Welche Aussage lässt die formale Gestaltung über die ‚Botschaft‘ eines Bildes oder die Haltung der Produzent*innen (Fotografierte und Fotografierende) zu? Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation setzt Ralf Bohnsack ein, um Fotografien und Videoaufnahmen als Dokumente des Rollenverständnisses und der Weltanschauung sozialer Akteur*innen zu deuten. Zur genaueren Erläuterung des Begriffs siehe die Seite zu ⇒Analysieren. An der Universität Bremen wurde das ⇒BOOC-Tool entwickelt, mit dessen Hilfe Bilder und Fotografien im Sinne Bohnsacks untersucht werden können. Im Folgenden wir das ein privat aufgenommenes Familienbild mithilfe des Tools untersucht und interpretiert.

Marc-Oliver Pahl: Einschulungsfoto (1994)

Zum Einstieg: Betrachten Sie das Bild einer Kleinfamilie. Was fällt Ihnen daran auf? Welche kompositorischen, perspektivischen und choreographischen Gestaltungen fallen Ihnen ins Auge? Welchen Eindruck hinterlassen diese? Wie wird der Blick gelenkt?

Planimetrische Komposition:

Die Bildkomposition wird von horizontalen und vertikalen Linien dominiert. Diese sind von der Architektur vorgegeben – den Wänden der Garage und des Hauses, den Fenstern, dem Zaun und dem Auto. Aber auch die Personen – der Mann/Vater und die Kinder – stehen kerzengerade da. Nur die Frau/Mutter, die sich leicht zu den Kindern herunterbeugt, bringt Bewegung in das Bild. Sie ist in der Mitte platziert, sie und die Kinder sind von dem Tor der Garage gerahmt.

Durch diese planimetrische Anordnung wird ein besonderer Fokus auf die Frau gelegt, die nicht nur die Größte im Vordergrund ist, genau im Zentrum des Bildes steht und von der Garage gerahmt wird, sondern auch durch ihre Bewegung herausfällt. Die anderen scheinen in ihren geraden Haltungen ein Teil ihrer Umgebung zu sein – auch der Mann/Vater, der zwar im Hintergrund, aber neben dem Garagenpfosten steht, wird so mit den anderen verbunden.

Perspektive

Der Fluchtpunkt, wenn er an den Bodenplatten, dem Zaun rechts und den Deckenlinien der Garage orientiert wird, liegt schräg hinter der Frau. Sie lehnt sich in Richtung des Fluchtpunktes und berührt ihn leicht mit ihrer Schulter und ihren Haaren. Tatsächlich sieht es so aus, als ob er auf bzw. hinter dem Dach des Autos liege. Das heißt, auch die Perspektive lenkt den Blick des Betrachters*der Betrachterin auf den Oberkörper und das Gesicht der Frau, die versucht, sich ins Zentrum des Bildes zu lehnen, es aber am Ende doch nicht ganz schafft. Das Autodach bleibt der Mittelpunkt.

Szenische Choreographie

Wenn man die Personen in Beziehung zueinander setzt, dann lassen sich zwei Zentren feststellen: ein engerer Kreis, der nur die Frau/Mutter und die Kinder umschließt und durch die gebeugte Haltung der Frau/Mutter betont wird, ein weiterer Kreis, der den Mann/Vater links einschließt, aber zugleich rechts auch das Auto.

Der Mann/Vater steht also auch hier außerhalb. Der prominente Platz des Autos an seiner Seite fällt hier besonders auf, beide rahmen die Frau/Mutter im Zentrum.

Dies lädt zu einer Reihe von weiterführenden Fragen ein:

Knüpft das Foto möglicherweise an die christliche Ikonografie der heiligen Familie an und falls ja, was für ein Bild der Familie, gerade auch der Rollen von Vater und Mutter, wird dadurch etabliert?

Vemittelt sich auf dem Bild die Bedeutung des Autos als Statussymbol der Familie im Deutschland des späten 20. Jahrhunderts? Auch hierbei stellt sich die Frage nach den Geschlechterrollen, da Auto und Garage bildlich dem Mann/Vater zugeordnet werden, der die Familie rahmt. Er scheint dadurch mehr ‚Gewicht‘ zu haben, als die Platzierung im Hintergrund auf den ersten Blick nahelegt.

Diese Fragen könnten durch Vergleiche mit anderen Bildern und Fotografien und durch eine genauere Kontextualisierung weiter verfolgt werden: In welchem Zusammenhang ist dieses Foto entstanden? Wer hat fotografiert, wer stellt sich dar? Ähnelt das Foto anderen Einschulungsbildern der Zeit? Vermitteln uns diese Bilder etwas darüber, wie sich Familien darstellen – wie sie sich als Familie verstehen und an welchen Vorstellungen und Bildern der Familie sie sich orientieren?

Fotografien können so als Teil einer Sozial- und Kulturgeschichte der Familie erforscht werden.

Schlussfolgerungen:

Die Bildkomposition etabliert einen ‚Kern‘ der Familie, der von der Mutter mit ihren Kindern gebildet wird. Sie erinnert an die Tradition der christlichen Ikonografie, in Ier die Muttergottes und Kind als Einheit abgebildet sind.

Dieser ‚Kern‘ ist gerahmt durch die Architektur. Sie bindet den Vater ein, der im Hintergrund am Pfosten der Garage steht, und dessen gerade Haltung, wie auch die seiner Kinder, den geraden Linien der Architektur entspricht. Zudem ist der Vater auch in einem weiteren Kreis mit der Familie verbunden, allerdings schließt dieser auch das Auto ein: Vater und Auto flankieren die Kernfamilie aus Mutter und Kindern. Das Kind mit der Schultüte, das anlässlich der Einschulung eigentlich die Hauptperson sein sollte, scheint dabei eher unbedeutend, selbst wenn es mit der Mutter im Zentrum des Bildes steht.