Von Magdalena Waligórska, Elizabeth Kniffin und Matthew Colfax
Studierende der Bremer Universität und der Bremer Hochschule für Künste entwerfen eine fiktive jiddische Zeitung, um der Opfer von Menschenhandel, des profilierten Bremer Aktivisten Rabbi Leopold Rosenak und seines Kampfes gegen den Menschenhandel zu gedenken.
Das Seminar “Travelling History”, das ich für deutsche und internationale Studierende im Wintersemester 2013/2014 unterrichtete, entwickelte sich während seines Verlaufs selbst zu einer Reise. Der Schwerpunkt des Seminars lag auf unterschiedlichen Reisearten, die sich an die jüdische Geschichte und das Kulturerbe anlehnen und von Holocaust-Tourismus nach Polen bis hin zu religiösen Pilgerreisen zu heiligen Grabstätten in Marokko (Hilulot) reichen. Mir war besonders wichtig, einen Bezug zur jüdischen Geschichte in Bremen herzustellen. Die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Elianna Renner von der Hochschule für Künste, die an einem Forschungsprojekt über den Menschenhandel jüdischer Frauen via des Bremer Hafens arbeitet, gab uns die Möglichkeit ein globales geschichtliches Phänomen aus der lokalen Perspektive zu betrachten. Gleichzeitig entstand ein Erinnerungsprojekt, das diesen Geschichtsabschnitt Bremens im städtischen Raum beleuchtet.
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als Armut und zunehmender Antisemitismus tausende Juden aus Osteuropa auf die Suche nach einem besseren Leben auf dem neuen Kontinent trieb, fielen jährlich tausende jüdischer Frauen Menschenhändlern zum Opfer. Mit dem Versprechen auf ein besseres Leben wurden Mädchen aus den Shtetln Osteuropas von kriminellen Banden auf eine Reise ohne Wiederkehr gelockt. Bevor die jungen Frauen die Endstation ihrer Reise in den Bordellen von Buenos Aires, New York oder Shanghai erreichten, passierten viele den Hafen von Bremen.
Bremen spielte eine wichtige Rolle in der jüdischen Migrationsgeschichte. Auf dem Höhepunkt der Migrationswelle zwischen 1890 und 1914 verließen allein fünf Millionen Menschen Europa über die Häfen von Hamburg und Bremen. Es ist jedoch nicht nur die Anzahl der MigrantInnen alleine, die Spuren in der Stadtgeschichte und Topographie hinsichtlich der steigenden Unterbringungszahlen hinterließen. Bremen wird in der Geschichte auch als wichtiges Zentrum sozialen Engagements im Hinblick auf Migrationsprobleme wie Prostitution und Menschenhandel genannt. Eine herausragende Figur der sozialen Kampagnen gegen den Frauenhandel war Dr. Leopold Rosenak, der erste Rabbi Bremens. Obwohl es Juden erst seit dem 19. Jahrhundert erlaubt war, sich in Bremen niederzulassen, gab es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, eine Anzahl etablierter jüdischer Wohlfahrtsinstitutionen die sich der wachsenden Zahl jüdischer Flüchtlinge annahmen. Rabbi Rosenak war in viele wichtige soziale Initiativen involviert, wie z.B. die Beschaffung von koscheren Lebensmitteln für jüdische MigrantInnen während ihrer Wartezeit in Bremen und der Reise nach Übersee. Rabbi Rosenak gehörte dem deutschen Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels an und nutzte seine Position als Rabbi auch, um auf das Problem der Zwangsprostitution aufmerksam zu machen und um Unterstützung für bedürftige Frauen zu werben.
