Wie lassen sich Medien – zum Beispiel Fotografie oder Film – einsetzen, um Vorgänge, Prozesse, das, was das ‚bloße Auge‘ nicht sieht und was sich begrifflich nicht fassen lässt, zu erforschen? Inwiefern können gerade auch ästhetische Prozesse – wie Kunsterfahrung, ästhetische Bildung oder Filmschaffen – anhand von medialen Aufzeichnungen reflektiert werden? Verraten uns Medien etwas über die Situation, in der sie entstanden sind?
Die Fotografie und der Film, die beide im 19. Jahrhundert entstanden, wurden, bevor sie sich auch als künstlerische und erzählende Medien etablierten, zunächst zur Dokumentation und wissenschaftlichen Forschung eingesetzt. Die Möglichkeit, historische Personen und Ereignisse, verschiedene Arbeitswelten, Lebenswirklichkeiten oder Kulturen abzubilden und zu ‚speichern‘, war dabei ebenso relevant, wie die Möglichkeit, ‚Unsichtbares‘ sichtbar zu machen: wie den Bewegungsverlauf von Tieren und das mikroskopisch Kleine in der Biologie, das im Inneren Verborgene in der Medizin oder das weit Entfernte in der Astronomie.
Im 20. Jahrhundert hat sich in den Kultur- und Medienwissenschaften die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch dokumentarische Aufnahmen als Bildproduktionen zu verstehen sind. Sie werden durch Auswahl, Ausschnitt, technische Manipulationen und Montage konstruiert, prägen unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit und sind ein machtvoller Akteur gesellschaftlicher Diskurse und Wirklichkeiten. Dennoch blieb von Beginn an, bei Theoretikern wie Siegfried Kracauer oder Roland Barthes, auch die Erkenntnis gegenwärtig, dass diese Apparaturen immer auch etwas aufzeichnen, das sich der Kontrolle der Produzent*innen und der Logik der Bildsprachen entzieht. Die Spuren der Aufnahmesituation in der Fotografie oder der Einstellung verweisen nicht nur auf das, was sich vor der Kamera befand, sondern auch auf diejenigen, die diese geführt haben, sie sind Medien einer Blickbeziehung.
In dieser relationalen Funktion setzten die Erziehungswissenschaften die Fotografie und den Film ein, um Unterrichtssituationen zu dokumentieren und zu reflektieren. In den Filmwissenschaften wurden zudem in den letzten Jahren Ansätze der Produktionsforschung entwickelt, die filmische Dokumente für die Erforschung von Produktionsprozessen verwenden. Aber auch in der Geschichtswissenschaft gewinnen filmische Dokumente zunehmend an Bedeutung.
1. Fotografie als Medium der Reflexion: Kunstunterricht und Lehramtsausbildung
Bilder mit Mütze (2019) © Katja Böhme
Zum Einstieg: Die Studentin, die diese Fotografien im Rahmen eines kunstpädagogischen Vermittlungsprojektes aufgenommen hat, erinnert sich in einem späteren Gespräch an ein bestimmtes Bild (das „Bild mit der Wollmütze“) und schreibt den darauf zu sehenden Schüler*innen eine besondere „Offenheit“ zu. Inwiefern kann diese positive Einschätzung der begleiteten Schüler*innen mit dem erinnerten Bilder und auch den anderen Fotografien verknüpft werden? Lässt sich der im (Kunst-)Pädagogischen gerne verwendete Begriff „Offenheit“ mithilfe der Fotografien differenzierter auslegen?
In der Lehramtsausbildung ist in den letzten Jahren die forschende Auseinandersetzung und das Reflektieren von Unterrichtssituationen wichtig geworden. Dabei stehen in den Erziehungswissenschaften bisher vor allem standardisierte empirische Methoden der Beobachtung und Befragung im Vordergrund, die sich auf Zielsetzungen und Ergebnisse von Lernprozessen konzentrieren. Die Prozesse des Lehrens und Lernens können jedoch in dieser Weise nicht angemessen beforscht werden. Sie ereignen sich als ein Wechselspiel der Beteiligten, in dem das, was intendiert wurde, immer mit Unvorhersehbarem, Irritationen, Abweichungen, Zufälligem konfrontiert ist. Diesem Unverfügbaren in Lern- und Lehrsituationen widmen sich experimentelle und ästhetische Ansätze, die sich an der phänomenologischen Bildungsphilosophie orientieren, darunter beispielsweise die ⇒Vignettenforschung oder die von Katja Böhme vorgeschlagene Auslegung von Fotografien als Reflexionspraxis. Fotografien werden dabei nicht nur als Abbildungen von Unterrichtssituationen untersucht, sondern als Ausdruck der Beziehung zwischen den Fotografierenden und den Fotografierten gedeutet. Im Unterschied zu der von Ralf Bohnsack entwickelten ⇒Dokumentarischen Methode, die mittels der ikonologischen Analyse die bewussten (oder unbewussten) Absichten fotografierender Schüler*innen deutet, fokussiert sich Böhme gerade auf die zufälligen, überschüssigen Elemente der Fotografie, die sich den Intentionen der Fotografierenden entziehen. Sie bezieht sich dabei auf die Fototheorien von Vilém Flusser zur Fotografie als einer körperlichen Geste und von Roland Barthes zum ⇒„punctum“ als einem Detail in der Fotografie, das den*die Betrachter*in persönlich ‚betrifft‘ und affiziert. Genau diese Momente sucht Böhme im Reflexionsprozess mit Lehramtsstudierenden in von ihnen fotografierten Lern-Lehr-Situationen auf.
