Beitrag 2 zu RV02 (Welt-)Gesellschaftliche Veränderungen, Migration und die Reaktion von Schule – ein Blick auf schulpolitische Hintergründe, Strukturen und Konzepte

1. Was ist gemeint mit einer ’nationalen Orientierung des Bildungssystems‘?
Woran kann das festgemacht werden im Hinblick auf seine Zielgruppen,
Inhalte/Fächer, Strukturen? (denken Sie hier auch an ihre eigenen Erfahrungen
aus der Schulzeit zurück)
2. Was nehmen Sie aus dem öffentlichen Diskurs über ‚Migration als
Herausforderung für die Schule‘ und über sog. ‚Schüler mit
Migrationshintergrund‘ als Informationen wahr und welche (neuen?)
Perspektiven hat die Vorlesung dazu für Sie eröffnet?
3. Inwiefern kann das folgende Beispiel (siehe unten) von Betül
(Interviewausschnitt aus einer qualitativen Studie von Martina Weber) als
Ausdruck von ‚DoingCulture‘ durch Lehrer*innenhandeln im Unterricht
herangezogen werden? Erinnern Sie sich aus ihrer eigenen Schulzeit an ein
Beispiel für ‚DoingCulture‘ im Lehrer*innenhandeln?

 

1. Trotz der seit Jahrzehnten strömenden Migrationsbewegungen nach Deutschland versucht das Bildungssystem stets die bereits bestehenden Strukturen aufrechtzuerhalten. Es wird immer noch versucht für die Neuzugewanderten andere Regelungen zu finden und sie von den traditionellen Strukturen zu trennen und in Parallelstrukturen zu selektieren. Das deutsche Bildungssystem charakterisiert eine Haltung, welche die räumliche und zeitliche Kontinuität beinhaltet. Es wird erwartet, dass die einzelnen Bevölkerungsgruppen (von jung bis alt) die Bildungslaufbahn ohne jegliche Unterbrechung durchlaufen, dies beschreibt also die zeitliche Kontinuität. Auch wird erwartet, dass sie diese im Land ihrer Geburt durchlaufen, also spielt hier auch die räumliche Kontinuität eine Rolle. Es werden also schlichtweg die migrationsgesellschaftlichen Normalitäten und Fakten ausgeblendet, obwohl der Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund und der Neuzugewanderten in Deutschland sehr hoch ist. Die Gesellschaft und auch die Institution Schule sind also noch nicht vollständig in der Lage, sich an die Veränderung durch Migration anzupassen und erfüllen die Aufgabe einer Adaption nicht. Dadurch kommt es zunehmend zu Macht- und Hierarchiebeziehungen, wodurch kein Ausgleich hergestellt werden kann. Dies führt vor allen Dingen bei migrierten Schülern und Schülern mit Migrationshintergrund zu Benachteiligungen und einer verstärkten Diskriminierung, es kann also nicht korrekt mit den kulturellen Differenzen umgegangen werden und diese können nicht vollständig in das deutsche Bildungssystem aufgenommen werden. Es herrscht also ein Bedarf an Entwicklung, welcher auf verschiedenen Ebenen erfüllt werden muss. Dies bezieht auch die Ausstattung mit Lehrmitteln ein, welche dieser kulturellen Vielfalt gerecht werden, denn häufig werden die Begriffe „Ausländer“, „Fremde“ „Migranten“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“ gleichgesetzt, wodurch ein falsches Wissen über diese Begrifflichkeiten transportiert wird und Stereotype vermittelt werden.

Außerdem werden die Fächer und ihre Inhalte häufig national orientiert wie beispielsweise in den Fächern Geschichte und Politik. Diese Fächer richten sich, auch meiner Erfahrung nach, meist an die in Deutschland geschehenen Prozesse. Es wird selten der Blick auf andere Nationen gerichtet und noch seltener auf außereuropäische Kulturen, wodurch das Wissen nur auf nationaler Ebene erweitert wird und es häufig an der Kenntnis fremder Kulturen und ihrer historischen und politischen Prozesse fehlt. Dadurch stellt sich die Frage, wie weit die Lerninhalte reichen und wie auch Schüler, welche nicht gebürtig aus Deutschland kommen, ihr Wissen bestmöglich aneignen können.