Abb. 1: Die erste Seite der fiktiven Zeitung “Naye Velt” mit Artikeln von Studierenden der Universität Bremen
Der Traum Rabbi Rosenaks war es, eine Zeitung in jiddischer Sprache herauszugeben, die in Osteuropa verteilt und Frauen frühzeitig vor den Gefahren bei der Auswanderung warnen sollte. Das Projekt wurde nie in die Tat umgesetzt, da Rabbi Rosenak bei einer Reise, die er zur Einwerbung von Geldern für seine Projekte unternahm, 1923 überraschend auf See verstarb. Am 110. Jahrestag von Rosenaks öffentlichem Aufruf zur Herausgabe der Zeitung und anlässlich seines 90. Todestages, haben sich Bremer Geschichts- und KunststudentInnen zusammengefunden, um den Traum Rosenaks zu verwirklichen. Zum Gedenken an Rabbi Rosenak und an alle jüdischen Frauen, die Opfer von Menschenhändlern wurden, entwarfen StudentInnen das Titelblatt einer fiktiven Zeitung namens „Naye Velt: Eine Zeitung für die reisende Frau“. Die Zeitung beleuchtet die Not der vom Menschenhandel betroffenen Frauen in der damaligen Zeit und ehrt das soziale Engagement von Rabbi Rosenak.
Eine Reihe von drei interdisziplinären Workshops, die an der Hochschule für Künste und dem Rosenak-Haus stattfanden, gab StudentInnen aus den Studiengängen Kunst und Geschichte eine Einführung in das Thema und die Möglichkeit, frei mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln zu experimentieren, um ein Erinnerungsprojekt zur Geschichte Rosenaks zu kreieren. Nachdem wir entschieden hatten, uns auf die fiktive jiddische Zeitung zu konzentrieren, teilten wir die StudentInnen in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe sollte den Zeitungsartikel schreiben, der die Sorgen und die Sprache der Zeit wiederspiegelt. Die andere Gruppe hatte die Aufgabe, eine begleitende Performance zu entwickeln, die im urbanen Raum Bremens die Geschichte Rabbi Rosenaks einem breiten Publikum nahe bringt. Während der erste Teil des Projekts abgeschlossen ist, wird am zweiten Teil noch gearbeitet.
Die erarbeiteten Artikel, die ihren Weg in die „Naye Velt“-Ausgabe gefunden haben, beschreiben sowohl die Strategie und Vorgehensweise der Menschenhändlerbanden, als auch die sozialen Programme der jüdischen und nicht-jüdischen Wohlfahrtsorganisationen, die versuchten, diesem Treiben entgegenzuwirken. Ein weiterer Artikel gedenkt des Lebens und der Arbeit Leopold Rosenaks. Dank der Unterstützung durch den Rektor der Uni Bremen konnte der Inhalt der Zeitung von einem professionellen Übersetzer ins Jiddische übertragen werden. Es wurde entschieden, das Endergebnis der „Naye Velt“-Zeitung zunächst in Deutsch und Englisch auf die Projektwebseite (http://trackingthetraffic.org/) zu stellen. Zusätzlich sind die jiddische Transkription und ein begleitender Text, der das Projekt näher beschreibt, auf der Webpage zu finden.
Eine Zeitung zu entwerfen – ein Artefakt, das historisch in dieser Form nie existierte – war nicht nur eine Übung in alternativer Geschichte, sondern hatte auch ein besonderes Erziehungspotential. Die Mitarbeit an dem Projekt “Rabbi Rosenaks Traum” gab den Studierenden die Möglichkeit, sich durch primäre und sekundäre Quellen ein Fragment lokaler Bremer Geschichte zu erschließen und darüber zu reflektieren, wie historische Fakten einem breiten Publikum nahe gebracht werden können. Durch das Aufsetzen fiktiver Artikel und durch die begleitenden Texte lernten die Studierenden etwas über den sozialen Hintergrund jüdischer MigrantInnen aus Osteuropa, auf welche Weise betroffene jüdische Gemeinden die (Zwangs-) Prostitution jüdischer Frauen zu bekämpfen versuchten und wie diese andererseits im antisemitischen Diskurs der Epoche instrumentalisiert wurde. Letztendlich gab der Workshop den Studierenden die Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken, Mitgefühl mit den Opfern zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen, sowie über die Rolle von Kunst bei der Vergangenheitsbewältigung zu reflektieren.
STIMMEN VON STUDIERENDEN:
Elizabeth Kniffin über Forschung für die Zeitung „Naye Velt”:
Das Seminar Traveling History, Jewish Heritage Tourism in Europe and Beyond und der Workshop „Tracking the Traffic”, der von Magdalena Waligórska und Elianna Renner an der Hochschule für Künste organisiert wurde, gab mir und meinen Mitstudierenden nicht nur die Möglichkeit, etwas über das Schicksal junger Frauen zu lernen, die aus Bremen verschwanden, sondern ermöglichte uns auch, einen Schritt weiter zu gehen und der Opfer zu gedenken. Diese Idee sollte durch eine jiddische Zeitung umgesetzt werden, so wie sie von Rabbi Rosenak (vor vielen Jahren) angedacht war.
