„Eine Studie, die sich ausschließlich mit der Polizei und dem Vorwurf eines strukturellen Rassismus innerhalb der Polizei beschäftigt, wird es mit mir nicht geben“ – Seehofer

Da es besonders in diesem Jahr vermehrt zu Rechtsextremismusvorwürfen gegen Polizeibeamt*innen (nicht nur) in Deutschland gekommen ist, kam die Idee für eine wissenschaftliche Studie auf, die Rassismus innerhalb der deutschen Polizei thematisieren bzw. untersuchen sollte. Die Bundesregierung  befand sich bezüglich dieses Themas länger im Streit. Ein begründendes und jüngstes Beispiel, das für eine Rassismus-Studie spricht, sind 30 Polizist*innen in Nordrhein-Westfalen, welche rechtsextremistische Inhalte über Chat-Gruppen verbreitet haben. Bundesinnenminister Horst Seehofer spricht sich jedoch deutlich gegen eine solche Studie aus (siehe z.B. Zitat), wofür er Kritik aus den Reihen der Parteien, aber auch von Seiten der deutschen Bevölkerung und der Polizei selbst erntet (vgl. tagesschau 2020). So tauchen beispielsweise auch im Bremer Viertel Plakate auf, die Seehofers Einstellung diesbezüglich kritisieren.

Bevölkerungsumfrage 1

Bevölkerungsumfrage 2

Trotz allem hat Seehofer die Studie letztendlich abgesagt. „Das Innenministerium begründete Seehofers Entscheidung unter anderem damit, dass Racial Profiling in der polizeilichen Praxis verboten ist (…) Entsprechende Vorkommnisse seien absolute Ausnahmefälle“ (tagesschau 2020). Er gerät erneut in teilweise sehr starke Kritik von verschiedenen Seiten, was z. B. hier genauer nachgelesen werden kann, verschiedene Umfragen gibt es hier.

„Wenn es keine Daten über Racial Profiling gibt, dann frage ich mich, woher weiß er denn, dass es Einzelfälle sind“ – Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler.

Gerade Das Eck im Bremer Viertel ist für Racial Profiling mehr oder weniger „bekannt“, da es sich um einen Ort handelt, an dem viele schwarze Menschen kontrolliert und/oder verhaftet werden. Insgesamt schätzen wir es so ein, dass, obwohl eine Rassismus-Studie im Polizeiwesen zunächst nicht stattfindet, das Bewusstsein der Bevölkerung diesbezüglich sehr geschärft wurde (durch aufeinanderfolgende Vorfälle in diesem Jahr, auch in anderen Ländern -> unter anderem George Floyd).

 

Quellen: https://www.tagesschau.de/inland/scholz-polizei-rassismus-101.html, https://www.tagesschau.de/inland/seehofer-studie-rassismus-101.html, https://www.tagesschau.de/inland/studie-polizei-rassismus-debatte-101.html, https://www.tagesschau.de/inland/racial-profiling-studie-101.html, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschland-mehrheit-haelt-studie-zu-rassismus-bei-der-polizei-fuer-notwendig-a-d27f6117-a9db-4fd7-bdc5-25b9dd4e3640

Vor mittlerweile über 15 Jahren starb der aus Sierra Leone stammende, im Jahre 1969 geborene Asylbewerber Laye-Alama Condé durch einen Brechmitteleinsatz der Polizei.

 

 

Laye-Alama Condé (Quelle: Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé o. J.)

 

 

 

Laye-Alama Condé wurde am 27. Dezember des Jahres 2004 wegen des Verdachts auf Verschlucken von Kokainpäckchen von der Bremer Polizei an der Sielwallkreuzung im Viertel festgenommen (vgl. Frankfurter Neue Presse 2011). „Bevor C. auf Aufforderung der Polizeibeamten den Mund öffnete, sahen sie dessen deutliche Schluckbewegungen und gingen aufgrund kriminalistischer Erfahrung mit ‚Kleindealern‘ von einem Verschlucken von Kokainbehältnissen aus“ (BGH 2010: S. 4). Um sicherzustellen, ob Laye-Alama Condé tatsächlich Kokain verschluckt hatte, sollten ihm Brechmittel und Wasser verabreicht werden. Nachdem Condé sich jedoch weigerte, diese einzunehmen, war vorgesehen, dass ihm nach einer Dienstanweisung vom 01.03.2001 in sitzender Position eine nasogastrale Sonde gelegt werden müsste. Der Arzt selbst dürfte dabei keinerlei Zwang ausüben, was auf die Polizeibeamten selbst scheinbar nicht zuzutreffen schien. Condé wurde von diesen an den Füßen mit Kabelbindern und an den Händen mit Handschellen gefesselt. Da Condé sich zu wehren schien, wurde dies durch ein Drücken des Kopfes an die Rückenlehne unterbunden (vgl. BGH 2010: S. 5). Daran anschließend wurde Condé der Ipecacuanha-Sirup, ein Brechmittel, vom Arzt Igor V. zugeführt (vgl. Holthaus 2019). Selbst nach mehrfachem Erbrechen und dem bereits sichergestellten Kokain wurde die Vergabe des Brechmittels fortgeführt, bis Condé nicht mehr ansprechbar war. Die Polizeibeamten gingen davon aus, dass Condé seinen körperlichen Zusammenbruch nur simulieren würde, „um einen Abbruch der Maßnahme zu erreichen“ (BGH 2010: S. 6). Nachdem daraufhin die alarmierten Rettungssanitäter eintrafen, wurde diesen vom Arzt erläutert, dass nur eine Magenspülung durchgeführt worden wäre, die nicht funktioniert habe. Der Notarzt stellte fest, dass Condé nicht ins Krankenhaus müsse, so dass die Magenspülung erneut durchgeführt werden dürfte (vgl. BGH 2010: S. 7 ff.). Nur wenige Minuten später fiel Condé in ein Koma und verstarb am 07.01.2005 an „cerebraler Hypoxie als Folge von Ertrinken nach Aspiration bei forciertem Erbrechen“ (UA, zitiert nach BGH 2010: S. 11).

„2008 hatte das Landgericht den Polizeiarzt Igor V. vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Die Begründung hatte es in sich: Zwar habe V. objektive fachliche Fehler begangen, die ‚ursächlich‘ für den Tod Condés waren. Doch sei er ‚wegen fehlender Erfahrung überfordert‘ und somit ‚weit entfernt vom Leitbild eines erfahrenen Facharztes, an dem sich die Rechtsprechung bei Fahrlässigkeitsdelikten als Maßstab orientiert‘ gewesen, so die Urteilsbegründung“ (Jakob 2010). Nachdem das Verfahren im Jahre 2013 ein drittes Mal wiederaufgenommen wurde, einigten sich Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklägerin auf eine Einstellung unter der Auflage, dass der Angeklagte 20.000 Euro an die Mutter des Opfers zahlen sollte (vgl. Baeck 2013).

