Wie lassen sich die Kontexte der Rezeption von Kunstwerken und Filmen erforschen? In den Film- und Kulturwissenschaften hat sich die Dispositivanalyse als eine Methode zur Erforschung der technischen, kulturellen und historischen Kontexte der Rezeption und Produktion etabliert. Im Vergleich dieser beiden Bilder wird im Folgenden erläutert, was unter den Dispositiven des Museums und des Kinos zu verstehen ist. Zur genaueren Erläuterung des Begriffs siehe die Seite zur Dispositivanalyse.

Thomas Struth, Art Institute of Chicago II, 1990
In einem hell ausgeleuchteten Museumsraum sind Gemälde vor weißen Wänden zu sehen, davor verstreut Besucher*innen, die diese anschauen. Die Fotografie dieser Situation hebt eins der Gemälde, vor dem eine Frau in rotem Mantel steht, besonders hervor. Dies geschieht durch die Gliederung des Raumes in zwei Ebenen. Im Vordergrund ist an einer freistehenden Wand das großformatige Rue de Paris, temps de pluie von Gustav Caillebotte (1877) einzeln zu sehen, im Hintergrund an der Raumwand gruppieren sich mehre kleinformatige Bilder aus derselben Epoche. Die Gemälde werden zusätzlich auch durch die symmetrische Anordnung und den Goldrahmen hervorgehoben. Die Fotografie ist planparallel und mit Caillebottes Gemälde mittig aufgenommen, sodass unser Blick, wie der der Besucherin im Vordergrund, auf das Gemälde zentriert ist. Wie andere Rückenfiguren der Kunstgeschichte können wir sie als unsere Stellvertreterin im Bild auffassen.
Das Foto zeigt uns, wie die individuelle Wahrnehmung des Gemäldes in einen Kontext eingebettet ist. Die anderen Bilder, neben denen es platziert ist, der Raum, in dem die Bilder angeordnet sind, die Art und Weise, wie sie präsentiert werden – all dies vermittelt das Museum als einen Ort, der Kunst zur Schau stellt. Das Museum ist aber auch in umfassenderem Sinn eine Institution, die dies durch verschiedene Praktiken reguliert, etwa durch die Entscheidungen, welche Ausstellungen programmiert werden, durch das Kuratieren und Präsentieren (Display) dieser Ausstellungen, durch die Ankündigung und Kommunikation der Ausstellungen (Diskurs). Im Fall des vorliegenden Bildes zeigen sich diese Entscheidungen zum Beispiel darin, dass hier ein kunstgeschichtlicher Zugang vorgegeben wird, der Gemälde aus dem gleichen historischen Kontext – europäische Kunst des 19. Jahrhunderts – zusammenstellt und dass zugleich bestimmte Gemälde als besonders wertvoll und sehenswert herausgestellt werden. So wird das großformatige Gemälde von Caillebotte an einer eigenen Wand präsentertiert und damit zusätzlich von den kleineren in Serie gehängten Gemälden abgehoben. In dieser Weise lenkt das Museum nicht nur das, was zu sehen ist, sondern auch, wie etwas bewertet wird und was über die Kunstgeschichte bekannt ist und weitergegeben wird.
Aber das Museum lenkt nicht nur den Blick, sondern reguliert auch das Verhalten der Museumsbesucher*innen, wie auch in der Fotografie deutlich wird. Die Besucher*innen stehen vor den Gemälden und richten ihren Blick auf sie. Niemand rutscht auf dem Fußboden oder versucht, die Bilder anzufassen. Viele von ihnen sind seitlich platziert, sodass sie den Blick auf das Gemälde nicht ‚behindern‘. Dieses Verhalten wird auch durch die Abstandshalter vorgegeben, welche die Gemälde regelrecht einzäunen. Es mag Besucher*innen, die den Museumsbesuch gewöhnt sind, selbstverständlich sein. Andere, die diese Verhaltensweisen nicht ‚verinnerlicht‘ oder habitualisiert haben, können sich dadurch verunsichert fühlen oder durch ein abweichendes Verhalten (negativ) auffallen. Mit dem Dispositiv des Museums sind somit Gewohnheiten des Schauens und Verhaltens verbunden, die vor allem in kulturell gebildeten Schichten üblich sind: damit ist es auch ein Ort der sozialen Distinktion.

Gleichzeitig durchkreuzt die Fotografie auch diese vom Raum vorgegebenen Abstände und damit verbundenen Verhaltensmuster. Der Oberkörper der Frau im roten Mantel im Vordergrund ragt in das Gemälde von Caillebotte hinein, in dem ein freier Platz für sie gegeben scheint. Ihre Haltung ist spiegelverkehrt zu den Figuren im Vordergrund des Gemäldes, die mit ihr zu kommunizieren scheinen. Zudem lassen sich auch weitere Korrespondenzen zwischen dem abgebildeten Gemälde und der abbildenden Fotografie erkennen: das Bildmotiv, die Strukturen des Bodens oder die Raumgestaltung, die Spannung zwischen Tiefenwirkung und der zweidimensionalen Fläche. Damit reflektiert sich das Foto selbst als eine Schauanordnung (ein Display) und verweist möglicherweise auf die individuelle Kunstwahrnehmung, welche durch das Museumsdispositiv ermöglicht wird, dies aber auch durchkreuzen kann.

