Interview mit Karl-Heinz Wehkamp
Greta Blotevogel und Nicolas Haslbeck: Wie sind Sie von Frankfurt nach Bremen gekommen?
Prof. Dr. Dr. med. Karl-Heinz Wehkamp: Ich habe schlicht und einfach aus der Zeitung erfahren, dass hier ein Hochschulreform Modell geplant ist, dass sich von der traditionellen Universität unterschied, aber auch von den Kernelementen des geplanten Hochschulrahmengesetzes. Und natürlich war auch schon damals bekannt, dass die Universität Bremen ein Magnet für die sogenannten linken Intellektuellen war und das fand ich einfach interessant. Ich habe mich auf eine der 15 Tutorenstellen beworben, die ich dann auch bekommen habe.
Außerdem war mir Frankfurt auch teilweise zu stressig geworden, weil einfach zu viel Blut geflossen ist. Es war ja jedes Wochenende irgendwo eine hektische Demo, eine Besetzung oder ein Polizeieinsatz auf dem Campus. Auch haben einige der Menschen aus meinem Bekanntenkreis sich in politische Richtungen entwickelt, die ich nicht unterstützen konnte.
Als Sie dann 1971 anfingen in Bremen zu studieren, sind Sie auch direkt in den ASTA gegangen, richtig?
Ich wollte da gar nicht rein (lacht). Als Frankfurter Soziologe mit meiner kritischen Theorie war ich überhaupt nicht kompatibel mit den sogenannten ML Gruppen: Marx ja, Lenin nein und [Deutsche Kommunistische] Partei auch nicht.
Ich kam durch Zufall in eine Wahlkampfveranstaltung, wo sich die Leute vom [Marxistischen Studenten Bund] Spartakus mit den Leuten von den ML Gruppen stritten. Ich fand irgendwie, dass die das nicht gut genug gemacht haben und habe mich dann dazu gemischt. Nachdem ich dann aus dieser Veranstaltung raus gegangen bin, hat mich die Planerin Anke Nevermann gefragt, ob sie mich nicht auf die Liste der Wahlen zum Studentenparlament setzen könne. Als ich drei Tage später wiederkam war ich plötzlich AStA-Vorsitzender geworden und Teil einer Hochschulgruppe, die ich weitgehend, aber nie zu 100% unterstützen konnte.
Auf den Flugblättern aus den 70er Jahren kann man häufig über die herrschende Klasse und die kapitalistische Produktionsweise lesen. Wie viel Marx wurde damals denn tatsächlich gelesen?
Es wurde schon viel Marx gelesen. Vor allem hat es die Diskurssprache geprägt. Es ging immer um Klassenkampf, um Genossen und den Imperialismus. Wir waren damals der Überzeugung, dass wir damit die Welt verstehen und zum Guten verändern können. Es war die Idee des „Kampfes zweier Linien“. Also die Marxsche Theorie ergänzt mit Lenin und Mao.
Wie haben Sie die Atmosphäre zwischen den Hochschulgruppen wahrgenommen? Sie waren ja selbst Mitglied des KSB.
Es war eine starke emotionale Verbundenheit untereinander. Die Leute der jeweiligen Lager hatten dort ihre Heimat. Wir haben morgens um sechs Uhr Flugblätter verteilt, nachts Plakate geklebt und immer viel diskutiert. Es war ja immer was los.
Dazu kommt die internationale Solidarität dazu. Man war immer zum Beispiel über Mosambik, Angola und Palästina informiert, oder glaubte informiert zu sein. Hat dabei aber immer nur oberflächliches Wissen gehabt, aber man wollte und musste solidarisch sein, mit den sogenannten Befreiungsbewegungen oder gegen bestimmte Projekte.