Im Jahre 2006 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass das Verabrechen von Brechmitteln eine Foltermethode sei, welche noch im gleichen Jahr in Bremen, das auch als „Hauptstadt der Brechmittelfolter“ bekannt war, gestoppt wurde (vgl. Holthaus 2019). „Zwischen 1991 und 2004 sind in Bremen in über 1.000 Fällen Brechmittel an Menschen in Polizeigewahrsam verabreicht worden. Am 27. Dezember 2004 wurden dem aus Sierra Leone geflüchteten Laye Condé im Polizeirevier Bremen-Vahr gegen seinen Willen vom Beweissicherungsdienst durch eine Nasensonde zwei Stunden lang mehrere Liter Wasser und Brechmittelsirup eingeflößt“ (Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé o. J.).

 

Mobiler Gedenkort für Laye-Alama Condé (Quelle: Radio Bremen 2020)

 

 

Seit einiger Zeit existiert ein mobiler Gedenkort für Laye-Alama Condé und alle weiteren Brechmittelopfer. „Wir nennen es nicht Denkmal, sondern es ist ein Gedenkort, der mahnendes Erinnern möglich macht, dass ein Mensch in staatlicher Obhut gestorben ist. Und dass das nicht mehr passieren darf“, so sagt Gundula Oerter, die Sprecherin der Initiative (Oerter 2020, zitiert nach Holthaus 2019). Der Gedenkort ist mit deutschen, englischen und französischen Audioboxen ausgestattet, die inhaltlich die Geschehnisse chronologisch wiedergeben und Zeug*innen zu Wort kommen lassen (vgl. Holthaus 2019). „Seit dem 20. September steht der ‚Mobile Gedenkort für Laye Condé und 13 Jahre Brechmittelvergabe in Bremen‘ vor der Friedenskirche in der Humboldtstraße“ (Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé o. J.).

 

Quellen:

Baeck, Jean-Philipp: Bremer Brechmittel-Prozess: Am Ende kein Urteil. In: taz.de (2013). URL: https://taz.de/Bremer-Brechmittel-Prozess/!5055796/ (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

Bundesgerichtshof: Urteil des 5. Strafsenats vom 29.04.2010. In: juris.bundesgerichtshof.de (2010). URL: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=723958c0763e31ffb229969f4d525839&nr=52237&pos=6&anz=31 (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

Frankfurter Neue Presse: Gericht verkündet Urteil im Brechmittel-Prozess. In: web.archive.org (2011). URL: https://web.archive.org/web/20160523141053/http://www.fnp.de/nachrichten/panorama/Gericht-verkuendet-Urteil-im-Brechmittel-Prozess;art685,49852 (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

Holthaus, Matthias: Mobiler Denkort erinnert an Laye Condé. In: weser-kurier.de (2019). URL: https://www.weser-kurier.de/bremen/stadtteile/stadtteile-bremen-mitte_artikel,-mobiler-denkort-erinnert-an-laye-conde-_arid,1797435.html (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé: Start. In: brechmittelfolter-bremen.de (o. J.). URL: https://brechmittelfolter-bremen.de (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

Jakob, Christian: Laya Condé starb vor fünf Jahren. In: taz.de (2010). URL: https://taz.de/!506546/ (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

Radio Bremen: Kommt der Gedenkort für die Bremer Brechmittel-Opfer? In: butenunbinnen.de (2020). URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/gedenkkundgebung-conde-brechmittel-einsatz-gedenkort-100.html (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

In der Nacht vom 08.09.2020 auf den 09.09.2020 brannte das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, Griechenland komplett ab. Moria, welches das größte Flüchtlingslager der Welt war, wurde vor mittlerweile über fünf Jahren eröffnet. Ursprünglich war dieses für 2.200 Personen ausgelegt, bis vor kurzem lebten dort jedoch nach dem Stand von August 2020 über 19.000 Menschen (vgl. Behboudi 2020: 00:14-00:20). „Bevor Moria zu einem Flüchtlingslager umstrukturiert wurde, diente es ab dem Jahre 2013 als Registrierungszentrum, welches sogar nur eine Kapazität für 700 Personen aufwies“ (Anne Köppke 2020: S. 15).

 

Moria vor dem Brand (Quelle: AFP/ARIS MESSINIS via ANSA 2020)

 

Bereits vor dem Brand und auch bevor das Covid-19 Virus im März des Jahres 2020 weltweit ausbrach, herrschten im gesamten Flüchtlingslager absolut inhumane Zustände. „Seit dem 23.03.2020 wurden die Flüchtenden dort eingesperrt und von der griechischen Polizei kontrolliert, während sie inmitten von Schlamm und Müll (über)leben mussten“ (Anne Köppke 2020: S. 15). Viele der NGO’s, die sich zu diesem Zeitpunkt vor Ort befanden, durften das Lager nicht mehr betreten. „Ärzte forderten vergeblich auf, Moria zu evakuieren und die Menschen in leeren Hotels innerhalb Lesbos oder auch gesamt Europa unterzubringen, um sich vor dem Virus zu schützen, Zugang zu Wasser und Hygieneartikeln zu haben und um sich an die Ausgangssperre halten zu können“ (Anne Köppke 2020: S. 15 f.). Innerhalb des Lagers existierte insgesamt nur eine einzige Essensausgabe, sodass sich alle dort befindenden Flüchtenden dreimal täglich in einer Schlange anstellen mussten (vgl. Hasimi 2020: 07:40-08:46). Dies war in der Praxis eine absolut unmögliche Situation, während der sich gleichzeitig nicht auch noch an die vorgegebene Ausgangssperre gehalten werden konnte. „Eine Ausgangssperre, die wohlgemerkt bereits zum fünften Mal verlängert wurde, während Griechenland aber gleichzeitig seit Juli des Jahres 2020 wieder Tourist*innen empfangen konnte“ (Anne Köppke 2020: S. 16).

Durch den jetzigen Brand ist das Flüchtlingslager komplett niedergebrannt und hat in einer Nacht um die 13.000 Personen obdachlos gemacht. „Viele haben möglicherweise die wenigen Habseligkeiten verloren, die sie noch besaßen, darunter auch wertvolle Dokumente, die ihre Asylanträge belegen“ (Anne Köppke 2020: S. 17). Auch im Bremer Viertel finden sich mehrere Plakate und Aufrufe wider, die eine Aufnahme der Flüchtenden befürworten. Hierbei wird zudem die Initiative „#LeaveNoOneBehind“ unterstützt, die sich dafür einsetzt, dass es keine überfüllten Lager mehr an den Außengrenzen geben darf (vgl. #LeaveNoOneBehind o. J.).

