Das St. Jürgen-Asyl um 1900

Einführungstext: Dis/ability History und Legitimation des Themas

Positionierung Dis/ability History: 

Die Dis/ability History ist noch ein recht junger Zweig der mediävistischen Forschung. Hervorgegangen ist dieser Zweig aus dem angelsächsischen Raum, in dem die Dis/ability Studies ab den 1980er Jahren betrieben werden. Um uns der internationalen Forschung in diesen Bereich anzuschließen, haben wir uns für unsere Blogseiten ebenfalls für die Schreibweise der „Dis/ability History“ entschieden. Wir möchten uns der Wissenschaft und dem allgemeinen Kontext in diesem Zweig anschließen und mögliche Verwechslungen ausschließen.

Bei der Forschung zur Dis/ability History handelt es sich um eine Querschnittsdisziplin, die den Fokus auf den Menschen mit „Behinderung“ (disability) bzw. mit „Beeinträchtigung“ legt. Behinderung bzw. Beeinträchtigung unterliegt dabei nicht einer festen Kategorie, vielmehr handelt es sich um einen unscharfen Begriff, der im Laufe der Geschichte, bedingt durch die Gesellschaft, immer wieder einem Wandel unterworfen wurde. „Behinderung“ ist eine naturalisierte Differenzierungskategorie und nicht eine natürliche Gegebenheit, ein soziales Konstrukt ist daher immer maßgeblich und darf nicht außeracht gelassen werden, wenn man beeinträchtigte Menschen in der Geschichte betrachtet. Dabei ist aber auch zu bedenken, dass Behinderungs- und Beeinträchtigungskategorien und die Wahrnehmung dieser, von soziokulturellen Bedingungen abhängen und nicht ausschließlich vom historischen Kontext. Dies wird auch deutlich auf der Partnerseite zur Patientenakte der Hedwig D., hier spielen ebenfalls soziokulturelle Zuschreibungen, Krankheitsbilder- und Vorstellung der damaligen Zeit eine große Rolle.

Die Bedingungen die eine Versehrtheit und Unversehrtheit generieren, werden durch den menschlichen Körper zum Ausdruck gebracht. Der Körper steht somit im Mittelpunkt und durch diesen wird eine Beeinträchtigung ausgedrückt und von anderen Menschen wahrgenommen.  Es spielt dabei keine Rolle ob es sich um eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung handelt.

Legitimation:

Das St. Jürgen-Asyl dient hier als ein regionales Beispiel einer Anstalt für Geistes- und Nervenkranke, umgangssprachlich auch als Irrenanstalt bezeichnet. In diesem Blog geht es um die Darstellung des Umgangs und der Behandlung von Patienten.

Die Nervenklinik in Bremen-Osterholz ist auch heute noch ein gesellschaftlich verankerter Bezugspunkt in Bremen. So lautet eine Bremer Redewendung „Er/Sie gehört nach Ellen“, wenn der Sprecher jemanden für „Irre“ hält. Ellen ist der ehemalige Name des Gebiets auf dem die Klinik sich befindet. Allerdings zeigt diese Redewendung auch wie tief der Gedanke verwurzelt ist, dass eine Person mit einer psychischen Krankheit oder auch nur ungewöhnlichen Verhaltensweisen zur Behandlung von der Gesellschaft separiert werden müsse. In der heutigen Leistungsgesellschaft sind psychische Krankheiten, wie Depressionen und Burn-out ein großes Thema. Personen mit solchen Beschwerden werden auch heute noch mit einem Stigma versehen und sind mit negativen stereotypen Zuweisungen konfrontiert.

Damit dient das St. Jürgen-Asyl als ein historisches Beispiel dafür, wie die Gesellschaft aus psychischen Erkrankungen oder einer Andersartigkeit eine Dis/ability für die von ihr ausgeschlossenen Personen macht.

Zeitstrahl Bremer Behandlungsorte

Das klassische Familienbild um 1900

Das klassische Familienbild des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich stark von denen der heutigen Gesellschaft. Durch den Einfluss der Industrialisierung entstand ein neues bürgerliches Familienbild gegen Ende des 19. Jahrhunderts.  Die Familie wurde strikt von der Öffentlichkeit getrennt und unterlag einer geschlechtsspezifischen Rollenzuteilung. Die Mutter war für den familiären Bereich zuständig, darunter fielen der Haushalt und die Erziehung der Kinder. Wohingegen der Vater das außerhäusliche Geschehen übernahm, als Ernährer fungierte, womit ihm auch die Entscheidungsgewalt und die Verwaltung des Vermögens der Familie zugesprochen wurde. Dies zeigte sich zum Beispiel in dem sogenannten „Stichentscheid“, welcher besagt, dass der Vater bei Unstimmigkeiten bezüglich des Aufenthaltsortes des Kindes das letzte Wort zugesprochen wird. Innerhalb der familiären Verhältnisse haben die Kinder vor allem Gehorsam gegenüber den Eltern zu sein. Erst mit der Gründung einer eigenen Familie oder der Ausübung eines Berufs verließen die Kinder ihr Elternhaus. Je nach gesellschaftlichen Stand mussten die Frauen und Kinder der Arbeiterklasse auch als Arbeitskräfte innerhalb oder außerhalb der Familie tätig werden.

