Gesellschaft und Prothese – Im Wandel der Zeit

Prothesen? Worum geht’s eigentlich?

Ob als Holzbein auf einem Piratenschiff, als künstliches Gebiss oder als High-Tec-Beinersatz bei den Paralympischen Spielen: Prothesen haben die verschiedensten Erscheinungsformen und Anwendungsbereiche. Sinn einer Prothese ist es, verlorene oder eingeschränkte Körperteile in ihrer Funktion oder Ästhetik zu ersetzen. Dabei kann zwischen verschiedenen Typen unterschieden werden:

  • Exoprothesen befinden sich vollständig außerhalb des Körpers. Beispielsweise ersetzt eine Exoprothese ein verlorenes Bein oder eine Hand.
  • Implantate:
    • Endoprothesen befinden sich vollständig innerhalb des Körpers. Beispielsweise ersetzen sie Gelenke oder Blutgefäße.
    • Offene Implantate befinden sich zu einem Teil innerhalb und zum anderen Teil außerhalb des Körpers. Ein bekanntes Beispiel für diese Prothesenform bilden Zahnimplante. Da offene Implantate die Haut durchdringen und faktisch einen Tunnel von Außenmilieu ins Körperinnere bilden, können offene Implantate ein erhöhtes Risiko von Infektionen beherbergen.

Im Zuge der fortschreitenden technischen Entwicklung kommt im öffentlichen Diskurs immer häufiger die Frage auf, ob Prothesen mittlerweile nicht mehr nur verlorene oder in ihrer Funktion eingeschränkte Körperteile ersetzen, sondern dem Körper sogar zusätzliche Fähigkeiten verleihen (Stichpunkt Maschinenmensch/Mensch 2.0/Cyborg). In diesem Sinne möchten wir uns auf dieser Web-Site mit der Frage beschäftigen, wie historische Prothesen von ihren Zeitgenossen wahrgenommen und rezipiert wurden; zudem auch wie Prothesen durch ihre Träger und die jeweilige Gesellschaft inszeniert wurden. Welche Funktionen sollten diese Prothesen in erster Linie erfüllen?