 

 

Anteilnahme, Mitgefühl und Unterstützung gegenüber Geflüchteten (Quelle: Studierende 2020)

 

 

 

Deutschland hat sich derweil bereit erklärt, 1500 Menschen aufzunehmen, wobei viele Kommunen und auch Bundesländer sich bereit erklärt haben, deutlich mehr Menschen aufnehmen zu können. Diese 1500 Menschen sind zudem Personen, deren Asylverfahren bereits anerkannt wurden (vgl. Gathmann 2020; vgl. Seebrücke 2020). „Über 170 sichere Häfen stehen insgesamt in Deutschland bereit, denn #WIRHABENPLATZ. Dies ist eine Initiative, die von der Seebrücke, die gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung vorgeht, aufgrund der Situation innerhalb Morias gegründet wurde“ (Anne Köppke 2020: S. 17). „Binnen Bremens wurde am 15.09.2020 das Landesaufnahmeprogramm verabschiedet, womit über 100 Personen aufgenommen werden könnten. Horst Seehofer, der deutsche Bundesminister des Innern, blockiert diese Aufnahmeprogramme jedoch“ (Anne Köppke 2020: S. 17). Ob und wie viele Flüchtende von Bremen aufgenommen werden, ist somit also noch unklar. Was jedoch sehr deutlich ist, ist, dass das Publikum des Bremer Viertels seine Wut und Empörung mithilfe von Plakaten ausdrückt.

 

 

 

Kritik an Seehofers Politik (Quelle: Studierende 2020)

 

 

 

 

Quellen:

Köppke, Anne (2020): #WIRHABENPLATZ
. Eine Darstellung der Flüchtlingskrise in Europa anhand des aktuellen Beispiels von Moria. Bremen: Unveröffentlichte Hausarbeit.

ARTE: Inside Moria. Doku. In: youtube.com (2020). URL: https://www.youtube.com/watch? v=Jor9J8QNy-0&feature=youtu.be&fbclid=IwAR38F32XqpXM_PROndLiH7JFUVebRbwDdW AXhkNsmqSx1lT7s2cv5USeT6w (zuletzt abgerufen am 29.09.2020)

Gathmann, Florian: Einigung auf Aufnahme von 1500 Flüchtlingen. Aller Ehren wert. In: spiegel.de (2020). URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/einigung-auf-aufnahme-von-1500-fluechtlingen-aller-ehren-wert-a-3bc94045-80fb-4389-ab97-5dc73fe0ac68 (zuletzt abgerufen am 30.09.2020).

Infomigrants: Coronavirus: Lesvos migrant camp risks catastrophe, Oxfam. In: infomigrants.net (2020). URL: https://www.infomigrants.net/en/post/27083/coronavirus-lesvos-migrant-camp-risks-catastrophe-oxfam (zuletzt abgerufen am 30.09.2020). 

Joko & Klaas: A Short Story Of Moria. Joko & Klaas 15 Minuten live. In: youtube.com (2020). URL: https://www.youtube.com/watch?v=XRqN9E9boCY&t=4s (zuletzt abgerufen am 29.09.2020).

#LeaveNoOneBehind: Nie wieder Moria. In: leavenoonebehind2020.org (2020). URL: https://leavenoonebehind2020.org (zuletzt abgerufen am 30.09.2020).

Seebrücke: Wir haben Platz! In: seebruecke.org (2020). URL: https://seebruecke.org/news/wir-haben-platz/ (zuletzt abgerufen am 30.09.2020).

Rede der Seebrücke vom 17.09.2020 im Irgendwo in Bremen

Am 18. Juni 2020 ist der 54-jährige marokkanische Staatsangehörige Mohamed Idrissi durch Polizeischüsse in Gröpelingen tödlich verletzt worden (vgl. Sundermann 2020).

 

 

 

Mohamed Idrissi (Quelle: Justice for Mohamed Idrissi 2020)

 

 

 

 

Am Donnerstag, dem 18. Juni 2020, haben zwei Angestellte einer Wohnungsbaugesellschaft die Absicht gehabt, die Wohnung von Mohamed Idrissi in Gröpelingen zu inspizieren. Letzterem sei „[w]egen mehrfacher Sachbeschädigung […] fristlos gekündigt worden“ (Michel 2020). Aufgrund von Anzeichen einer psychischen Krankheit bei Idrissi seien zwei Polizist_innen mit den beiden Angestellten mitgekommen. Als Idrissi sich nach der Wohnungsbegehung dagegen gewehrt habe, auf der Polizeiwache von dem sozialpsychiatrischen Dienst begutachtet zu werden, seien zwei zusätzliche Polizist_innen als Unterstützung eingetroffen. Nachdem die Polizist_innen Idrissi umstellt haben und dieser nach mehrmaligen Aufforderungen das Messer in seiner Hand nicht weggelegt habe, habe einer der Polizist_innen sich auf den 54-Jährigen mit einem Pfefferspray zubewegt (vgl. Michel 2020). Idrissi „fühlte sich offenbar bedroht“ (Sundermann 2020) und sei mit dem Messer auf den letztgenannten Polizisten zugerannt (vgl. Michel 2020), der daraufhin in seine Richtung Schüsse abgegeben habe (vgl. Sundermann 2020). Im Krankenhaus sei Idrissi den Wunden, die durch die zwei Schüsse verursacht worden seien, erlegen (vgl. Heidelberger 2020).

