je eines in deutscher und in englischer Sprache – organisiere ich in 7 Sitzungen á 3 Stunden im 14-tägigen Wechsel (statt 14 Sitzungen á 1,5 Stunden). Das Raumbüro belegt so durchgängig einen Raum/Timeslot für zwei Seminare. Ich halte längere Lerneinheiten für generell sinnvoller und erwachsenengemäß: Dreistündige Settings ermöglichen es, von Erfahrungen Teilnehmender auszugehen, diese um Fachwissen zu ergänzen, dazu erforschend in Gruppen arbeiten und präsentieren zu lassen sowie eine vertiefende Trainingseinheit anzuschließen, natürlich mit einer Pause in der Mitte.

Es bewährt sich, diese GS-Seminare auf 20 Teilnehmende zu begrenzen, was eine Vertrauensbasis und Zeit eröffnet, auch Trainingselemente und Erfahrungsreflexion angemessen einzubetten. Trainingsanteile zielen auf verschiedene Ebenen der Erkenntnis, bspw. in Teil 1 (WS): Bilder malen (reflexiv-emotional/Symbolisierung), Differenzierungs-Übung (konstruktivistisch/Sprache), Textarbeit (kognitiv/Deduktion), Gesprächsführungsübung (behavioristisch/Interaktion), Intervision (empathisch/Tiefenstruktur) sowie Evaluation (reflexiv-interaktiv/Metaanalyse). Ich gehe davon aus, dass schon Abiturienten_innen Texte zusammenfassen und mit Powerpoint präsentieren können – was ist der Mehrwert universitärer Ausbildung? M.E. nicht „mehr desselben“: Neben Fach- und Methodenwissen üben Studierende daher praxisnahe Prozesskompetenzen der Kommunikation, Interaktion und Gruppensteuerung ein.

Beispiel selbstreflexiver Methodik in Arbeitsgruppen nach Theorieinput

Abbildung 1: Symbolisierung des „subjektiven Erlebens im Alltag entgrenzter und subjektivierter Arbeit“ auf der Körperebene (AG Ergebnis).

Abb. 1: Symbolisierung des „subjektiven Erlebens
im Alltag entgrenzter und subjektivierter Arbeit“
auf der Körperebene
(AG Ergebnis).

Erläuterung der Abbildung 1:AG-Mitglieder erläutern ihre Diskussion und Symbolik zum Thema im Plenum: „Wirbelsturm im Kopf: immer „connected“ sein, mobil, flexibel, auf Ideen kommen. Globus: Motivation, in die Welt zu fahren (Verlockung & Beunruhigung). Buchstaben purzeln vom vielen Lesen, eckige Augen mit Schatten darunter. Das Herz hat viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und zu erproben. Der Bauch ist zur Prüfungsphase ein Klumpen – kein Hunger, schnell ein Burger! 2 Uhren = selbstbestimmte Zeit ist befriedigend, Sozialkontakte = toll od. anstrengend. Kehrseite: wann wo sein müssen und nicht genügend Zeit und Schlaf finden ist anstrengend. Linker Fuß = mit Raketenantrieb, jung und unabhängig sein. Rechter Fuß = mit Last, am Boden gehalten,  so frei bin ich ja gar nicht.“ Das Alltagswissen der Teilnehmenden wird dann systematisiert und zur wissenschaftlichen Theorie in Bezug gesetzt.

Studierendenteams werden von mir als Co-Teacher_in für ein Thema angesprochen. Ihre Stundenvorbereitungen unterscheiden sich von Referaten: Max. 1/3 der Zeit darf Input sein, jedes Team muss eine im Seminarverlauf „neue“ Methode zur Erkenntnisgewinnung einsetzen (Film, Rollenspiel, Pro-Contra-Diskurs, etc.). Sie sollen Teilnehmenden  mindestens 1/3 der Zeit Gelegenheit geben, sich fachliche Ideen durch Eigenarbeit anzueignen und mit Blick auf eigene Rollen oder in Perspektivübernahme für Rollen der Arbeitswelt zu reflektieren. Dies bedarf der Ermutigung: Ich biete mich jedem Team in einem verpflichtenden Vorbereitungstreffen als Auftraggeberin an, mit der sie ihr Konzept verhandeln und sich Fragen sowie Anregungen gefallen lassen müssen, als Übung für die Praxis. Studierende ziehen sich gern auf die Präsentation von Fachwissen zurück – Interaktionen der Lerngruppe zu gestalten und zu steuern sowie mit Alternativen zu Powerpoint zu arbeiten stellen oft die größte Herausforderung dar. Hier bedarf es der Ermutigung und auch des Standhaltens.