Ausschlaggebend für die Verbesserung der Lebensumstände der Familien zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind maßgeblich die steigende Lebenserwartung, die besseren hygienischen Maßnahmen und in Folge dessen auch der Rückgang der Säuglingssterblichkeit. Die durchschnittliche Kinderzahl in Ehen vor 1905 betrug insgesamt 4,67 Kinder. Jedoch gab es hier Unterschiede in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Nach 1905 sank die durchschnittliche Kinderanzahl pro Familie auf 3,58 Kinder.

Kommentar zum Video

Das Erklärvideo zum „St. Jürgen-Asyl“, soll einen Einstieg in die Thematik der psychischen Krankheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichen. Der Zuschauer bekommt durch das Video einen ersten Überblick über die Entstehung des Asyls, angefangen mit der Standortsuche bis zur architektonischen Umsetzung der Anstalt und den für die damaligen Verhältnisse modernen Therapieformen.

Das Video dient als erste Annäherung an die Thematik der Psychiatriegeschichte im 20. Jahrhundert in Hinblick auf die geschichtliche Aufarbeitung in der Dis/ability History. Das Material zum Video besteht zum großen Teil aus Realaufnahmen, der Parkanlage des heutigen Krankenhauses Ost in Bremen. Die meisten Gebäude sind noch heute erhalten und der Zuschauer kann durch die Aufnahmen einen ersten Eindruck von den Gebäuden und dem Konzept des St. Jürgen-Asyls gewinnen. Weiterhin wurden für das Video historische Fotos aus dem Archiv des Krankenhaus-Museum Bremen verwendet, hierdurch soll für den Zuschauer der Eindruck von Historizität geschaffen werden. Die Bilder dienen der Vermittlung, eines Einblicks in eine vergangene Zeit, die Zuschauer haben so die Möglichkeit eine empathische Verbindung zu den Menschen auf den Bildern aufzubauen.

Professor Dr. Anton Delbrück

                                   Professor Dr. Anton Delbrück übernahm 1898 von Friedrich Scholz, bekannt für seinen Einsatz für humanere Behandlungsbedingungen, die Direktion der Irrenabteilung, die der Krankenanstalt in der St. Jürgen Straße angegliedert war. Man übertrug ihm die Aufgabe eine neue Anstalt zu planen und zu bauen. Er galt als Befürworter der Arbeitstherapie, welche als wichtigster Teil der Behandlung im St. Jürgen-Asyl zu betrachten war. Für ihn war die Behandlung von Alkoholkranken ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt, weshalb er ein völliges Alkoholverbot auf dem gesamten Gelände durchsetzte.

Professor Dr. Friedrich Karl Walter

                                   Professor Dr. Friedrich Karl Walter übernahm die Anstaltsleitung im April 1927 und galt als ein Vertreter der biologischen Richtung der Psychiatrie. Bereits vor dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sprach er sich für die Zwangssterilisation aus. Wie bei dem Vortrag vom 28.3.1933: „Was ist unwertes Leben vom Standpunkt des Rassenhygienikers aus gesehen?“, zu erkennen ist, der als prägend auf diesem Gebiet galt.

Die Patienten

Von Beginn an war das St. Jürgen-Asyl in Bremen Ellen überbelegt. Diese Überbelegung hielt bis 1914 und stieg weiter an. Erst durch kriegsbedingte Ursachen, wie zum Beispiel im Jahr 1917 als 38% aller Patienten an den Folgen der mangelhaften Ernährung starben, brach der Anstieg der Belegungszahlen im St. Jürgen-Asyl ab.

Die Patienten wurden in verschiedene Pflegestufen eingeteilt, die meisten Patienten gehörten der „Gewöhnlichen Pflege“ an. Diese wurde durch die Krankenkasse bezahlt. Ein geringerer Teil der Patienten, konnte sich die „private Pflege“ leisten. Bei der „privaten Pflege“ wurde den Patienten ein gehobener Lebensstandard innerhalb der Anstalt ermöglicht, der aber selbst bezahlt werden musste.

                               

Die Aufnahme der Patienten

Zur Aufnahme im St. Jürgen-Asyl benötigten die Patienten:

  1. Ein Zeugnis über das Bestehen einer Geistesstörung mit dem Anlass zur Anstaltsbehandlung
  2. Die Übernahme der Kosten entweder durch die Angehörigen oder einer Kasse
  3. Die Angaben der Personalien des Kranken

Zur Aufnahme gehörten ebenfalls folgende Untersuchungen:

  1. Untersuchung des körperlichen Zustandes
  2. Beantwortung eines Fragebogens zur Ermittlung der sittlichen Gesinnung und über die Schulkenntnisse, sowie das Rechenvermögen
  3. Weitere Tests, um den geistigen Zustand zu ermitteln

 

Dateien zum Download:

Literatur:

  • Gerda Engelbracht: Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost Bremer Psychiatriegeschichte 1945-1977, Bremen 2004, Edition Temmen.

Informationen:

 

Autorinnen: Anna-Sophie Koschany, Mona Mathiske und Lea Waldhorst