Der Tod Idrissis durch Polizeischüsse habe zu massiver Kritik und Demonstrationen geführt (vgl. Heidelberger 2020; Sundermann 2020). Unter anderem haben Verwandte des Verstorbenen den Zusammenschluss ‚Justice for Mohamed´ initiiert (vgl. Heidelberger 2020). Auf Initiative dieses Zusammenschlusses und anderer Organisationen habe am 15.08.2020 im Viertel eine Demonstration mit 200 Teilnehmenden stattgefunden, bei der eine akribische Ermittlung in dem Fall gefordert worden sei. In diesem Zusammenhang habe Idrissis Tochter Aicha Meisel-Suhr die fehlenden Beschwichtigungen seitens der Polizist_innen während des Einsatzes kritisiert. Die Schwägerin von Idrissi Nadia Rachchag habe zudem auf die Unerfahrenheit der beteiligten Polizist_innen hingewiesen (vgl. Sundermann 2020). In einem Interview mit ‚buten un binnen‘ im Juli 2020 hob sie hervor, dass der Polizist beim Schießen auch auf die Beine hätte zielen können. Auf Nachfrage, ob sie annehme, dass der Migrationshintergrund Idrissis bei dem Polizeieinsatz von Bedeutung gewesen sei (vgl. Heidelberger 2020), sagte sie:

„Wir distanzieren uns ganz weit davon, in Rassismus-Ecken gedrängt zu werden. Wir fragen uns aber schon: Wenn er weiß gewesen wäre oder ein Deutscher, wäre das dann so passiert? Wären vier Beamte mit einer Waffe auf ihn losgegangen? Oder hätte man dann anders reagiert? Wenn der reich gewesen wäre? Wenn der woanders gewohnt hätte? Wenn es andere Informationen gegeben hätte, hätte man dann so reagiert? Ich wage es zu bezweifeln.“ (Heidelberger 2020)

Der Zusammenschluss ‚Justice for Mohamed‘ betont auf seiner Homepage, dass er „seinen [Idrissis] Tod […] in Zusammenhang mit strukturellem Rassismus, Polizeigewalt, den Folgen von Armut und der Ausgrenzung und Stigmatisierung psychisch kranker Menschen [sehe]“ (Justice for Mohamed (Hrsg.) 2020). Um auf diese Missstände aufmerksam zu machen und zugleich die Erinnerung an Idrissi aufrechtzuerhalten, habe der Zusammenschluss in Bremen mehrere Gedenkstätten errichtet. Eine davon soll am kommenden Donnerstag, den 15.10.2020, auf dem Sedanplatz in Vegesack inauguriert werden (vgl. Justice for Mohamed (Hrsg.) 2020).

 

 

 

Plakat im Viertel zum Tod von Mohamed Idrissi (Quelle: Studierende 2020)

 

 

 

 

 

Quellen:

Heidelberger, Sebastian (2020): Angehörige üben scharfe Kritik nach tödlichem Polizeieinsatz in Bremen. URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/groepelingen-polizei-toter-schuesse-angehoerige-100.html (Datum des letzten Besuchs 12.10.2020).

Justice for Mohamed (Hrsg.) (2020): In Gedenken an Mohamed Idrissi. URL: https://justiceformohamed.org (Datum des letzten Besuchs 12.10.2020).

Justice for Mohamed Idrissi (2020): Justice for Mohamed Idrissi – Spendenaufruf. URL: https://www.change.org/p/justice-for-mohamed-idrissi-gerechtigkeit-für-mohamed-idrissi (Datum des letzten Besuchs 14.10.2020).

Michel, Ralf (2020): Tödliche Schüsse. Ermittlungen gegen zwei Polizisten. URL: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-ermittlungen-gegen-zwei-polizisten-_arid,1919309.html (Datum des letzten Besuchs 12.10.2020).

Sundermann, Sara (2020): Aufklärung gefordert.  Demo nach Tod von Mohamed Idrissi. URL: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-demo-nach-tod-von-mohamed-idrissi-_arid,1928542.html (Datum des letzten Besuchs 12.10.2020).

Auf den ersten Blick mag es nicht so scheinen, doch das Wilhelm Wagenfeld Haus am Ostertor Bremen diente über 150 Jahre lang als Gefangenenhaus, Gestapogefängnis, Polizeigewahrsam und Abschiebehaftanstalt. Nur ein einziger Zellentrakt mit fünf Zellen erinnert heute noch an die ursprüngliche Geschichte dieses Ortes. Er befindet sich im rechten Seitenflügel des edel wirkenden Gebäudes (Grundriss siehe weiter unten) und ist zu einer Dokumentationsstätte umgebaut worden, die sicher schon bald wieder besichtigt werden kann (aufgrund von Corona bleibt der Trakt zur Zeit geschlossen).

Es gibt einen Grund dafür, weshalb das Gebäude nach außen hin nicht als Gefängnis identifizierbar ist. Obwohl es zu gegebener Zeit sehr unüblich war, war es Teil des Bauauftrags, „den wahren Charakter des Gebäudes zu verstecken“ (Bartetzko, Fricke und Lubricht 1998: 31). Grund dafür war die Nähe des Standorts zu öffentlichen Spazierwegen und den „entstehenden Sommerhäusern betuchter Bürger“ (ebd.). Es war ursprünglich darauf ausgelegt, ca. 50-60 Gefangene beherbergen zu können. Da es nicht selten aber doppelt so viele wurden, kam es zu mehreren Um- und Anbauten, da z.B. die hygienischen Umstände unter der Überfüllung litten (vgl. ebd.: 40ff.).

Von 1986-1996 saßen im Wilhelm Wagenfeld Haus „abgelehnte Asylbewerber und Hungerflüchtlinge ein, Menschen aus unterschiedlichen Staaten und Kulturen, die mit großen Hoffnungen nach Deutschland gekommen waren – Sicherheit vor Verfolgung in der Heimat, vielleicht auch der Traum von etwas Teilhabe am Reichtum und an der Freiheit dieses Landes“ (ebd.: 51). Sie saßen dort unter menschenunwürdigen Bedingungen, die auch zu einigen Selbstmordversuchen führten. Da die katastrophalen Umstände mit der Zeit immer wieder für Schlagzeilen und Kritik sorgten, wurde es schließlich in ein Ausstellungshaus umfunktioniert. Damit fand die „Abschiebehaft am Ostertor“ ihr Ende (ebd.: 52). Heute befindet sich in dem ehemaligen Gefangenenhaus die Wilhelm Wagenfeld Stiftung, das Design Zentrum Bremen und die Gesellschaft für Produktgestaltung e.V.. Verschiedene Ausstellungen können dort besichtigt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Info-Flyer Dokumentationsstätte Gefangenenhaus Ostertorwache (Quelle: Staatsarchiv Bremen o. J.)

 

Quellen:

Bartetzko, Dieter; Fricke, Dieter; Lubricht, Rüdiger (1998): Die weiße Wache. Das Wilhelm Wagenfeld Haus am Ostertor in Bremen. Bremen: Aschenbeck & Holstein.

Info-Flyer Dokumentationsstätte Gefangenenhaus Ostertorwache vom Staatsarchiv Bremen

Wer es noch nicht weiß: In der Lindenstraße in Bremen Nord befindet sich eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) für Geflüchtete. Besonders durch Corona ist diese Aufnahmestelle immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, was eigentlich niemandem in Bremen entgangen sein dürfte. Neben einem riesigen Schriftzug am Osterdeich, der die Schließung der Einrichtung forderte, finden sich auch Plakate überall in der Stadt verteilt, besonders im Viertel, um die Aufmerksamkeit auf die dortigen Missstände zu lenken.