Technische Entwicklung im Überblick

  • 1000 bis 600 v. Chr.: Altägyptische Zehenprothese. Die sorgfältig verarbeitete und an ihre Trägerin angepasste Prothese des Großen Zehs stellt die älteste nachgewiesene Prothese der Welt dar. Es ist wahrscheinlich, dass diese Prothese häufig getragen wurde und den verlorenen Zeh auch funktional ersetzen konnte. Mehr dazu hier: The ancient origins of prosthetic medicine und hier: Eine 3000 Jahre alte Zehenprothese
  • 300 v. Chr.: Stelzfuß von Capua.  Die älteste Beinprothese der Welt wurde im italienischen Capua 1885 entdeckt. Das mit Bronze verkleidete Holzbein war jedoch nicht voll belastbar und sollte wahrscheinlich nur rein optisch die verlorenen rechten Unterschenkel ersetzen.
  • 240 bis 180 v. Chr.: Erste funktionale Beinprothese. Archäologen konnten im westchinesischen Tufran die erste voll belastbare Beinprothese nachweisen. Diese wurde mittels Lederriemen am Oberschenkel befestigt. Der Träger der Prothese erlitt in Folge einer Infektion durch Mykobakterien eine Knochenhautentzündung im Knie. Das Gelenk war dadurch stark deformiert und das Bein nicht mehr zu bewegen. Der Mann war jedoch dank der Prothese wieder mobil, was die Forscher an den Muskelansätzen am Oberschenkelknochen ablesen konnten. Mehr dazu unter: Baykal: Der Mann mit dem Holzbein
  • 218 bis 208 v. Chr: Erste überlieferte Handprothese. Der römische Offizier Marcus Sergius Silus verlor im 2. Punischen Krieg seine rechte Hand. Daraufhin ließ er sich eine eiserne Handprothese anfertigen, mit der er angeblich sogar ein Schild habe halten können. Die Prothese ist jedoch nicht erhalten geblieben.
  • 6. Jahrhundert: Fußprothese vom Hemmaberg. Am österreichischen Hemmaberg wurde 2013 das Grab eines Mannes gefunden, der seinen Fuß unterhalb des Knöchels verloren hatte. Stattdessen trug er eine Prothese: Der Unterschenkel ruhte auf einem  gepolsterten Eisenring. Darunter befand sich ein Becher als Fußersatz. Die Prothese war vermutlich jedoch nicht voll belastbar. Mehr dazu unter: Älteste Fußprothese Europas gefunden.
  • Ab 1450: Aufkommen der Eisernen Hände. Diese sollten in der Regel nicht nur rein optisch eine Hand ersetzen, sondern auch deren Funktion übernehmen können. Durch eine eingebaute Mechanik und bewegliche Daumen und Finger konnten sie passiv bewegt werden, es ließen sich Zügel halten und sogar damit schreiben. Berühmtester Träger einer Eisernen Hand ist der Raubritter Götz von Berlichingen (1480-1562).
  • 1812: Erste willkürlich bewegbare Handprothese. Die vom Berliner Zahnarzt Peter Baliff entwickelte Prothese wurde über Seilzüge durch bestimmte Bewegungen der Schulter gesteuert. Die Prothesen erwiesen sich als eher unpraktisch, da Verrenkungen nötig waren um die künstlichen Hand gezielt zu bewegen.
  • 1836: Erste brauchbare, willkürlich bewegbare Handprothese. Caroline Eichler verbesserte das von Peter Baliff entwickelte Kontruktionsprinzip. Durch Eichlers Handprothese war die Kraft von Bewegungen nun besser zu dosieren, außerdem verfügte sie über einen beweglichen, opponierbaren Daumen. Eichler entwickelte ebenso neuartige Beinprothesen, die bewegliche Kniegelenke besaßen. Eichler war die erste Frau in Preußen, die ein Patent über 10 Jahre erhielt. Mehr dazu unter: Die vergessene Verfertigerin und Eichler: Neuerfundener künstlicher Fuß (1834).
  • 1913: Erste Endoprothese. Die ersten künstlichen Gelenke wurden aus Elfenbein angefertigt. Große Probleme bereitete die Befestigung der Endoprothese am Knochen.
  • 1916: Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch überträgt durch einen Elfenbeinstift die Kontraktionen und Entspannungen des Armbeugemuskels (Bizeps)  auf die Prothese, sodass der Patient mit einer künstlichen Hand zugreifen konnte. Allerdings barg diese Konstruktion ein hohes Risiko von Infektionen, da der Elfenbeinstift vom Außenmilieu tief in den Oberarmmuskel hineinragte. Mehr dazu: SAUERBRUCH – Tod des Titanen (SPIEGEL).
  • 1960: Einführung des Knochenzements revolutioniert die Endoprothetik. Der Knochenzement erhöht den Halt der Prothese am Knochen.
  • Gegenwart: Fortschritte in der Computer- und Mikroprozessortechnik ermöglichen das Übertragen von neuronalen Impulsen auf die Prothese. Doch Prothesen können heutzutage nicht nur Befehle empfangen sondern auch Sinneswahrnehmungen an den Körper weiterleiten, d.h. sie können „fühlen“. Mehr dazu: Forscher präsentieren Prothesen mit feinem Gespür (SPIEGEL) und Kunsthand mit Augen steuert sich selbst (Spektrum)

Erklärvideo: Gesellschaft und Prothese – Im Wandel der Zeit

Fallbeispiele aus der Geschichte

In den folgenden Abschnitten sind verschiedene historische Berichte über Prothesen zu finden. Nicht immer ersetzten sie bloß die verlorene Gliedmaße. Mal dienten sie der Selbstdarstellung als furchtloser Soldat oder als Hilfsmittel für zwielichtige Machenschaften…

Der römische Offizier Marcus Sergius Silus (3. Jh. v.Chr.)