Auch dieses Foto zeigt eine Rezeptionssituation, in der mittig ein großformatiges Bild zu sehen, in diesem Fall eine fotografische (oder filmische) Aufnahme, auf die sich die Aufmerksamkeit des Publikums konzentriert. Dennoch lassen sich sofort zahlreiche Unterschiede zum ersten Bild erkennen: es sind nicht einzelne Betrachter*innen zu sehen, die an verschiedene Bildern entlang gehen, sondern ein Publikum, das regungslos sitzt. Der Saal ist abgedunkelt. All dies führt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit noch stärker auf das zentrale Bild in der Fotografie konzentriert. Auch zeigt dieses Bild einen Frauenkopf, der sich in Bewegung zu befinden scheint – eine Großaufnahme wie sie vor allem in Filmen vorkommt. Die Uhr deutet den Ablauf der Zeit an. All dies verweist auf das Dispositiv des Kinos.

Dieses Dispositiv ist noch stärker als der Museumsraum dadurch gekennzeichnet, dass die Voraussetzungen der Rezeption unsichtbar sind. Dieser Umstand wird nicht nur durch die Aspekte der Auswahl, Programmierung und Bewerbung von Filmen bedingt, die durch andere Institutionen und Ökonomien geregelt wird – je nachdem ob es sich um kommerzielle Strukturen oder öffentliche Institutionen wie Filmmuseen und kommunale Kinos handelt. Auch der Raum selbst, der in der Dunkelheit verschwindet und in dem die technischen Bedingungen der Projektion – ob analog oder digital –, nicht zu sehen sind, tragen dazu bei, dass die Zuschauer den Eindruck haben, ‚in den Film einzutauchen‘ und die Situation um sich her vergessen.
Christian Marclay, The Clock, 2010, video, 24-hour loop
Diesen Mechanismus hat Jean-Louis Baudry als Voraussetzung für den Realitätseindruck des Kinos beschrieben. Mit Bezug auf die psychoanalytische Theorie beschreibt er die Kinosituation als eine Regression, oder einen Rückzug, in einen traumähnlichen Zustand, in dem die Zuschauer*innen sich bewegungslos und abgeschnitten von der äußeren Wirklichkeit der filmischen Realität überantworten, ja an sie glauben. Er vergleicht die Projektion auf eine Leinwand dabei mit psychischen Projektionen, als Übertragung von Wunschvorstellungen auf andere. Mit seiner Dispositivtheorie möchte Baudry den mächtigen unbewussten Einfluss filmischer Vorstellungswelten auf die Zuschauer*innen begründen, die – wie im Traum – in Filmen ihre Wünsche realisieren. Seine Theorie wurde später dafür kritisiert, dass sie andere Aspekte der Filmerfahrung, wie beispielsweise die sinnliche oder ästhetische Wahrnehmung oder auch Interaktionen im Publikum nicht berücksichtigt und sich unausgesprochen auf Filme bezieht, die den Konventionen des klassischen Hollywoodkinos entsprechen.

Valie Export, Peter Weibel, Tapp und Tastkino, 1968, Performance
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Literaturangaben:

Jean-Louis Baudry (2004): Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Claus Pias, Joseph Vogel Lorenz Engell, Oliver Fahle, Britta Neitzel (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßbeglichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart, S. 381-404 (Orig. 1975).

Laura Mulvey (2003): Visuelle Lust und narratives Kino. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart, S. 389-409 (Orig. 1973).

Bonusmaterial zu Riddles of the Sphinx von Pauleit / Dietrich -> Tobias Dietrich fragen

Anschließend an psychoanalytische Zuschauer*innentheorie hat sich die feministische Theoretikerin Laura Mulvey mit der Frage befasst, wie nicht nur der Kinoapparat, sondern auch filmische Blickstrukturen ein bestimmtes Zuschauersubjekt hervorbringen. Am Beispiel des klassischen Hollywoodkinos zeigt Mulvey, wie diese als Ausdruck eines ‚männlichen Blick‘ aufgefasst werden können, der sich auf den begehrenswerten weiblichen Körper richtet. Diese Theorie war in den 1970er Jahren sehr einflussreich und hat auch Künstlerinnen bewogen in ihrer Arbeit das Dispositiv Kino und die Blickstrukturen des Films kritisch zu hinterfragen. Mulvey selbst durchkreuzt in ihrem Experimentalfilm Riddles of the Sphinx den „männlichen Blick“, indem sie Räume in langsamen 360°-Schwenks erschließt, welche die Körper von Frauen nur beiläufig streifen. Die Performancekünstlerin Vali Export stellt wiederum mit ihrem Tapp- und Tastkino das blinde Ertasten dem Blick auf ihren Körper entgegen. Indem Zuschauer*innen ihren nackten Körper nicht sehen, sondern nur für einen festgelegten Zeitpunkt ertasten können, wird der Voyeurismus des Kinos ausgestellt und die Voyeure selbst zu Objekt des Blicks.