Ich habe auch Grausamkeiten erlebt. Ein Kommilitone von mir, den ich sehr schätze, meinte, die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) unterstützen zu müssen und ist dann nach Palästina. Er ist ein viertel Jahr später erschossen worden, weil er angeblich ein Spion wäre. Das war er mit Sicherheit nicht. Danach habe ich mir langsam Gedanken über den fatalen Moralismus dieser Bewegung gemacht.
Es wurden auch keine Kontakte zwischen den Gruppen gepflegt. Das waren verschiedene Welten. Die Debatten waren politisch polarisiert und teilweise unangenehm und feindselig. In meiner Truppe wurde gesagt: Wenn die vom Spartakus mal an der Macht wären, würden die uns an die Wand stellen. Das war so ein Gefühl in den Hochschulgruppen, obwohl wir gemeinsam auch manche Aktionen gemacht haben. Zum Beispiel gegen die Berufsverbote wurde gemeinsam demonstriert.
Eine Liberale Atmosphäre war es jedoch nicht, eine tolerante auch nicht unbedingt. Also bestimmte Werte wurden nicht akzeptiert. Die kommunistischen Gruppen hatten viel repressives Potenzial nach Innen. Das hatte sich hier in Bremen auch entwickelt.
Konnten Sie die Entwicklungen der zwei Lager nur zwischen den Hochschulgruppen wahrnehmen?
Die Entwicklungen haben sich dann doch sehr zugespitzt, sodass die ersten Jahre von den zwei politischen Lagern geprägt waren. Und das nicht nur in der Studentenschaft, sondern auch in der Hochschullehrerschaft und im Dienstleistungssektor. Dieser ewige Konflikt zwischen den „Ostblock-Kommunisten“ und denen die sich mit Mao sympathisierten und teilweise anarchistische Züge hatten, hat sich lange gehalten. Auch der SPD nahe Studentenbund (SHB) hat sich aufgespalten. Einmal in die sozialistische Fraktion (SHB/SF), die mit den Maoisten gingen, oder den „Chaoten“, wie sie uns immer genannt haben und der größere Teil, der mit dem Spartakus und der DKP ging. Auch die Hochschullehrer hatten die Spaltungen.
Es gab natürlich auch Menschen, die sich nicht richtig zuordnen konnten. Denen ging es zum Teil sehr schlecht. Es gab dann auch einen Selbstmord eines Hochschullehrers, der sich verbrannt hatte. Das war ganz furchtbar.
Und später, das war auch ein Grund weshalb ich nochmal Medizin studiert habe, ist bekannt geworden, dass die Uni von der Stasi gut kontrolliert worden ist. Das selbst Hochschullehrer dabei waren uns zu melden und die auffälligen Leute von der nicht-DKP-Seite, spätestens wenn sie nach Berlin fuhren, erfahren haben, dass sie nicht reinkommen und auf der Liste standen. Ich habe mein Examen gemacht und ein Promotionsstipendium bekommen, das war alles von den Noten her sehr gut. Dann wurde ich aber in einigen Gremien, die DDR-nahe waren, schon als wissenschaftlicher Arbeiter wegen mangelnder Qualifikationen abgelehnt. Dann habe ich mich an zwei neuen Unis beworben und bin beide Male in der letzen Runde rausgeflogen.
Man hat diskutiert und gestritten auf unendlich vielen Versammlungen: auf Vollversammlungen, akademischer Senat, Studiengangsausschuss oder Berufungskommission. Ich habe mein Tutorium zwar durchgezogen, aber ich kann mich – das mag vielleicht peinlich sein – an keine einzige Lehrveranstaltung erinnern, wo ich mehr als zweimal gewesen bin. Es ist auch immer viel ausgefallen. Ich kann mich auch an kein Projekt erinnern, was wir ja so offiziell verteidigt haben. Das Projekt[studium] war eigentlich das Ganze. Die Uni war das Projekt.
Waren die Studierenden damals politischer als die Studierenden heute? Was ist Ihr Eindruck?