Plakat im Viertel

 

 

 

Plakat im Viertel zum Shutdown der Lindenstraße (Quelle: Studierende 2020)

 

 

 

Unter den Bewohner*innen des Lagers selbst kam es schon relativ früh zu Protesten und Forderungen nach einer Verlegung. Die Sammelunterkunft beherbergt so viele Menschen, dass es ihnen nicht möglich ist, einen Sicherheitsabstand zueinander einzuhalten. Sollte sich also nur eine Person infizieren, scheint es unvermeidlich, dass auch der Großteil der anderen Bewohner*innen sich ansteckt – was natürlich lebensgefährlich sein kann. Überall werden Maßnahmen durchgesetzt, um die Menschen zu schützen, während die Aufnahmestelle für Geflüchtete davon völlig unberührt bleibt. Viel zu viele Personen auf zu kleinem Raum, über eine viel zu lange Zeit, zusammen in Gemeinschaftszimmern, sind dem Virus mehr oder weniger ausgeliefert. Trotzdem werden ihre Forderungen übergangen bzw. nicht mit dem nötigen Ernst genommen.

Warum konnte es überhaupt dazu kommen? Es zeigt sich, dass Rassismus gerade in dieser Einrichtung noch sehr lebendig ist.

„Der Blick zurück lässt die Praxen (…) der Unterbringung in menschenunwürdigen Lagern (…) mit kolonial-rassistischen Kontinuitäten deuten, innerhalb derer Politik, (Sozial-)Behörden, Polizei, Justiz, Medizin und Medien kooperierten und das Vorgehen als notwendig und legitim darzustellen versuchen. Gegenwärtig geht es darum zu verstehen, welche Denk- und Wissensmuster, welche vermeintlichen, weil diskursiv erzeugten Notwendigkeiten im Festhalten an der Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße (auch in und trotz Coronazeiten) konkretisiert werden. Auch hier wird das Messen mit zweierlei Maß Grundlage eines Handelns, das Menschenleben sehenden Auges gefährdet und das – wichtig, uns das immer wieder zu vergegenwärtigen – nicht alternativlos ist“ (Atali-Timmer et al. 2020).

Waren die Lebensbedingungen in der Aufnahmestelle vor Corona schon unwürdig, so hat sich die Situation noch weiter verschlechtert. Es wird sehr deutlich, dass die Menschen dort nicht gleichberechtigt behandelt oder wahrgenommen werden und offensichtlich auch nicht die Notwendigkeit für schnellen Handlungsbedarf gesehen wird. Viele Bremer*innen zeigen sich aus diesem Grund solidarisch mit den Bewohner*innen des Lagers oder fordern sogar dessen Schließung z. B. auch mit Hilfe von Demonstrationen. Diese Mentalität ist im Viertel mehr als in allen anderen Bremer Stadtteilen deutlich zu spüren.

Alle Entwicklungen können hier genau nachverfolgt werden. Unter anderem sind dort Videoaufnahmen der Bewohner*innen selbst zu sehen. Des Weiteren möchten wir auf den kompletten Artikel über rassistische Kontinuität in Bremen verweisen.

 

Quellen:

https://www.nds-fluerat.org/42766/aktuelles/fluechtlingsrat-fordert-konsequente-verteilung-von-gefluechteten-aus-grosslagern/

Atali-Timmer, Fatos;  Betscher, Silke; Broeck, Sabine, Falge, Christiane; Fischer-Lescano, Andreas; Polat, Nurhak, Satilmis, Ayla (2020): Rassistische Kontinuität. https://taz.de/Archiv-Suche/!5679550&s=rassistische%2Bkontinuit%C3%A4t&SuchRahmen=Print/

Gibt es Racial Profiling in Bremen?

Bereits Anfang 2017 gab es einige Diskussionen um das Thema Racial Profiling in Bremen. In einem ‚Weser Kurier‘-Artikel vom 22. Januar 2017 beteuert Stephan Alken von der Polizei Bremen, dass es kein Racial Profiling in Bremen gebe, auch wenn die Polizei davon ausgehe, dass der Drogenhandel am Hauptbahnhof und im Steintorviertel besonders durch Menschen afrikanischer Abstammung betrieben werde. Stattdessen sei das Benehmen einer Person zentral für die Entscheidung zur polizeilichen Überprüfung. Zudem gebe es im Viertel und am Hauptbahnhof verhältnismäßig viele Polizeikontrollen, da dies Gebiete seien, in denen es in der Vergangenheit bereits viele strafrechtliche Vergehen gegeben habe. Die Initiative ‚Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt‘ (Kop) in dem Zeitungsartikel jedoch die Meinung, dass es sich um Racial Profiling handle und das Viertel oder der Hauptbahnhof durch dieses zu sogenannten „No-go-Areas“ (Oppel 2017) werden (vgl. Oppel 2017).

In einem ‚buten un binnen‘-Artikel vom 02. September 2019 ist Thomas Müller, der selbst 40 Jahre in Bremen als Polizist gearbeitet hatte, ebenfalls der Ansicht, dass die Polizei in Bremen Racial Profiling betreibe. Dies treffe nicht auf alle Polizeibeamt_innen zu und dürfe daher nicht generalisiert werden. Es gebe jedoch einige Beamt_innen, deren Handlungen durchaus von einigen ihrer Vorurteile geprägt seien. Diese Vorurteile werden noch dadurch verstärkt, so Müller, dass die Polizist_innen in ihrem Berufsalltag „mit bestimmten Bevölkerungsgruppen oft nur im negativen Sinne zu tun“ (Heidelberger 2019) haben. Auch diesen Vorwurf des Racial Profilings habe die Polizei damals dementiert und darauf hingewiesen, dass sich diesbezüglich offiziell noch keiner beklagt habe. Diese fehlende Zahl an Beschwerden habe Müller allerdings auf das Fehlen einer „unabhängige[n] Beschwerdestelle“ (Heidelberger 2019) zurückgeführt.