Schlüsselkompetenzen

Metaplantechniken stellen eine Alternative zu elektronischen Präsentationstechniken dar. Vorteil: Inputs sowie Arbeitsergebnisse bleiben im Raum sichtbar. Studierende haben diese Techniken teilweise gesehen, selten jedoch systematisch erlernt oder ihren Einsatzsinn kritisch abgewogen. Sie erhalten Anleitung und Gelegenheit, diese praxisüblichen Methoden auszuprobieren, einzuüben und einzuschätzen.

Statt schriftlicher Hausarbeiten werden Fachinputs sowie Erarbeitungen im Seminarverlauf zusammen mit der organisatorisch-didaktischen Rahmung in einem Protokoll der Sitzung durch das durchführende Studierendenteam dokumentiert,
bis zur Folgesitzung mit mir rückgekoppelt und autorisiert ins Stud.IP gestellt. So entsteht eine prozessadäquate Einbettung schriftlicher Leistungsanteile in den Erkenntnisprozess der Lerngruppe, die gleichermaßen wissenschaftlichen und betrieblichen Verbindlichkeiten an eine Prozessdokumentation entspricht, mit hohem Übungseffekt für künftige Aufgaben.

Stud.IP wird als verlässliche Kommunikationsplattform genutzt: Texte, Dokumente und Formulare für das Seminar sind hier verfügbar. Nachrichten werden verbindlich sowie frühzeitig verfasst und geben Beispiele, wie auch im Seminar als exemplarische „Organisation auf Zeit“ professionell elektronisch kommuniziert werden kann – bspw. dass E-Mails inklusive Anrede, Gruß und Unterschrift zu verfassen sind.

Im Teil 2 (SoSe) des Seminars erhalten Studierende für ihre fachlich-inhaltliche Themenstellung die Aufgabe, neben dem Quellenstudium auch ein qualitatives Interview durchzuführen mit einer Person, die im Arbeitsleben zum eigenen Thema Erfahrungen sammeln konnte. Interviewte als Forschungspartner_innen zu begreifen und das Setting als Win-Win-Situation zu gestalten übt hier, neben praxisnahen Einblicken, eine wertschätzend-zuhörende Haltung ein und stellt Herausforderungen an die angemessene Darstellung von empirischen Erkenntnissen im Seminar.

Heterogenität & Interkulturalität

In den Seminaren kommen Studierende der Soziologie sowie weiterer Fachrichtungen zusammen. Aus unterschiedlichen Fachkulturen, Vorkenntnissen auf Bachelor- und Masterniveau sowie Berufserfahrungen in verschiedenen Branchen und Verantwortungstiefen ergibt sich enorme Heterogenität, deren konstruktive Einbeziehung sich als wertvoll erweist, aber: Wie bezieht man Berufserfahrungen und Fachblickwinkel
systematisch in die Erkenntnisgewinnung einer Gruppe ein? Studierende erleben Beispiele, wie dies gelingt, und sind gehalten, auch in eigenen Stundenvorbereitungen die Erfahrungen Teilnehmender einzubinden – dies fällt ihnen schwer, wenn sie diese Art Wissen als „unberechenbar, was da kommt“ und Bedrohung eines kontrollierbaren Settings erleben. Hier gilt es, als Dozentin aufmerksam-wertschätzend zu begleiten.

Shared guidelines for working together in this seminar:
» Topics interesting & structure explicit, including a break
» Methods diverse & interactive (no frontal instruction setting)
» Motivation of each member (engage actively in the seminar)
» Tolerance and respect for each other as a main rule (honesty, politeness, acknowledgement of individuality, an open minded atmosphere, behaving friendly)
» Cooperation – give space, help each other, elaborate if needed
» Training besides knowledge (analytically, reflective, and by skill exercises)
» English language used as a vehicle for “understanding”: beware “tone of voice” (not monotonous, loud enough, not too fast) ask participants = make sure to be understood!
» Reliability (e-mail if you cannot participate, come to scheduled meetings in student’s groups and with your lecturer)
» Humour and fun are welcome in the work process Social climate happens not just by chance: it is outcome of a shared effort and should be ad-dressed as something academics should know how to support in future roles.

