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Kunst und Film sind keine Werke an sich, sondern sie entstehen erst in Prozessen der Gestaltung und Wahrnehmung. Und sie sind eingebunden in Prozesse der Vermittlung, die eigene Erkenntnisformen hervorbringen. Diese Prozesse beruhen auf den konkreten räumlichen und technischen Gegebenheiten. Sie sind geprägt von kulturellen, historischen und sozialen Kontexten, die unsere Wahrnehmung lenken und für das Verständnis grundlegend sind. Wie lassen sich diese Zusammenhänge erforschen?
In den Film- und Kulturwissenschaften hat sich die Dispositivanalyse als eine Methode zur Erforschung der technischen, kulturellen und historischen Kontexte der Rezeption (Wahrnehmung) und Produktion (Herstellung) etabliert. Zentral dafür ist der Begriff des Dispositivs, der im Französischen technische, juristische oder organisatorische „Anordnung“ meint. Dem entsprechen zwei verschiedene wissenschaftliche Definitionen des Dispositivs, die in den 1970er Jahren im Zuge ideologie- und gesellschaftskritischer Auseinandersetzungen mit den Voraussetzungen von Wissen und Wahrnehmung eingeführt wurden.
In der Filmtheorie und Medienwissenschaft bezieht sich Dispositiv ursprünglich auf die technische Apparatur und den Raum des Kinos, heute auch auf andere mediale Rezeptionsformen, wie das Fernsehen, die DVD und andere. In der Geschichtswissenschaft meint Dispositiv eher ein gesellschaftliches Ordnungssystem oder Netzwerk, das aus unterschiedlichen Elementen, wie Institutionen, Praktiken und Diskursen besteht. Beide befassen sich damit, wie gesellschaftliche und mediale Ordnungen entstehen, wie diese das Denken, Wahrnehmen und Verhalten von Menschen beeinflussen, wie also Individuen zu gesellschaftlichen Subjekten werden.
In der zeitgenössischen Kultur- und Medienwissenschaft werden diese beiden Ansätze miteinander verbunden, um die Rezeption und Produktion von Kunstwerken und Medien in der heutigen digital geprägten Gesellschaft, aber auch in der Kulturgeschichte zu erforschen – wie beispielsweise die Zuschauerkulturen des frühen Kinos.
1. Begriffe
Christian Marclay: The Clock (2010) Video, 24-hour loop © the artist Courtesy White Cube
Zum Einstieg: Lesen Sie die unten stehenden Definitionen des Dispositivs und überlegen Sie – mithilfe des Fotos – welche Elemente das Kino als Dispositiv kennzeichnen und wie diese zusammenwirken. Was ist auf dem Foto zu sehen und welche Aspekte des Kinos sind nicht zu sehen? Vergleichen Sie das Dispositiv des Kinos mit dem des Museums (siehe Teil 2).
„Was ich unter diesem Titel [Dispositiv] festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ ⇒weiterlesen
Foucault, Michel: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychoanalyse der Universität Paris VIII in Vincennes. In: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 119-120.
„Dispositive sind Anordnungen unterschiedlicher Art, die regeln, wie Menschen innerhalb einer Kultur etwas wahrnehmen, die Sichtbarkeit erzeugen, ohne selbst sichtbar zu sein. Mediendispositive sind ‚optische Maschinen‘, um zu sehen, ohne gesehen zu werden‘ (Deleuze 1991, S. 154). Sie organisieren Wahrnehmung auf eine zumeist nicht bewusste und deshalb oft als ‚natürlich‘ oder selbstverständlich angenommene Weise.“ ⇒weiterlesen
Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: J. B. Metzler 2010, S, 187.
„Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern. Also nicht nur die Gefängnisse, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinn offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone, und – warum nicht – die Sprache selbst, die vielleicht das älteste Dispositiv ist […]“ ⇒weiterlesen
Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Zürich-Berlin: Diaphanes Verlag 2008, S. 26.
Valie Export; Peter Weibel: Tapp und Tastkino (1968) Performance
Zum Einstieg: Schauen Sie sich die ⇒Performance „Tapp- und Tastkino“ von Valie Export an und überlegen Sie: Welche Eigenschaften des filmischen Dispositivs thematisiert die Künstlerin?
