Helen Keller wurde 1880 in Alabama geboren. Ihr Vater hatte als Südstaaten-Offizier im amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft. Später gab er eine Zeitung heraus. Als Helen 19 Monate alt war, litt sie an hohem Fieber. Als Folge der Krankheit büße sie sowohl ihr Seh- als auch ihr Hörvermögen ein. Fortan war sie blind und taub. Die Kommunikation mit ihren Eltern und dem Rest ihrer Umwelt fiel Helen sehr schwer. Sie konnte nicht zu anderen sprechen und hörte nicht, was andere sprachen, auch wenn sie bald ein feines Gefühl für die Schwingungen und Erschütterungen entwickelte, die alle Bewegungen mit sich bringen.
Die Eltern wandten sich in ihrer Not schließlich an Alexander Graham Bell (1847-1922). Bell, der heute vor allem als Erfinder des ersten erfolgreichen Telefon-Modells bekannt ist, war lange auch als Sprachtherapeut und Gehörlosenlehrer tätig. Der Familie wurde für die kleine Helen eine selbst sehgeschädigte Lehrerin namens Anne Sullivan vermittelt. Die Eltern zeigten sich zunächst skeptisch, weil Miss Sullivan Helen mit großer Strenge behandelte. Nach einer Weile gelang ihr dann aber der große Durchbruch. Sie brachte Helen erfolgreich das Fingeralphabet bei, das dem Mädchen endlich half, sich gegenüber anderen auszudrücken. Die große Hürde bestand darin, Helen verstehen zu lassen, dass die einzelnen Zeichen sich zu Worten zusammengesetzt auf reale Dinge und Sachverhalte in ihrer Umwelt beziehen konnten. Diese Verständnisleistung erbrachte Helen mit Anne Sullivans Hilfe an einer Wasserpumpe: Sie spürte den Wasserschwall und Anne Sullivan buchstabierte ihr das Wort „Water“ in die Hand. Nachdem Helen die Lektion einmal verstanden hatte, war der Damm gebrochen. Sie wollte die Bezeichnungen für alles und jeden in Erfahriung bringen und ihre Lehrerin brachte sie ihr bei. Sich selbst stellte sie Helen als „Teacher“ vor.
Von diesem Tag sollte Helen Keller später als ihrem „Seelengeburtstag“ schreiben.
Sie lernte fortan mit beeindruckender Geschwindigkeit. Mit Hilfe von Schablonen brachte man ihr das Schreiben bei. Später lernte sie sogar das Sprechen, doch blieb es für Außenstehende immer schwierig, sie auch zu verstehen. Als junge Erwachsene besuchte sie das Frauencollege Radclliffe und erwarb dort einen Abschluss „cum laude“.
Medienphänomen und Schriftstellerin
Die außerordentlichen Erfolge in Helen Kellers Entwicklung machten sie bald zu einer internationalen Berühmtheit. Schon vor ihr hatte mit Laura Bridgman eine andere Amerikanerin als erster taubblinder Mensch zur Sprache gefunden. Bridgman unterrichtete später an einer Blindenschule und lehrte dort auch Helens spätere Mentorin Anne Sullivan. Helen Kellers Leistungen waren jedoch noch spektakulärer und die Presse zeigte sich schnell interessiert an dem Wunderkind aus Alabama.
Für Helen Keller war das große Interesse an ihrer Person und Segen und Fluch zugleich. Einerseits konnte sie ihre Bekanntheit dazu nutzen, sich Gehör zu verschaffen und sich als erwachsene Frau ein Einkommen zu sichern. Andererseits frustrierte es sie, dass sie nur in der Rolle der taubblinden Ausnahmeerscheinung gefragt war. Zeit ihres Lebens schrieb sie eine ganze Reihe von Büchern über ihre Erfahrungen und absolvierte zahlreiche öffentliche Auftritte. Bei ihren Reisen durch Amerika und rund um den Globus traf sie viele prominente Zeitgenossen, darunter mehrere Präsidenten, aber auch Filmstars wie Charlie Chaplin oder die italienische Pädagogin Maria Montessori. Eine besondere Freundschaft verband Helen Keller mit dem Schriftsteller Samuel Clemens, besser bekannt als Mark Twain (1835 – 1910).
Helens literarisches Talent hatte sich schon früh gezeigt. Im Alter von 11 Jahren verfasste sie eine Geschichte mit dem Titel „The Frost King“, die ihr nach der Veröffentlichung viel Ärger bereitete. Offenbar hatte Helen unbewusst die Geschichte einer anderen Autorin übernommen und wurde beschuldigt, ein Plagiat vorgelegt zu haben. Helen behauptete, sich nicht an die besagte Geschichte erinnern zu können und der Fall sorgt bis heute für viele Spekulationen. Mit Anfang 20 veröffentlichte Helen Keller ihre erste Autobiographie „The Story of my Life“. Es folgten weitere Bücher, darunter auch eines über ihre Lehrerin Anne Sullivan. In der Schrift „My Religion“ setzte sie sich mit dem schwedischen Mystiker Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) auseinander, dessen Lehren sie als gläubige Christin anhing.