2. Migration ist ein sehr komplexes Thema, mit welchem man sich sehr intensiv und ausführlich auseinandersetzen sollte. Gerade in der heutigen Zeit ist es sehr wichtig sich mit einem solchen Thema zu beschäftigen, denn die Gesellschaft wurde und wird ständig verändert und auch die Migration trägt zu dieser Veränderung bei. Es treffen weltweit verschiedene Kulturen aufeinander und viele wissen nicht korrekt mit dieser Vielfalt umzugehen, was sich auch im Bildungssystem zeigt. Pädagogisch gesehen ist der Umgang mit Migration eine große Herausforderung, mit der die Lehrkräfte auch bestmöglich versuchen, umzugehen. Schüler, welche aus verschiedensten Gründen nach Deutschland ausgewandert sind und auch Schüler, welche einen Migrationshintergrund haben, werden häufig benachteiligt, da sie durchschnittlich weniger Leistungen erbringen können als Schüler, welche in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Auch werden sie häufig an Schulen mit niedrigeren Bildungsniveaus verwiesen, obwohl viele von ihnen die Chance auf höhere Bildung hätten. In vielen Fällen wird ihnen aufgrund ihrer sprachlichen Defizite diese Chance nicht ermöglicht und ihre eigentlichen Leistungen unterschätzt. Es entsteht eine Ungleichberechtigung, welche das Gedankengut vieler Bürger negativ beeinflusst und den bewussten und sensiblen Umgang mit Differenz auch in der Schule verhindert.

Durch die Vorlesung wurde mir vor allem bewusst, dass es sehr schwierig ist als Einzelner mit der Komplexität des Themas umzugehen und sich in die Situation eines beispielsweise Kindes mit Migrationshintergrund hineinzuversetzen, wenn man selber nicht die Erfahrungen gemacht hat. Auch im Bildungssystem wird viel zu sehr selektiert in migrierte und einheimische Schüler, obwohl dies in der heutigen Zeit nicht zur Diskussion stehen sollte. Häufig werden die bereits genannten Begriffe wie „Ausländer“, „Fremde“ etc. als Synonyme bezeichnet, wodurch es für Außenstehende leichter erscheint, Vorurteile zu bilden und in Stereotypen zu denken, welches jedoch der völlig falsche Weg zu einer offenen Gesellschaft ist, welche mit Differenzen bewusst umgehen und diese als Perspektive in der globalisierten Welt ansehen sollte. Jeder sollte sich mit dem Thema der Migration und ihrer Vielfalt beschäftigen und vor allem ihre positiven Aspekte wahrnehmen.

3. Das Fallbeispiel von der Schülerin Birgül zeigt, dass auch Lehrer in Stereotypen denken können. Birgül ist in Deutschland aufgewachsen, hat jedoch türkische Wurzeln. In ihrem Aufsatz zu Shakespeares „Romeo und Julia“ hat sie sich nicht auf die in der Türkei vorherrschenden Probleme bezogen, dass es wie bei Romeo und Julia nicht möglich ist sich den Partner selbst auszusuchen, woraufhin die Deutschlehrerin sehr empört reagiert hat und sie kritisiert hat. Sie ist also davon ausgegangen, dass Birgül aufgrund ihrer türkischen Herkunft auch eine türkische Sicht-und Denkweise haben muss, obwohl sie in Deutschland aufgewachsen und somit auch an die deutsche Kultur gewöhnt ist.Die Lehrerin hat also Vorurteile gegenüber Birgül, weil sie ihr vorwirft ein europäisches Weltbild zu vertreten und nicht speziell das türkische Weltbild, bloß weil sie türkische Wurzeln hat.

Hier wird also ,Doing Culture‘ sichtbar, da sie nur Birgüls türkische Herkunft in Betracht zieht und sich keinerlei Gedanken über ihr deutsch/europäisch geprägtes Gedankengut macht. Sie bezieht die fremde türkische Kultur nicht in die eigene deutsche Kultur ein und trennt sie voneinander. Es fehlt hier also an Verständnis von Anpassung an die deutsche Kultur und Integration in der deutschen Gesellschaft, welche bei Birgül durch ihr Aufwachsen in Deutschland stattgefunden haben.

Ich selber habe auch einige Male Erfahrungen mit ,Doing Culture‘ sammeln können, da ich aus einer multikulturellen Familie stamme (mein Vater ist Italiener und meine Mutter Polin) und mir somit auch häufig vorgeworfen wurde, wieso ich in bestimmten Situationen nicht polnisch oder italienisch denken würde. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und denke also automatisch deutsch, zwar nicht in allen, aber in vielen Situationen. Natürlich habe ich mir auch einiges aus den fremden Kulturen angeeignet, auch einige Sicht- und Denkweisen, jedoch trifft dies nicht auf alles zu. Man passt sich an das Land, in dem man seit klein an oder Geburt an lebt, automatisch mit der Zeit an, auch wenn man ausländische Wurzeln hat. Daher kann ich nachvollziehen, wie sich Birgül in der Situation fühlen musste.