Der bis heute einflussreiche Ansatz der Dispositivanalyse stammt von dem französischen Historiker Michel Foucault, der das Dispositiv als ein Netzwerk von ⇒Diskursen, räumlichen Anordnungen, Institutionen und Praktiken bezeichnet, das gesellschaftliche Machtverhältnisse, Lebens- und Vorstellungswelten hervorbringt. Foucault etablierte damit ein Verständnis der Macht, die nicht durch ‚Machthaber*innen‘ ausgeübt wird, sondern die in den Kräfteverhältnissen oder auch im ‚Spiel‘ zwischen den verschiedenen Elementen eines Dispositivs entstehen und sich immer wieder verschieben können. In seinen Arbeiten zur Geschichte der Sexualität und des Wahnsinns, des Gefängnisses und der Schule befasste er sich mit der Frage, wie Menschen innerhalb der jeweiligen Dispositive als Subjekte konstituiert werden, wie sie also soziale Verhaltens- und Denkmuster verinnerlichen oder habitualisieren. Über ihr Denken, Fühlen und Handeln bringen Menschen gesellschaftliche Ordnungen auch mit hervor, ohne sich dessen bewusst zu sein.
In der Film- und Medientheorie wurde der Begriff des Dispositivs in einem engeren Sinne auf Apparate der Rezeption übertragen. Hier steht nicht das Wissen, sondern die Wahrnehmung im Mittelpunkt: die Frage also, wie die Wahrnehmung durch technische und räumliche Anordnungen geprägt ist. Einflussreich waren hierfür die französischen Theoretiker Jean-Louis Baudry und Christian Metz, die über die Zuschauersituation im Kino nachgedacht haben. In der psychoanalytisch fundierten Dispositivtheorie, auch Apparatustheorie genannt, begründen sie, wie die Zuschauer*innen im Kinosaal in einen traumähnlichen Zustand versetzt werden, sodass sie das Geschehen auf der Leinwand als Realität wahrnehmen. Auch sie fragten danach, wie Subjekte, in diesem Fall das Zuschauersubjekt, durch machtvolle Anordnungen, in diesem Fall die Kinoapparatur, hervorgebracht werden.
Anschließend an die Zuschauertheorie haben feministische Filmtheoretikerinnen und Künstlerinnen wie Laura Mulvey und Valie Export in ihren Texten, Filmen und Performances den ⇒,männlichen Blick‘ befragt, der filmischen Dispositiven zugrunde liegt. In jüngerer Zeit wurde die Dispositivtheorie durch phänomenologische Filmtheorien ergänzt, die statt des Blicks die körperliche Filmerfahrung ins Zentrum rücken.
Zum Weiterlesen
Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2003 (Orig. 1975), S. 389-409.
2. Rezeption: Museum und Kino
Thomas Struth: Art Institute of Chicago II (1990)
Bilder, Fotografien und Filme werden nicht nur innerhalb von Dispositiven hergestellt und wahrgenommen, sie stellen diese auch dar. Da es sich um visuelle Medien handelt, können sie mediale und räumliche Anordnungen vor Augen führen und das Wahrnehmen selbst reflektieren. Im Folgenden werden daher anhand von Fotomaterial die Dispositive des Museums und des Kinos vorgestellt.
Zum Einstieg: Wie wird hier der Raum des Museums dargestellt? Welche Aspekte der Dispositivs lassen sich erkennen, die die Wahrnehmung des Gemäldes bedingen? Vergleichen Sie das Foto mit dem Bild im vorigen Abschnitt. Wodurch unterscheiden sich die hier angedeuteten Rezeptionsweisen und Dispositive?
Beide auf dieser Seite gezeigten Fotografien zeigen einen Museumsraum. Die hier abgebildete Fotografie stammt aus der Serie Museums Photograph von Thomas Struth (1993) und zeigt eine großformatige Momentaufnahme aus dem Chicago Art Institute mit dem Gemälde Rue de Paris, temps de pluie von Gustave Caillebotte (1877). Die eingangs abgebildete Fotografie zeigt einen Museumsraum, der in ein Kino verwandelt wurde. Bei der Projektion handelt es sich um eine 24-stündige Videoinstallation The Clock von Christian Marclay (2010), in der Filmausschnitte so zusammengestellt sind, dass sie immer die aktuelle Zeit im Zuschauerraum widerspiegeln.