Marcus Sergius Silus lebte im 3. Jahrhundert v. Chr. und kämpfte als römischer Offizier im zweiten Punischen Krieg (218 bis 201 v.Chr.)  gegen die Karthager. In diesen Kämpfen verlor er seine rechte Hand und ersetzte sie durch eine eiserne Prothese. Marcus Sergius gilt damit als erster bekannter Träger einer Handprothese weltweit. Plinius berichtet davon folgendermaßen:

„In seinem zweiten Feldzuge verlor er seine rechte Hand; überhaupt wurde er in zwei Feldzügen dreiundzwanzig Mal verwundet, sodass er weder von seiner Linken, noch von seinen Füßen einen hinreichenden Gebrauch machen konnte. Trotz seiner körperlichen Mängel machte er fernerhin noch mehrere Feldzüge mit, in welchen ihm ein Diener zur Seite war. Zweimal wurde er vom Hannibal gefangen, denn keinen geringeren Feind, als diesen, bekämpfte er, und zweimal entkam er aus der Gefangenschaft, ob er gleich zwanzig Monate hindurch, alle Tage ohne Unterschied mit Ketten und Fußeisen belastet, als Gefangener bewacht worden war. Mit seiner linken Hand allein kämpfte er vier Mal, wobei ihm zwei Pferde unter dem Leibe getötet wurden. Er ließ sich eine eiserne Rechte machen und kämpfte mit derselben, nachdem sie ihm fest angebunden war, zur Zeit, als er Cremona entsetzte, Placentia sicherte, und in (dem cisalpinischen) Gallien zwölf Mal das feindliche Lager eroberte.“

Zitiert nach Reiff, Heinrich Carl: Geschichte der römischen Bürgerkriege vom Anfange der Gracchischen Unruhen bis zur Alleinherrschaft des Augustus, Berlin 1825, S. 243 – 245.

Hier avanciert die Prothese nicht in erster Linie zu einem Statussymbol, das den sozialen und wirtschaftlichen Stand des Trägers hervorheben soll. Vielmehr unterstützt die Geschichte der abgeschlagenen Hand das Image des Marcus Sergius Silus als furchtloser Soldat und Verteidiger des Römischen Reiches gegen die Karthager. Als Kriegsheld erreichte er somit eine gewisse Bekanntheit und Popularität in der römischen Gesellschaft, die soweit reichte, dass Plinius fast drei Jahrhunderte später über ihn und seine Handprothese berichtete.

Götz von Berlichingen (1480 – 1562)

Götz von Berlichingen ist wahrscheinlich einer der berühmtesten Prothesenträger der deutschen Geschichte. Dies ist vor allem Johann Wolfgang von Goethe zu verdanken, der dem Raubritter Ende des 18. Jahrhundert mit dem Theaterstück „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ ein literarisches Denkmal setzte. Bemerkenswert ist schon allein der Titel: Seine Prothese wird Teil seines Namens, verschmilzt untrennbar mit seinem Image. Götz von Berlichingen wurde um das Jahr 1480 geboren, in der Zeit des Niedergangs der ritterlichen Kultur und Lebensweise zum Ende des Mittelalters.

Götz von Berlichingen auf einer zeitgenössischen Darstellung (rechts), seine erste eiserne Hand (links).

Da durch die Einführung von Schusswaffen, Artillerie sowie großer Söldnerheere (Landsknechte) die Kriegskunst des Rittertums zunehmend aus der Zeit zu fallen schien, konzentrierte sich Götz vor allem auf sein Dasein als Raubritter. An zahlreichen Fehden nahm er teil und 1505 schließlich auch am Landshuter Erbfolgekrieg. Ausgerechnet das Geschoss einer Feldschlange, eine von ihm so verachtete leichte Kanone jener Zeit, schlug ihm bei der Belagerung Landshuts die rechte Hand ab. Götz ließ sich darauf hin von einem süddeutschen Dorfschmied eine eiserne Handprothese anfertigen. Durch ein ausgeklügeltes mechanisches Innenleben waren die Finger beweglich, wenn man sie durch die andere Hand in die richtige Position brachte. Diese Hand galt damals als technische Sensation und Götz wusste diese gekonnt zu inszenieren. Sie wurde zu seinem Markenzeichen als furchtloser Raubritter. Dabei konnte er mit seiner Handprothese sicherlich kein Schwert führen, wohl jedoch die Zügel des Pferdes halten und womöglich sogar schreiben.