Auf diesen ‚buten un binnen‘-Artikel entgegnete Lüder Fasche von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Bremen im November 2019, dass Thomas Müller generalisierende Vorwürfe getätigt habe. Zudem weist er das Stattfinden von Racial Profiling am Bremer Hauptbahnhof zurück, da es sich hierbei nicht um verdachtsunabhängige Kontrollen handle und die ethnische Zugehörigkeit in diesem Falle nicht alleiniger Grund für Überprüfungen sei (vgl. Fasche 2019). So schreibt er in dem Artikel „Racial Profiling. Wir wehren uns gegen pauschale Rassismusvorwürfe“ in ‚Bremen Landesjournal‘:

„Ein schon längst nicht mehr ganz kleiner Kreis von Schwarzafrikaner dealt dort [an der Bremer Bahnhofstraße] ganz offensichtlich mit Betäubungsmitteln. Will man diesen Handel nun dort unterbinden, muss man schon vorwiegend Schwarzafrikaner kontrollieren. Und dennoch ist auch hier nicht die Hautfarbe das einzige Kriterium. Ort, Zeit, Alter und vor allem Habitus sind auch entscheidend.“ (Fasche 2019)

Eine solche Sichtweise, wie sie das obige Zitat ausdrücke, sei allerdings die Kernproblematik des Racial Profiling, teilt Müller in einer Stellungnahme zu Fasches Text mit. Es sei falsch, das Aussehen einer Person als Verdachtsanlass zu nehmen. Vielmehr sei das Benehmen der jeweiligen Person relevant. Zudem sei für Müller nicht nachvollziehbar, dass die GdP die Schwierigkeit des Racial Profiling abstreite, zumal der Europäische Menschenrechtsrat, der UN-Anti-Rassismus-Ausschuss und die Europäische Kommission diese Schwierigkeit anerkannt haben (vgl. Müller 2019).

Auch die Politik in Bremen sei mittlerweile auf das Problem des Racial Profiling aufmerksam geworden. Seit letzter Woche gebe es ein neues Konzept für das Polizeigesetz in Bremen, welches Racial Profiling verbiete und sich auch gegen verdachtsunabhängige Überprüfungen an Orten ausspreche, in denen in der Vergangenheit bereits relativ viele Straftaten begangen wurden. Zur Bekämpfung des Racial Profiling sollen Bürger_innen zudem bald die Berechtigung haben, eine „Kontrollquittung mit Angabe des Kontrollgrunds“ (Radio Bremen (ed.) 2020) zu bekommen, sollten sie polizeilich überprüft werden. Darüber hinaus sei die Einsetzung eines „Polizeibeauftragten“ (Radio Bremen (ed.) 2020) geplant, der eine Mittlerposition zwischen Zivilbevölkerung und der Polizei einnehmen und die Polizei außerdem kritisch überwachen solle (vgl. Radio Bremen (ed.) 2020).

 

 

Plakat im Viertel mit Handlungsempfehlungen im Falle einer rassistischen Polizeikontrolle (Quelle: Studierende 2020)

 

 

 

 

Wer ist Thomas Müller?

Wie oben bereits dargestellt, spielt Thomas Müller eine wichtige Rolle in der Diskussion um Racial Profiling bei der Bremer Polizei.

Thomas Müller arbeitete 40 Jahre lang als Polizeibeamter in Bremen, davon fast zwanzig Jahre im Streifendienst in Gröpelingen und zehn Jahre als „Integrationsbeauftragter“ (Heidelberger 2019). Mittlerweile ist er pensioniert, engagiert sich aber seit 2016 bei Amnesty International und begutachtet die Polizei prüfend.

Seit einiger Zeit setzt sich Müller gegen Racial Profiling ein und vertritt die Ansicht, dass die Bremer Polizei Racial Profiling betreibe (vgl. Heidelberger 2019).

Um mehr über seine Erfahrungen, Hintergründe und Ansichten zu erfahren, habe ich am 29.07.2020 ein Interview mit Thomas Müller durchgeführt, welches in der unten aufgeführten Audiodatei zu hören ist.

 

Die Zeitungsartikel, auf die ich im Interview Bezug nehme, sind folgende:

Heidelberger, Sebastian (2019): Ehemaliger Bremer Polizist wirft Polizei rassistische Kontrollen vor. URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/vorwurf-rassistische-kontrollen-polizei-bremen-100.html (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Fasche, Lüder (2019): Racial Profiling. Wir wehren uns gegen pauschale Rassismusvorwürfe. URL: https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/8457464C341433DCC1258493002DF644/$file/BN_2019_11.pdf (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Radio Bremen (ed.) (2020): Das sind die wichtigsten Punkte des neuen Bremer Polizeigesetzes. URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/politik/polizei-gesetz-bremen-100.html (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Bundeszentrale für politische Bildung (ed.) (2020): Bildungskonzept. Polizei und Personenkontrollen. URL: https://www.bpb.de/lernen/projekte/274833/polizei-und-personenkontrollen (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Internetquellen

Fasche, Lüder (2019): Racial Profiling. Wir wehren uns gegen pauschale Rassismusvorwürfe. URL: https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/8457464C341433DCC1258493002DF644/$file/BN_2019_11.pdf (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).  

Heidelberger, Sebastian (2019): Ehemaliger Bremer Polizist wirft Polizei rassistische Kontrollen vor. URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/vorwurf-rassistische-kontrollen-polizei-bremen-100.html (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Müller, Thomas (2019): Stellungnahme Thomas Müller. URL: https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/8457464C341433DCC1258493002DF644/$file/BN_2019_11.pdf (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Oppel, Jan (2017): Rassismus-Vorwürfe. Racial Profiling bei der Bremer Polizei? URL: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-Racial-Profiling-bei-der-Bremer-Polizei-_arid,1535463.html (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Radio Bremen (Hrsg.) (2020): Das sind die wichtigsten Punkte des neuen Bremer Polizeigesetzes. URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/politik/polizei-gesetz-bremen-100.html (Datum des letzten Besuchs 03.07.2020).

Was ist Racial Profiling?

Die Definition von ‚Racial Profiling‘ weist einige Kontroversen auf.
So seien Definitionen von ‚Racial Profiling‘ gebräuchlich wie „‚Racial profiling is the use of race or ethnicity, or proxies thereof, by law enforcement officers as a basis for judgment of criminal suspicion‘” (Belina 2016, S. 132, zit. nach Glaser 2015, S. 3, Herv. i. Orig.). Eine solche Definition sei jedoch – so Bernd Belina – schwierig, da sie für eine begrenzte Sichtweise auf Racial Profiling stehe, die Racial Profiling nur mit dem Handeln einzelner und nur mit Überprüfungen, die lediglich durch die „‚ethnicity‘“ (Belina 2016, S.133, Herv. i. Orig.) der Überprüften begründet seien, in Verbindung bringe (vgl. Belina 2016, S. 132f.).  Auch Hendrik Cremers Definition von Racial Profiling – „die polizeiliche Praxis, unveränderlichen [sic] Merkmale, die das äußere Erscheinungsbild eines Menschen prägen, als Entscheidungsgrundlage für polizeiliche Maßnahmen wie Personenkontrollen heranzuziehen“ (Cremer 2017, S. 405) – weist demnach ähnliche Schwachstellen auf, umgeht die von Belina kritisierte Individualisierung hier aber mit dem Verweis auf „die polizeiliche Praxis“ (Cremer 2017, S. 405) statt auf das Handeln von Polizeibeamt_innen (vgl. Cremer 2017, S. 405). Dennoch ist Cremers Definition von Racial Profiling aus zweierlei Gründen noch zu begrenzt, wird die weite Sichtweise von Belina herangezogen.