Helen Keller 1911 in dem Artikel „The Unemployed“
„Wir sind es gewohnt, die arbeitslosen Tauben und Blinden als Opfer ihrer Gebrechen zu betrachten. Das bedeutet, wir nehmen an, wenn nur auf wundersame Weise ihr Seh- und Hörvermögen wiederhergestellt werden könnte, so würden sie Arbeit finden. Ich möchte hingegen den Lesern dieses Artikels vorschlagen, die Arbeitslosigkeit der Blinden lediglich als Teil eines größeren Problems zu verstehen.“
Die Radikale: Helen Keller, Behinderung und Politik
In ihrer Wissbegier eignete sich Helen Keller mit Hilfe von Anne Sullivan schließlich eine umfassende Bildung an. Sie interessierte sich auch für Politik und nahm dabei Positionen ein, die ihre konservative Südstaaten-Familie kaum akzeptieren konnte. So ergriff sie bald Partei für die Emanzipation der Schwarzen, die nur ein paar Jahrzehnte vor ihrer Geburt noch versklavt gewesen waren und in ihrer Heimat weiterhin mit rassistischer Gewalt und Unterdrückung leben mussten.
Als Helen Keller sich schließlich öffentlich zum Sozialismus bekannte, fiel auch die Reaktion der ihr sonst wohlgesonnenen Presse ablehend aus. Davon unbeirrt veröffentlichte sie immer wieder politische Artikel. Sie sympathisierte mit der Sozialistischen Partei unter Führung des charismatischen Eugene V. Debs und mit den militanten „Wobblies“, den Mitgliedern der Gewerkschaft „Industrial Workers of the World“. Im Gegensatz zu vielen gemäßgten amerikanischen Sozialisten glaubte Helen Keller nicht an die Beseitigung des Kapitalismus durch Reformen und begrüßte 1917 ausdrücklich die Oktoberrevolution. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der organisierten Arbeiterbewegung widmete sie sich der Politik zumindest in der Öffentlichkeit immer seltener. Ihren Überzeugungen blieb sie allerdings noch lange treu. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam Helen Keller zu der Erkenntnis, dass der Sozialismus in der Sowjetunion gescheitert war. Ihre Bewunderung galt ab diesem Zeitpunkt eher Figuren der Ditten Welt wie Jawaharlal Nehru, der 1947 sein Amt als erster Ministerpräident eines unabhängigen Indiens antrat.
In ihrer sozialistischen Periode setzte sich Helen Keller nicht nur mit allgemeinen politischen Fragen auseinander. Als Taubblinde war Behinderung auch hier für sie als Thema gesetzt. Sie erkannte, dass der Industriekapitalismus und die Armut wesentlich für die schlechten Bedingungen verantwortlich waren, in denen viele Blinde und andere Behinderte leben mussten. Die schlechten Arbeitsbedingungen waren dabei einer der Gründe für Unfälle, bei denen sich viele Menschen Verletzungen zuzogen. Die Arbeitsunfähigkeit, die aus Behinderung resultieren konnte, war ein schweres Schicksal, denn es existierte kaum ein soziales Netz, um diese Leute aufzufangen.
Literaturhinweise
Die American Foundation for the Blind verwaltet bis heute den Nachlass Helen Kellers und wartet auf ihrer Website mit vielen Materialien auf: https://www.afb.org/default.aspx
Helen Kellers wichtigste Werke im Überblick:
- The Story of my life (1903)
- Optimism (1903)
- The World I live in (1908)
- My Religion (1929)
- Midstream: My later life (1930)
- Teacher: Anne Sullivan Macy (1955)
Helen Kellers politische Schriftensind versammelt in:
- Foner, Philip Sheldon (Hrsg) : Helen Keller: Her socialist years. New York, 1967.
Bücher über Helen Keller:
- Brooks, Van Wyck: Helen Keller: Sketch for a portrait. New York, 1956.
- Bergermann, Ulrike (Hrsg.): Disability trouble: Ästhetik und Bildpolitik bei Helen Keller. Berlin, 2013.
- Herrmann, Dorothy: Helen Keller: A Life. New York, 1998.
- Lash, Joseph P. : Helen and Teacher: The Story of Helen Keller and Anne Sullivan Macy, New York, 1980.
- Nielsen, Kim E.: The radical lives of Helen Keller. New York, 2004.
- Rosenthal, Keith: The politics of Helen Keller: Socialism and disability. In: International socialist review Issue 96 (2015). Online abrufbar unter: https://isreview.org/issue/96/politics-helen-keller
Autorinnen und Autoren: Mareike Rathke, Valeria Stelle, Tobias Thölken