Studierende können das GS-Seminar in deutscher oder in englischer Sprache besuchen. Erfahrungsgemäß sind 50% der Teilnehmenden im englischsprachigen Kurs Erasmusstudierende, so dass hier schon bis zu 9 verschiedene Nationalitäten mit diversen Fachlevels, Lernkulturerwartungen sowie Sprachniveaus und landes-typischen Ausspracheunterschieden zusammen kamen. Es bietet sich an, zusammen zu  erforschen, welche förderlichen sowie hinderlichen Effekte sich daraus ergeben. So werden in der ersten Sitzung „Regeln des Miteinanders“ von Teilnehmenden entwickelt, welche u.a. einen umsichtigen Umgang mit der englischen Sprache thematisieren: Für echte Verständigung mittels Lingua franca muss bewusster gesprochen, zugehört und umgekehrt auch eher nachgefragt werden (ergibt sich nicht von selbst!). Alls Dozentin sehe ich mich hierbei als Vorbild gefordert und unterstütze die Teilnehmenden. Lerngruppendynamische Effekte des Nicht- und Missverstehens, des Abschaltens bei  Nichtverstehen usw. können anlassbezogen reflektiert werden und tragen so zu Einsichten über Zusammenarbeit in einer globalisierten Arbeitswelt bei. Manches
dauert im englischsprachigen Kurs länger, weil Formulierungen gesucht, etwas umschrieben oder nochmals nachgefragt wird; dem ist didaktisch Rechnung zu tragen.

Abbildung: Das TZI-Dreieck nach R. Cohn.

Abb. 2: Das TZI-Dreieck nach R. Cohn.

Erläuterung der Abbildung 2:Unterstützt wird eine konstruktive Dynamik bspw. durch Einführung des Kommunikationsansatzes der Themenzentrierten Interaktion (TZI): Eine Balance der Bedürfnisse von Beteiligten, wonach das Thema (Es) – jeder Einzelne (Ich) – die Gruppe (Wir) Zeiten eingeräumt bekommen sollten, muss in jeder Sitzung beachtet werden. Als professionalisierender Baustein für die Gestaltung des Gruppenklimas werden Studierende mit dem Ansatz vertraut gemacht. Sodann liegt es auch an jedem/r Einzelnen, die Prinzipien einzuüben, ganz nach dem TZI-Grundsatz „be your own chairman“ (R. Cohn).

Resonanz

Für mich sind GS-Seminare „Arbeitsorganisationen auf Zeit“, in denen Studierende exemplarische Aspekte organisationalen Handelns erleben und ausprobieren. Es wird leitungsseitig Orientierung gegeben (organisatorisch, fachlich, methodisch,  gruppendynamisch), Aufgaben werden verteilt, eine Arbeitskultur etabliert, Erfahrungen geteilt und reflektiert – neben den Inhalten möglichst mit erfahrbaren Effekten für ein „sozial nachhaltiges Handeln“.

Studierende schätzen es, sich im beschriebenen Setting als Lernpartner_innen angesprochen zu sehen, sich auseinanderzusetzen und aktiv einzubringen. Zudem gefällt ihnen, sich auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen sowie Fachwissen über Ethik und Verantwortung im Arbeitsleben Gedanken zu machen. Im englischsprachigen Seminar wissen Studierende zudem den Mehrwert als Sprachtraining sehr zu schätzen. Dies zeigen Evaluationen, die im Seminarprozess fortlaufend stattfinden. Jeder Sitzungsbeginn enthält den TOP „Aus der Gruppe – An die Gruppe“ mit der Bitte, nicht nur Informationen von Interesse zu teilen, sondern auch Gedanken und Befindlichkeiten, deren Reflexion für einen konstruktiven Fortgang miteinander wichtig sein könnte.

Am Seminarende kommen „Blitzlicht“- oder „Feedback“-Methoden zum Einsatz, anlassbezogen werden fachliche und dynamische Fortschritte reflektiert. Seminarübergreifend setze ich abschließend auf eine „dialogische Evaluation“, bei der Studierende leitfadengestützt in Gruppen diskutieren und auf Karten zentrale Eindrücke rückmelden – ein Kompromiss zwischen dem Schutz der Gruppe und reifer  Verantwortungsannahme. Insgesamt sind Teilnehmende sehr angetan und beschreiben neben dem fachlichen oft auch einen hohen persönlichen Erkenntniswert. Weil Studierende das Basisseminar aus Begeisterung ein zweites Mal besuchten, findet es nun im Wintersemester statt, während für die Sommersemester ein Teil 2 konzipiert wurde.

Über die Autorin:

Sylke Meyerhuber ist Sozial- und Arbeitspsychologin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin forscht sie am artec | Research Center for Sustainability Studies. 2010 wurde sie mit dem Berninghausenpreis für die gute Lehre und ihre Innovation ausgezeichnet.

Literatur:

Badira, B.; Ducki, A.; Schröder, H.; Klose, J.; Macco, K. (Hg.)(2011). Fehlzeiten-Report 2011: Führung und Gesundheit. Berlin, Heidelberg: Springer.

Cohn, Ruth (1975). Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Stuttgart: Klett.

Antons, Klaus (1996). Praxis der Gruppendynamik. Göttingen: Hogrefe.

 

 

Bildnachweis:

  • Sylke Meyerhuber (privat)
  • Abb. 1: Sylke Meyerhuber (artec)
  • Abb. 2: TZI / http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/9/9c/TZI.png

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