Zweite eiserne Hand.

Einige Jahrzehnte später ließ sich Götz eine zweite eiserne Hand anfertigen, die heute die weitaus bekanntere ist. Sie funktionierte nach dem gleichen Prinzip wie die erste. Die Mechanik macht in jener Zeit große Fortschritte – die Stadt Nürnberg war damals ein Zentrum dieses Handwerks. Auch prägte die Mechanik das Verständnis der Anatomie des menschlichen Körpers. Gleich dem Innenleben der eisernen Hand oder einer Taschenuhr, die auch in jener Zeit erfunden wurde, stellte man sich vor, dass Organe und Gewebe des Menschen ähnliche Funktionen erfüllen würden wie Federn, Wellen und Zahnräder.

Friedrich II. von Hessen-Homburg (1633 – 1708)

Friedrich II. (1633 – 1708), späterer Landgraf des deutschen Kleinstaates Hessen-Homburg, trat in seiner Jugend in die Dienste des schwedischen Heeres. Da er sechs ältere Brüder hatte, machte er sich wenig Illusionen, später einmal selbst Landgraf werden zu können. Im Dienste des schwedischen König stieg er schnell zum Oberst auf und nahm an der Schlacht um Kopenhagen 1659 teil:

„Hier tötete ihm am 19./29. Jan. 1659 eine Geschützkugel das Pferd unterm Leibe und zerschmetterte ihm das linke Bein, sodass es nur noch an der großen Sehne hing. Trotz des furchtbaren Schmerzes besaß er noch Kraft genug, die Sehne selbst zu durchschneiden. Von einem künstlichen Bein mit silbernen Gelenken, welches er fortan trug, erhielt er den Beinamen ‚mit dem silbernen Bein‘. Nachdem er in Homburg seine Heilung abgewartet hatte, wobei er die Schmerzen der bereits brandig gewordenen Wunde durch Reiten und Jagen zu vergessen suchte, eilte er wieder nach Schweden.“

Wyß, Arthur: Friedrich II. mit dem silbernen Bein, Landgraf von Hessen-Homburg, erschienen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 7 (1878), S. 520–522, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Friedrich_II._(Landgraf_von_Hessen-Homburg)&oldid=2837915 (Version vom 7. März 2018, 11:42 Uhr UTC)

Friedrich II. im Portrait; Vormarsch schwedischer Truppen in Dänemark im 2. Nordischen Krieg (1655 – 1671) in einer zeitgenössischen Darstellung.

So berichtete Arthur Wyß in seiner „Allgemeinen Deutschen Biographie“ aus dem Jahr 1878 über Friedrich II. Diese Erzählung basiert u. a. auf dem Briefwechsel des späteren Landgrafen. Die Verwundung wird hier nicht als tragisches Erlebnis, dass eine lebenslange körperliche Einschränkung zu Folge hat beschrieben, sondern wird zur Heldengeschichte stilisiert: Friedrich von Hessen-Homburg – der unerschrockene Soldat, den nichts aus der Bahn werfen kann. Seine Prothese entspricht seinem gehobenen Stand: Sie besitzt ein silbernes Scharnier, das Kniegelenk ist also beweglich – ein luxuriöses Statussymbol in jener Zeit, in dem die Menschen der unteren Stände bei einer ähnlichen Verwundung sich wohl im besten Fall mit einem einfachen Holzbein begnügen mussten. Für Friedrich II. ist die Prothese mehr als nur ein Ersatzteil – sie wird sogar Teil seines Namens.

Alternative Nutzungskonzepte (1948/49)

Deutscher Wochenschaubeitrag (ca. 1948/49): 

„Die Grenzen, die nun fallen, hatten zu grotesken Zuständen geführt. Der Kriegsversehrte, der von der Militärpolizei dabei erwischt wurde, dass er in seiner Beinprothese Schmuggelgut mit sich führte, war nur ein Symptom dieser Situation.“ Ausschnitt aus einem SWR-Beitrag: Kurze Geschichte der Prothetik (Stand 23.12.2017). 