Erstens plädiert Belina für eine Sicht auf Racial Profiling, bei der die gesamte Organisation der Polizei berücksichtigt werden müsse, was neben den Handlungen und Ansichten einzelner Beamt_innen auch die politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen einschließe. Zweitens setzt sich Belina dafür ein, dass auch diejenigen Überprüfungen als ‚Racial Profiling‘ bezeichnet werden, bei denen die ‚ethnicity‘ zwar nicht der alleinige Anlass gewesen sei, infolge von „‚Intersektionalitäten‘“ (Belina 2016, S. 134, zit. nach Künkel 2014, S. 281) und des ausgesuchten „‚Ort[s] der Kontrolle‘“ (Belina 2016, S. 134, zit. nach Busch 2013, S. 6) aber überdurchschnittlich oft „People of Colour“ (Belina 2016, S. 134) unter den Überprüften seien. Demzufolge seien auch die ausgesuchten Orte, sowie Faktoren wie unter anderem der Kleidungsstil in die Überlegungen bezüglich Racial Profiling miteinzubeziehen. Diese weitere Sicht auf Racial Profiling wird als „institutionelle[r] Rassismus“ (Belina 2016, S. 134) bezeichnet (vgl. Belina 2016, S. 134).

Auch wenn Cremers oben genannte Definition von Racial Profiling diese beiden Aspekte nicht umfassen, kristallisiert sich in Cremers Text ‚Racial Profiling: Eine menschenrechtswidrige Praxis am Beispiel anlassloser Personenkontrollen‘ heraus, dass auch Cremer eher eine weitere Sichtweise auf Racial Profiling vertritt. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass er die gesetzlichen Regelungen hinsichtlich Racial Profiling untersucht und dabei zu dem Schluss kommt, dass auch dann eine Diskriminierung vorliege, wenn ‚Intersektionalitäten‘, die sich nicht nur auf dauerhafte Eigenschaften des Aussehens beziehen, bei dem Entschluss zu einer Überprüfung eine Rolle spielen (vgl. Cremer 2017, S. 405ff.).

Wie sehen die gesetzlichen Regelungen bezüglich Racial Profiling in Deutschland aus?

Da Polizist_innen bei der Praxis des Racial Profilings in ihrem Umgang mit Menschen durch das Aussehen der letzteren beeinflusst werden, handle es sich hierbei um „rassistische[] Diskriminierung“ (Cremer 2017, S. 407), welche eigentlich durch den Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes und durch die von der Bundesrepublik Deutschland anerkannten Menschenrechtsabkommen untersagt sei. Da letztere Abkommen von der Bundesrepublik offiziell anerkannt worden seien, müssen sich auch die deutsche Polizei und die deutschen Gerichte an die Bestimmungen halten (vgl. Cremer 2017, S. 406f.). Hierbei sei wichtig zu berücksichtigen, dass auch diejenigen gesetzlichen Regelungen gegen Grund- und Menschenrechte verstoßen, die zwar keinen expliziten diskriminierenden Charakter haben, dennoch aber in großer Zahl zu rassistischen Ungleichbehandlungen führen.

Ein solcher Fall liege allerdings vor, so Cremer, wenn § 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes betrachtet werde. In dieser Bestimmung werde zwar nicht explizit Racial Profiling gestattet, allerdings werden dadurch verdachtsunabhängige Überprüfungen durch die Polizei erlaubt. Überdies werde Racial Profiling begünstigt, da in der Bestimmung ausgesagt werde, dass das Ziel der polizeilichen Überprüfungen sei, Menschen ausfindig zu machen, die sich unerlaubterweise in Deutschland aufhalten. Ein solches Ziel wiederrum verleite die Beamt_innen dazu, eine Verbindung zwischen der Legalität des Aufenthaltes und dem Aussehen einer Person herzustellen und auf dieser Basis zu entscheiden, ob eine Person überprüft werde oder nicht. Aus diesem Grunde schließt Cremer, dass „[d]ie Norm […] damit auf Diskriminierungen angelegt“ (Cremer 2017, S. 409) sei (vgl. Cremer 2017, S. 409).

Auch Belina befasst sich in seinem Text ‚Der Alltag der Anderen: Racial Profiling in Deutschland?‘ mit den Bestimmungen des Bundespolizeigesetzes, um zu analysieren, ob und inwiefern Racial Profiling bereits durch das Gesetz gefördert werde. Hierbei stellt er fest, dass eine Reihe von Paragraphen des Bundespolizeigesetzes Polizeibeamt_innen gestatten, verdachtsunabhängig Personen zu überprüfen, um herauszufinden, ob sie sich womöglich unerlaubterweise in Deutschland aufhalten. An dieser Stelle merkt Belina wie Cremer ebenfalls an, dass Polizist_innen durch diese Gesetzgebungen dazu verleitet werden, das Aussehen der Personen mit der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthaltes in Beziehung zu setzen. Dies führe wiederrum dazu, dass in diesem Kontext „die ‚Rechtsgrundlagen für polizeiliches und justizielles Handeln […] Praktiken des Racial Profiling voraussetzen‘“ (Belina 2016, S. 137; zit. nach ajk-berlin 2013, S. 13), wie „der Arbeitskreis kritische Juristinnen und Juristen an der Humboldt-Universität zu Berlin“ (Belina 2016, S. 137) feststellte (vgl. Belina 2016, S.135f.).

Zudem manifestiere sich ‚institutioneller Rassismus‘ in den gesetzlichen Regelungen einiger Bundesländer, die der Polizei die Schaffung von „Gefahrengebieten“ (Belina 2016, S. 140) gestatten. Durch Benennung eines Gebietes als ‚Gefahrengebiet‘ werde der Polizei erlaubt, Personen ohne konkreten Verdachtsfall zu überprüfen. Dies führe dazu, dass es der Polizei möglich werde, gezielt ‚People of colour‘ zu kontrollieren, wobei aber auch hier ‚Intersektionalitäten‘ eine große Rolle spielen. Wichtig bei der Entscheidung, welche Person überprüft werde, sei demzufolge oft „die Kombination aus dunkler Hautfarbe, männlichem Geschlecht, einem Alter zwischen rd. 14 und 40 Jahren sowie sichtbaren Hinweisen auf die Zugehörigkeit zu den ärmeren Bevölkerungsschichten“ (Belina 2016, S. 140) (vgl. Belina 2014, S. 140).