Im Zuge der Digitalisierung wird zunehmend auch Film und Video im Museumsraum gezeigt. Wie werden diese Filme im Museum ausgestellt? Wie verändert es unsere Wahrnehmung von Filmen, wenn wir sie als Ausstellungsobjekte im Museum, statt als Vorführung im Kino sehen? Wie verändern sich auch der soziale Status und die Haltung von Filmschaffenden, wenn sie nicht mehr zu einer marginalisierten Subkultur der kommerziellen Filmindustrie gehören, sondern ihre Werke als Kunst gehandelt werden? Diese Fragen zum Verhältnis von Kino und Museum wurden in der Filmkultur und Filmwissenschaft der letzten 20 Jahre rege debattiert.
Zum Weiterlesen
Bal, Mieke: Sagen Zeigen Prahlen. In: Bal, Mieke: Kulturanalyse. Hg. v. Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 72-116.
Gass, Lars Henrik: Film und Kunst nach dem Kino. Hamburg: Philo Fine Arts 2012.
O’Doherty, Brian: Inside the white Cube. Die weiße Zelle. Hg. v. Wolfgang Kemp, Berlin: Merve Verlag 1996.
Pantenburg, Volker: Attention, Please. Notizen zur Aufmerksamkeitsökonomie in Kino und Museum. In: kolik.film. 2010 Sonderheft 14, S. 68-74.
3. Produktion: Das Studiosystem des klassischen Hollywoodkinos
In der Dispositivtheorie der Film- und Medienwissenschaften stehen vor allem der Ort des Kinos oder die Programmstruktur des Fernsehens im Vordergrund. Jedoch können auch Produktionssysteme als Dispositive verstanden werden, wie beispielsweise das Studiosystem des Klassischen Hollywoodkinos, das die amerikanische Filmproduktion der 1920er bis 1950er Jahre dominierte und nach dem Vorbild von Industrieunternehmen eine arbeitsteilige Produktionsweise etablierte. Wie andere Dispositive spielen im Studiosystem spezifische Techniken und Architekturen der Filmproduktion (die auf dem Gelände der Studios vereint waren), Institutionen (Berufsverbände, Clubs, Vereine, Gewerkschaften) und Diskurse über Professionalität, die in Branchenzeitschriften oder Werbematerialien verbreitet wurden, zusammen. Die Studios brachten bestimmte Arbeitsabläufe und Praktiken der Filmproduktion hervor, die – wie Erin Hill in ihrem Buch darlegt – unter anderem auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beruhten. Um die Funktionsweise dieses Produktionssystems zu untersuchen, greift sie, wie andere Vertreter*innen der ⇒historischen Produktionsforschung auf diverse ⇒Materialien, wie Fotografien, Drehpläne und Angestelltenverzeichnisse, Pressematerialien, Interviews und Biografien, Werbefilme zurück.
Der nebenstehende Videoessay befragt den Industriefilm A Trip through the Walt Disney Studios daraufhin, was er uns vom Dispositiv des Studiosystems zeigt und welchen Aufschluss er über dessen geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die dieses legitimierenden Gender-Diskurse gibt.
Zum Einstieg: Schauen Sie den Film ⇒A Trip through the Walt Disney Studios an und überlegen Sie, wie sich in diesem Film das Disney-Studio darstellt und was wir darüber hinaus beobachten können. Welche Elemente eines Dispositivs zeigen sich hier? Inwiefern ist dieses Dispositiv von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Gender-Diskursen geprägt?
Zum Weiterlesen
Hill, Erin: Studio Tours. Feminized Labor in the Studio System. In: Dies.: Never Done. A history of women’s work in media production. New Brunswick; New Jersey; London: Rutgers University Press, 2016, S. 53-89.
Texte von Bettina Henzler (2020)
Kleine Legende
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Gemeinschaft durch Disziplin, Disziplin durch Gemeinschaft
Der Film „Gemeinschaft durch Disziplin, Disziplin durch Gemeinschaft" von Steven Keller entstand als Studienarbeit im Rahmen des Seminars „Kunst, Gesellschaft und Kritik“ bei PD Viktor Kittlausz im Sommersemester 2017 an der Universität Bremen. Er analysiert am...