Alliierte Militärpolizei inspiziert das Innere der Beinprothese eines Kriegsversehrten.

Die Situation der Kriegsversehrten in der direkten Nachkriegszeit war prekär. Funktionale und bezahlbare Prothesen waren bei dem hohen Bedarf und der schlechten Versorgungslage kaum verfügbar. Selbst wenn ein Kriegsversehrter über eine passende Prothese verfügte, hatte er oftmals das Problem, seinen erlernten Beruft nicht mehr praktizieren zu können. In Folge des deutschen Zusammenbruchs und der bedingungslosen Kapitulation 1945 existierte auch keine nationale Institution mehr, die den Rentenansprüchen der Kriegsversehrten hätte nachkommen konnte.

Der Schmuggel galt in der Nachkriegszeit als lukratives Geschäft, denn Produkte wie Zigaretten aus dem Ausland waren gefragt und galten zum Teil als Ersatzwährung, da die Reichsmark zunehmend an Wert verlor. Im Rahmen dieser Gesamtsituation dürfte der oben erwähnte Kriegsversehrte den Entschluss gefasst haben, seine Prothese wirtschaftlich zu nutzen.

Der Mensch – Das Mängelwesen

Disability. Das lässt sich mit Unfähigkeit, Unvermögen oder eben auch Behinderung übersetzen. Ein Mensch wird in der Umsetzung seiner Ziele aufgehalten. Beim Thema Prothetik denkt man vielleicht als erstes daran, dass ein Mensch etwa durch sein verlorenes Bein nicht uneingeschränkt bewegungsfähig ist. Aber es sind auch alltägliche Dinge, die uns von der Umsetzung unserer Ziele abhalten können.

Ist es im Winter z.B. kalt, frieren wir. Der Mensch hat, anders als viele Säugetiere, kein wärmendes Fell. Er wird also in seinem Ziel, sich in der kalten Umgebung zu bewegen, behindert. Die Lösung: wärmende Kleidung. Ein „Organ“ wie das Fell, das der Mensch von Natur aus nicht besitzt, wird künstlich hergestellt und ermöglicht uns eine Bewegungsfreiheit unter Bedingungen, an denen wir sonst scheitern würden.

Der Philosoph Arnold Gehlen hat den Begriff des „Mängelwesens“ geprägt. Der Mensch ist laut ihm von Natur aus vielen Tieren unterlegen. Er besitzt keine besondere Kraft oder Widerstandsfähigkeit und ist körperlich und auch geistig nicht an seine Umgebung angepasst. Dieser Mangel wird durch die Kultur des Menschen ausgeglichen. Sie dient ihm als „zweite Natur“. Er schafft sich Bedingungen, die seine natürlichen Mängel ausgleichen. Gehlen ist heute infolge der Schlüsse, die er aus diesen Überlegungen zog und durch seine politischen Ansichten  umstritten. Dennoch macht diese Ansicht deutlich, dass der Mensch von seinen natürlichen Voraussetzungen her nicht überlebensfähig ist. Erst gewisse ergänzende Hilfsmittel (oder Prothesen) ermöglichen ihm dies. Zugespitzt könnte man sagen: Die Prothese um Mensch zu sein ist die Kultur.

Prothese und Werkzeug

Es ist charakteristisch für den Menschen, dass er seine Umwelt entsprechend seinen Bedürfnissen formt. Dazu dienen ihm verschiedene Werkzeuge. Was man alles unter dem Begriff „Werkzeug“ fassen will, ist nicht einheitlich zu bestimmen. Immer wieder findet sich jedoch die Aussage, das Werkzeug sei eine Verlängerung des menschlichen Armes. Diese künstliche Ergänzung des Organes Arm, erlaubt nun Handlungen, die zuvor nicht möglich waren. Diese Umschreibung legt bereits die enge Verwandtschaft zwischen Prothese und Werkzeug nahe. Ein Werkzeug kann daher auch als eine Art von Prothese betrachtet werden.