Ich war vor ein paar Jahren auf dem Unicampus und habe mitbekommen, wie zwei Studenten vor mir ein Gespräch über die diversen Arten Kaffee zu Kochen führten. Da musste ich ein wenig schmunzeln, denn solche Diskussionen hätten wir damals bestimmt nicht geführt.
Als sie damals die Kaffeepreise um 15 Pfennig erhöhten, wurde eine riesige Demo gegen den bösen Kapitalismus gemacht, gegen den bösen Charakter des Klassenfeindes. Daran das fest zu machen, war im Grunde total idiotisch. Es wurde zum Teil mit einem ungeheuren Ernst und mit wenig Humor ausgetragen.
Humorlos war es. Trotzdem hatte es ja was. Es war ein gemeinsames Bemühen irgendwo die Welt politisch zu verstehen und es gab genügend inakzeptable politische Verhältnisse auf der Welt, wo es sich lohnte sie zu kritisieren. Nur haben wir niemals unsere Wissensgrundlage infrage gestellt. Ich habe dann später gelesen, dass in Maos Kampagnen Millionen Menschen verhungert sind, das wusste ja keiner. Viele die beim Spartakus waren haben auch gedacht, es sei in Russland besser oder in der DDR.
Warum ist das Bremer Modell gescheitert?
Schwierige Frage… Viele haben sich damit begnügt „links“ oder „kritisch“ zu sein, aber nicht über die Möglichkeiten weder materiell, noch intellektuell wirklich die Zusammenhänge zwischen der Gesellschaftsstruktur und Wissensstruktur zu erforschen und einzugreifen. Man hätte dazu vielleicht mehr philosophische Basis und Wissenssoziologie gebraucht. Doch auf die Ebene ist es erst gar nicht gekommen.
Wie blicken sie auf Ihre Zeit an der Universität Bremen zurück?
Die Bremer Uni war schon interessant damals, ich möchte die Zeit auch nicht missen. Ich habe mich oft gefragt, was ich an der Universität gelernt habe. Ich würde heute sagen, dass ich gelernt habe strukturiert zu Diskutieren, Protokolle zu schreiben und Tagesordnungen durchzuziehen. Von dem wissenschaftlichen Stoff habe ich überwiegend von Frankfurt gezehrt, außer, dass ich noch mehr Marx gelesen habe.
Peinlich ist mir im Nachhinein, wie wir in politischer Hinsicht oft waren. Zum Beispiel in Bezug auf Mao oder die sogenannten Befreiungsbewegungen in der Welt. Liberalität stand nicht hoch im Kurs. Moralismus war nicht nur in meiner Truppe weit verbreitet. Das betrifft freilich nicht nur die Situation an der jungen Bremer Uni, das war ja ein allgemeines Phänomen der Studentenbewegung. Über Vieles andere bin ich aber auch froh. Dazu gehört insbesondere eine kritische Haltung gegenüber den Wissenschaften, die sich auch auf die Methodologie und auf die Felder ihrer Verwertung bezogen.
Herr Wehkamp, wir bedanken uns ganz herzlich bei Ihnen für das Gespräch!
„Das Projekt war eigentlich das Ganze. Die Uni war das Projekt“
Karl-Heinz Wehkamp
Prof. Dr. Dr. med. Karl-Heinz Wehkamp spricht mit uns über seine Zeit an der Universität Bremen, über die politische Polarisierung in den Statusgruppen und wie er rückblickend die Stimmung zwischen den Hochschulgruppen als Sprecher des ersten AStA (“Rote Liste”) wahrgenommen hat.
Wehkamp studierte zunächst Soziologie und Philosophie in Frankfurt/Main und ist dann 1971 durch eine Tutorenstelle an die Universität Bremen gekommen, an der er Sozialwissenschaften studierte.
Er ist Diplom-Soziologe, Facharzt für Frauenheilkunde und seit Jahren als Ethikberater im Gesundheitswesen tätig.