 

 

 

Plakat im Viertel gegen rassistische Polizeigewalt (Quelle: Studierende 2020)

 

 

 

 

 

Quellen:

Belina, Bernd (2016): Der Alltag des Anderen: Racial Profiling in Deutschland? In: Dollinger, Bernd & Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.): Sicherer Alltag? Politiken und Mechanismen der Sicherheitskonstruktion im Alltag. Wiesbaden: Springer VS: 123-146.

Cremer, Hendrik (2017): Racial Profiling: Eine menschenrechtswidrige Praxis am Beispiel anlassloser Personenkontrollen. In: Fereidooni, Karim & Meral El (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS: 405-414.

Genau heute vor elf Jahren wurde die damals 31-jährige Marwa Ali El-Sherbini in Dresden ermordet. Marwa El-Sherbini wuchs in Alexandria, Ägypten auf, wo sie Pharmazie studierte und ihren Bachelor abschloss. Im Jahre 2005 wanderte sie mit ihrem Ehemann nach Bremen, Deutschland aus und zog im Jahre 2008 aufgrund von beruflichen Bedingungen nach Dresden um (vgl. Schade 2009).

 

Marwa El-Sherbini (Quelle: mdr Sachsen 2019) 

 

 

Im August des Jahres 2008 wurde Marwa Ali El-Sherbini auf einem Dresdner Spielplatz, während sie mit ihrem zu diesem Zeitpunkt 2-jährigen Sohn dort war, von Alex Wiens unbegründet als „Islamistin“, „Terroristin“ und „Schlampe“ beschimpft. Eine ebenfalls anwesende Person informierte daraufhin die Polizei, wodurch Anzeige gegen Wiens gestellt und eine Hauptverhandlung eröffnet wurde. Da Wiens El-Sherbini noch während der Verhandlung erneut beleidigte und behauptete, „’solche Leute‘ könne man gar nicht beleidigen, weil sie ‚keine richtigen Menschen‘ seien“ (Heitkamp 2009), legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, um ein höheres Strafmaß wegen eines ausländerfeindlichen Hintergrunds zu erwirken (vgl. Heitkamp 2009).

Am 01.07.2009 fand die Berufungsverhandlung statt. Nachdem El-Sherbini ihre Zeugenaussage abgelegt hatte und den Gerichtssaal verlassen wollte, griff Wiens sie daraufhin an und tötete sie mit 16 Messerstichen. El-Sherbini war im dritten Monat schwanger gewesen und hinterließ eine Familie, die ebenfalls angegriffen und teilweise lebensgefährlich verletzt wurde (vgl. Friedrichsen 2009).

Fast zehn Jahre nach der Ermordung Sherbinis ist am 18.10.2018 im Bremer Steintor der Marwa-El-Sherbini-Platz eingeweiht worden. „Der bisher namenlose Platz, auf dem der Gedenkpavillon steht, wurde zeitgleich mit der Einweihung des neuen Gedenkpavillons in Marwa-El-Sherbini-Platz benannt. Marwa El-Sherbini ist eines der Gewaltopfer, an deren Geschichte und Schicksal mit einem Porträt am Pavillon gedacht wird. Sie lebte von 2005 bis 2008 in Bremen“ (Köfte Kosher o. J.).  Sherbinis Gedenktafel ist Teil eines gesamten Pavillons, der das Ergebnis zweier Jugendprojekte gegen Diskriminierung und rechte Gewalt ist. Der Pavillon besteht aus 12 Portraits von Menschen, die aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung oder ihrer Obdachlosigkeit getötet worden (vgl. Köfte Kosher o. J.). „Sie stehen stellvertretend für alle Opfer rechter Gewalt in Deutschland“ (Köfte Kosher o. J.). „Das bereits 2012 zu einem Gedenkort umgestaltete Trafohäuschen zeigt zwölf Porträts von Opfern rechtsextremer Gewalt und musste nach wiederholten Schmierereien restauriert werden. Die von den Übermalungen befreiten Porträts befinden sich künftig unter graffitiabweisenden Acrylglasscheiben. Schülerinnen und Schüler der Wilhelm Wagenfeld Schule haben kurze Biografien der Opfer erarbeitet, die auf das Acrylglas geschrieben wurden“ (Holthaus 2018).

 

 

Marwa-El-Sherbini-Platz (Quelle: Till Schmidt 2019)

 

 

Der Mord an Marwa El-Sherbini zeigte auch internationale Konsequenzen auf, inwiefern Islam- und Muslimfeindlichkeit Folgen haben können. „Als internationaler Tag gegen antimuslimischen Rassismus steht der 1. Juli seitdem für entschiedenes Eintreten für eine solidarische, demokratische, freiheitliche und multireligiöse Gesellschaft“ (Allianz gegen Hass 2020).

Im Viertel, in Bremen, in Deutschland und in der gesamten Welt sollte #keinplatzfürhass sein.

 

Quellen:

Allianz gegen Hass: 1. Juli 2020. Der Tag gegen antimuslimischen Rassismus. In: allianzgegenhass.de (2020). URL: https://www.allianzgegenhass.de (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

Friedrichsen, Gisela: „Moslems sind Feinde“. In: spiegel.de (2009). URL: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-67682692.html (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

Heitkamp, Sven: Polizei ermittelt wegen heimtückischen Mordes. In: welt.de (2009). URL: https://www.welt.de/vermischtes/article4051592/Polizei-ermittelt-wegen-heimtueckischen-Mordes.html (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

Holthaus, Matthias: Gedenkort im Bremer Steintor. Marwa-El-Sherbini-Platz im Viertel eingeweiht. In: weser-kurier.de (2018). URL: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-marwaelsherbiniplatz-im-viertel-eingeweiht-_arid,1776974.html (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

Köfte Kosher: Willkommen. In: koefte-kosher.de (o. J.). URL: https://koefte-kosher.de (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

mdr Sachen: Stipendium erinnert an Ermordung der schwangeren Ägypterin El-Sherbini. In: mdr.de (2019). URL: https://www.mdr.de/sachsen/dresden/stipendium-gedenken-mord-aegypterin-marwa-el-sherbini-100.html (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

Schade, Thomas: „Die lächelnde Schöne“. In: archive.vn (2009). URL: https://archive.vn/20120912132818/http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=2209078 (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

Schmidt, Till: Die Menschen nicht vergessen. In: juedische-allgemeine.de (2019): URL: https://www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/migration-gestern-und-heute/ (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).


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