Nimmt man nun an, dass der Begriff „Werkzeug“ nicht nur ein Gerät wie Axt oder Messer beinhaltet, sondern das die Ergänzung des Körpers der entscheidende Punkt ist, so eröffnet sich eine noch viel weitere Perspektive. Im Grunde wird nun jedes von Menschen erschaffene Ding zu einem Werkzeug und somit zur Prothese.

Verschiedenste Vorrichtungen ermöglichen die Ausweitung menschlicher Fähigkeiten:

Brille:              Ergänzt die Sehkraft

Telefon:          Ergänzt das Gehör

Computer:      Ergänzt das Gedächtnis, etc.

Diese Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen. Es zeigt sich auch, des der Spruch vom Smartphone oder Taschenrechner als „Gehirnprothese“ mehr Wahrheit beinhaltet als man zunächst vermuten mag. Folgt man diesen Gedankengängen, so ist jeder Mensch ein Prothesenträger. Daher spricht Sigmund Freud auch vom „Menschen als Prothesengott“.

Der Mensch als Prothesengott

In seinem Buch: „Das Unbehagen in der Kultur“ spricht Sigmund Freud vom Menschen als Prothesengott. Es heißt dort etwa: „Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. Die Motoren stellen ihm riesige Kräfte zur Verfügung, die er wie seine Muskeln in beliebige Richtungen schicken kann, das Schiff und das Flugzeug machen, daß weder Wasser noch Luft seine Fortbewegung hindern können.“ (Freud: das Unbehagen in der Kultur. S. 57). Wiederum wird hier deutlich, wie sehr der Mensch durch seine künstlichen Hilfsmittel charakterisiert wird.

Folgt man diesem Gedanken weiter, so fragt man sich, wohin uns die immer raffinierteren technischen Möglichkeiten eines Tages bringen könnten. In letzter Konsequenz würde eine fortschreitende Loslösung vom Körper und seinen Disabilitys zu etwas wie der Abschaffung des Todes führen. So werden etwa regelmäßig Diskussionen geführt, ob es durch die immer leistungsfähigeren Speichermedien irgendwann möglich sein könnte, das gesamte Gedächtnis eines Menschen digital zu speichern.

Umgang mit Prothesen

Ist die klassische Prothese also nun ein bloßes Werkzeug oder ein Hilfsmittel wie es unzählige andere gibt? Das wiederum wäre wohl eine zu einfache Darstellung. Tatsächlich kann eine Prothese mehr leisten, als die Funktion eines Körperteils zu ersetzen oder zu erweitern. Sie beeinflusst die Wahrnehmung der Trägerin oder des Trägers in besonderer Weise. Das Beispiel Götz von Berlichingen, genauso wie viele andere hat gezeigt, dass eine Person mit ihrer Prothese identifiziert werden kann, der Mensch vielleicht sogar durch sie in den Hintergrund gerät.

Wie mit diesem Umstand umgegangen wird, kann sich sehr unterscheiden. Für manche Menschen ist es wichtig, ihre Prothese unauffällig zu tragen um möglichst „normal“ zu erscheinen. Andere gehen sehr offensiv damit um. Sie tragen ihre Prothese offen sind vielleicht auch Stolz auf dieses raffinierte Stück Technik oder ihre Individualität.

Heute treten diese beiden Pole umso deutlicher hervor, weil es durch die fortschreitende Technik inzwischen möglich geworden ist, beispielsweise einen ersetzten Arm praktisch unsichtbar zu machen. Seine Prothese offen zu tragen ist also umso mehr auch ein Statement. Das Internet bietet hier zudem zuvor nicht gekannte Möglichkeiten des Austauschs. Über räumliche Grenze hinweg können sich Menschen darüber unterhalten, wie sie mit ihrer Prothese umgehen. Daneben kommen aber auch jene zu Wort, die bewusst auf eine Prothese verzichten. Menschen die zeigen, dass sie ihren Alltag auch ohne den Ersatz eines Körperteils bewältigen. Für die/den Prothesenträgerin oder -träger bietet das Internet, genau wie für jeden Menschen, eine Fülle an Identifikationsmöglichkeiten.