Die konkrete Forschungssituation ist dabei folgendermaßen aufgebaut: Schüler*innen bekommen den Auftrag, alles, was in der Begegnung mit Räumen oder Kunstwerken ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, zu fotografieren. Studierende wiederum beobachten diese und fotografieren ihrerseits den Moment des Fotografierens. In anschließenden Gesprächen mit den Studierenden werden zunächst die Erinnerungen an die Situation aufgerufen, um diese dann mit den eigenen Fotos und den Fotos der Schüler*innen zu konfrontieren. Dies ermöglicht, die eigene Perspektive in der Perspektive des*der Anderen wahrzunehmen und zu reflektieren.
Zum Weiterlesen
Böhme, Katja: Wahrnehmungen vom Anderen – anders wahrnehmen. Vorstellungen von Kunstunterricht gemeinsam mit Lehramtsstudierenden reflektieren. In: Kunz, Ruth; Peters, Maria (Hg.): Der professionalisierte Blick. München: Kopaed Verlag 2019, S. 204-223.
Sturm, Eva: Mit dem was sich zeigt. Über das Unvorhersehbare in Kunstpädagogik und Kunstvermittlung. In: Busse, Klaus-Peter; Pazzini, Karl-Josef (Hg.): (Un)vorhersehbares Lernen. Kunst–Kultur–Bild. Dortmund: Dortmunder Schriften zur Kunst 2008, S. 71-92.
2. Film als Forschungsinstrument: Produktionsforschung
Zum Einstieg: Betrachten Sie diese Filmstills von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub bei den Dreharbeiten zu Klassenverhältnisse (1983). Was fällt Ihnen an Haltung, Position und Körpersprache auf? Worüber könnten solche Aufnahmen Aufschluss geben?
Da Film Handgriffe und Tätigkeiten in ihrem Verlauf aufzeichnen kann, erweist er sich als besonders geeignet, Arbeitsprozesse darzustellen. Dokumentarfilmer*innen haben daher schon früh die künstlerischen Prozesse anderer gefilmt. Beispielsweise machen Henri-Georges Clouzot mit Picasso (1956) oder in jüngerer Zeit Corinna Belz mit Gerhard Richter – Painting (2011) die Auslöschungen und Übermalungen im Schaffensprozess sichtbar. Auch filmische Produktionsprozesse wurden immer wieder von Kolleg*innen dokumentiert. So filmte beispielsweise Harun Farocki die Dreharbeiten zum Film Klassenverhältnisse von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub (1983), in dem er selbst auch als Nebendarsteller auftritt.
Auch die Produktionsforschung (Production Studies) befasst sich mit den Arbeitsabläufen bei der Herstellung von Filmen. Diese können nicht nur unter soziologischen oder kulturanthropologischen Gesichtspunkten als makroökomische Zusammenhänge, sondern auch aus film- und kulturwissenschaftlicher Perspektive im Hinblick auf die Entstehung einzelner Werke oder individueller Akteur*innen untersucht werden. Die filmhistorische Forschung, die nicht auf teilnehmende Beobachtung oder Interviews zurückgreifen kann, ist dabei auf andere Quellen wie Setfotografien, Arbeitspläne, Zeitschriftenartikel, Biographien usw. angewiesen.
Beispielsweise untersucht Alain Bergala anhand der unveröffentlichten Rohaufnahmen zu Partie de Campagne (Jean Renoir, 1946) die Filmproduktion als künstlerischen Schaffensprozess. Er richtet sein Augenmerk auf die Arbeit mit den Schauspieler*innen, die Produktionszwänge und den Einfluss des Zufalls. Dennis Göttel plädiert wiederum dafür, zu Marketingzwecken produzierte Filme, wie das ⇒Making Of, zur Erforschung von Produktionsprozessen in ihren gesellschaftlichen Kontexten hinzuzuziehen. Er schlägt vor, diese gegen den Strich zu lesen. Das heißt, jenseits der Kommunikationsabsicht dieser Filme, auch andere Fragen an sie zu stellen: Welche Möglichkeiten bergen diese selbst audiovisuellen Artefakte für die historische Forschung und welches Spannungsfeld zwischen filmindustriell lanciertem Diskurs zur Produktion und einem kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse entsteht dabei?
Harun Farocki: Arbeiten zu ‚Klassenverhältnisse‘ von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub (1983)
Zum Weiterlesen
Bergala, Alain: Für eine Analyse des Schaffensprozesses. In: Ders.: Kino als Kunst. Filmvermittlung in der Schule und anderswo. Marburg: Schüren 2006, S. 91-114.
Bergala, Alain: La Mise en scène de l’acteur dans Partie de campagne. 2008. In: Ders.: L’acteur au cinéma. DVD der Reihe L’Eden cinéma, SCÉREN-CNDP, 2008.
Göttel, Dennis: Das Making-Of als Produktionsforschung. In: Gonzáles de Reufels, Delia; Greiner, Rasmus; Odorico, Stefano; Pauleit, Winfried (Hg.): Film als Forschungsmethode. Berlin: Bertz + Fischer 2018, S. 36-45.
Texte von Bettina Henzler und Laura Somann (2020)
Kleine Legende
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Was ist ein Bewegungsbild?
Was sind die Eigenschaften des Films? Wie lassen sich diese analysieren? Wie sprechen Filme die Zuschauer*innen an? Und wie ist Film entstanden? Bettina Henzler widmet sich diesen Fragen anhand von Beispielen aus der Filmgeschichte und der frühen Filmtheorie: darunter...