Distanz Körper – Technik/Prothese

Die Verringerung der Distanz zwischen Körper und Technik, schreitet immer weiter voran. So macht es etwa die Sensortechnik inzwischen möglich, Signale aus einem Armstumpf in eine Prothese zu übertragen und so die Bewegung zu steuern. Insbesondere implantierte Prothesen haben aufgrund ihrer Unsichtbarkeit diesen Effekt. Aber auch ohne diese technischen Voraussetzungen verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was auf natürliche Weise zum Körper gehört, und dem, was hinzukommt.

Das Experiment mit der Gummihand hat inzwischen eine gewisse Bekanntheit erlangt. Es zeigt, wie sehr das empfinden von dem was zum Körper gehört und was nicht vom Gehirn abhängt. Der Versuchsaufbau lässt sich mit relativ einfachen Mitteln zu Hause durchführen.

Materialien: Tisch, großes Buch, Handtuch, Gummihand, weitere Person(Assistent)

Richard Wiseman schildert das Experimentwie folgt:

 „Sitzen Sie zunächst am Tisch und legen Sie ihre beiden Arme auf die Tischplatte. Dann bewegen Sie Ihren rechten Arm etwa 15cm nach rechts und legen die Gummihand an die Stelle, wo zuvor ihre rechte Hand war (das setzt voraus, dass die Handattrappe eine rechte Hand ist   – wenn nicht, nehmen Sie Ihre linke Hand für die Demonstration). Stellen Sie jetzt das Buch senkrecht auf die Tischplatte zwischen Ihren rechten Arm und die Gummihand, und stellen Sie sicher, dass es Ihnen keine Sicht auf Ihren rechten Arm erlaubt. Dann nehmen Sie das Handtuch, um den Zwischenraum zwischen Ihrer rechten Hand und der Gummihand zu verdecken […]. Bitten Sie schließlich ihren Freund, Ihnen gegenüber Platz zu nehmen, seine Zeigefinger auszustrecken und mit ihnen sowohl Ihre rechte Hand als auch die Gummihand gleichzeitig an derselben Stelle zu streicheln. Nach ungefähr einer Minute des Streichelns werden Sie anfangen, das Gefühl zu haben, dass die Gummihand tatsächlich ein Teil von Ihnen ist.“ (Wiseman: Paranormalität. Warum wir Dinge sehen, die es nicht gibt. S. 92ff.)

Wiseman erklärt das Phänomen, dass wie er im weiteren Verlauf beschreibt nicht nur mit einer Handattrappe sondern auch mit einem Tisch funktioniert, wie folgt:

„Während der Untersuchung ‚fühlt’ Ihr Gehirn, dass Ihre rechte Hand gestreichelt wird, ‚sieht’ eine Handattrappe oder einen hölzernen Tisch, die gleichzeitig gestreichelt werden, schließt, dass ‚Sie’ daher in der Handattrappe oder dem Tisch sein müssen und konstruiert ein Selbstgefühl, das mit dieser Vorstellung übereinstimmt.“

Es zeigt sich also, dass unser Gehirn äußerst anpassungsfähig ist wenn es um die Frage geht, was zu unserem Körper gehört und was nicht. Und dazu ist nicht einmal eine direkte Verbindung, geschweige denn über komplizierte Sensoren, nötig.

Wiseman verweist auf die Untersuchungen von Vilayanur Ramachandran, von dem auch die Variation des Experimentes mit dem Tisch stammt. Dieser führte auch Experimente mit Amputierten durch:

„Die Mehrheit der Menschen, denen ein Arm oder ein Bein amputiert wurde, spüren oft weiterhin qualvolle Schmerzen in ihren Phantomgliedern. Ramachandran fragte sich, ob dieser Schmerz teilweise daher rührte, dass ihr Gehirn desorientiert wurde, weil es weiterhin Bewegungssignale an das fehlende Körperglied schickte, aber dann die erwartete Bewegung nicht sah. Um diese Theorie zu testen, führten Ramachandran und seine Kollegen ein ungewöhnliches Experiment mit einer Gruppe von Amputierten durch, die einen Arm verloren hatten. Das Forscherteam setzte eine Kartonschachtel mit quadratischem Grundriss und 60cm Kantenlänge zusammen, die oben und vorne offen war. Dann stellten sie einen senkrechten Spiegel in die Mitte der Schachtel und teilten sie dadurch in zwei Hälften. Jede Versuchsperson wurde gebeten, ihren Arm in eine der Hälften zu legen und sich dann so hinzusetzen, dass sie das Spiegelbild ihres Armes sehen konnten. Aus der Perspektive der Amputierten sah es so aus, als ob er sowohl seinen wirklichen als auch seinen fehlenden Arm sehen würde. Der Amputierte wurde dann gebeten, gleichzeitig mit beiden Händen eine einfache Bewegung zu machen, wie z.B. eine Faust zu ballen oder mit den Fingern zu zappeln. Kurz, Ramachandrans Schachtel erzeugte die Illusion der Bewegung in den fehlenden Gliedmaßen der Versuchspersonen. Erstaunlicherweise berichtete die Mehrheit der Teilnehmer über einen Rückgang der Schmerzen in ihrem Phantomglied, so dass einige sogar fragten, ob sie die Schachtel mit nach Hause nehmen dürften.“
(Wiseman: Paranormalität, S. 95ff.)

Das Experiment zeigt wiederum, wie schnell sich das Gehirn täuschen lässt. Die Distanz zwischen dem was zum Körper gehört und dem was nicht dazugehört ist also unter Umständen sehr gering oder kann sich ganz auflösen. Werden die sensorischen Informationen entsprechend beeinflusst, so kann auch plötzlich eine Gummihand zum Körper gehören. Vielleicht erklärt das auch ein Stück weit den geradezu körperlichen Schmerz, den mancher Autobesitzer empfindet, wenn er einen Kratzer im Lack entdeckt.

aus Mummenhoff, Ernst: Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit, Jena 1924, S.37.

Literatur

  • Baykal, Hakan: Der Mann mit dem Holzbein, online in: http://www.bridging-eurasia.org/sites/default/files/projectarticle/documents/Baykal%20-%20Der%20Mann%20mit%20dem%20Holzbein.pdf, April 2003 (Stand: 18.11.2017).
  • Binder et al.: Prosthetics in antiquity. An early medieval wearer of a foot prosthesis (6th century AD) from Hemmaberg/Austria, online in: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1879981715300231, 2015 (Stand: 18.11.2017).
  • Finch, Jacqueline: The ancient origins of prosthetic medicine, online in: http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(11)60190-6/fulltext, 2011 (Stand: 06.12.2017).
  • Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturhistorische Schriften. Frankfurt am Main 1994.
  • Gehlen, Arnold: Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main 2016.
  • Harrasser, Karin: Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin 2016.
  • Hefti, Fritz: Kinderorthopädie in der Praxis, Berlin 2015, S. 25.
  • Kienitz, Sabine: Prothesen-Körper. Anmerkungen zu einer kulturwissenschaftlichen Technikforschung, erschienen in: Zeitschrift für Volkskunde, Münster 2010, Band 106, Heft 2, S. 136 – 162.
  • Liebhard Löffler: Der Ersatz für die obere Extremität: die Entwicklung von den ersten Zeugnissen bis heute, Stuttgart 1984.
  • Scholl, Frauke: Götz von Berlichingen. Für jede Fehde zu haben, erschienen in: G/Geschichte, 5/2015, online in: https://www.g-geschichte.de/plus/berlichingen/, 24.03.2016 (Stand: 13.03.2018).
  • Rößiger, Susanne (Hrsg.): Körper Geschichten. Eine Sammlung zur Prothetik, Dresden 2016.
  • Wahlig, Helmut: Die Geschichte der Biomaterialien als Wirkstoffträger, Mainz 1986, S. 11.
  • Wiseman, Richard: Paranormalität. Warum wir Dinge sehen, die es nicht gibt, Frankfurt am Main 2012.

Autoren: Johannes Grobe und Malte Tegge