Der Zeitraum, in dem die fiktive Zeitung erscheinen sollte, wurde zwischen 1903 und 1914 festgelegt, dem Höhepunkt der Migration und des illegalen Menschenhandels mit jüdischen Mädchen und Frauen in Osteuropa. Wir wollten warnende Stimmen und Hinweise versammeln, die die meisten Frauen (dieser Zeit) leider nie erreicht hatten. Ebenso wollten wir darauf aufmerksam machen, dass bereits damals organisierte Hilfe in der
Nähe zu finden war, wie z.B. die „Jewish Association for the Protection of Girls and Women” in London und das “Jüdische Zweigkomitee des deutschen Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels” in Hamburg.
Obwohl Zwangsprostitution auch heute noch ein Problem darstellt, war es eine besondere Herausforderung, eine Situation anzusprechen, die aus unserem Alltagsleben weit entfernt scheint. Erst bei der Recherche zum Narrativ der jüdischen Prostitution und ihrer Bedeutung für antisemitische Propaganda wurde mir die Schwere der Situation bewusst und wie viel Hass durch Worte verbreitet werden kann. Das Ergebnis meiner Websuche nach den Begriffen „Juden“ und „Prostitution” war abstoßend. Auf den ersten Blick war aufgrund des Umfangs und der Menge an Zitaten verschiedener Quellen nicht sofort klar, ob die Suchergebnisse akademischen Ursprungs waren. Aber ich konnte keinen wissenschaftlichen Hintergrund erkennen, nur, dass Menschen viel Zeit damit verbringen, Hass zu verbreiten. Eine Webpage behauptete plump, dass der Talmud der einzige religiöse Text sei, der literarisch gesehen als pornographisch bezeichnet werden kann.
Dies zeigt, wie das Thema jüdische Prostitution noch immer Antisemitismus schürt und provoziert. Vor vielen Jahren nutzten Hitler und die Nazis die gleichen Themen als Katalysator, um ihre Propaganda anzuheizen. In „Mein Kampf“ macht Hitler die Prostitution als einen der Hauptauslöser für Deutschlands Niedergang und eine „furchtbare Vergiftung der nationalen Gesundheit“ aus. Er beschuldigte Juden, hinter der Pornographie-Industrie zu stehen und warnte vor der „Verjudung unseres Seelenlebens“ und der „Mammonisierung unseres Paarungstriebs.“
Die Hetze gegen die Prostitution durch die Nazi-Propaganda wurde mit großer Scheinheiligkeit durchgeführt. Im Dritten Reich nahm nicht nur die staatlich regulierte Prostitution stark zu, die Regulierung von Bordellen wurde zu einer Schlüsselkomponente der Sexualpolitik. Während die Nazis erklärten, dass sie den „moralischen Verfall und Laster“ durch Prostitution abschaffen würden, um die Unterstützung konservativer Amtsträger bei Wahlen zu gewinnen, machten sie in Wirklichkeit die Auflösung staatlich regulierter Prostitution der Weimarer Republik rückgängig.
Was uns heute bleibt, ist die herausfordernde, aber umso wichtigere Aufgabe, Andere aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu informieren und sowohl der Aktivistengruppe, die sich gegen den Menschenhandel einsetzte, als auch der Frauen, die dem Menschenhandel zum Opfer fielen, zu gedenken. Ich glaube, dass Erinnerungsprojekte wie „Rabbi Rosenaks Traum“ erfolgreich sind, da sie eine doppelte Funktion erfüllen, sie erzählen nicht nur die Geschichte jüdischer Mädchen, die durch Menschen aus ihrer eigenen Gemeinde zum Opfer von Menschenhandel wurden, sondern auch die Geschichte solch tapferer Figuren wie Rosenak, der kein unbeteiligter Zuschauer blieb. Mit diesem Projekt möchten wir Rabbi Rosenak mit all dem Respekt ehren, den er verdient.
Generationen später stimmen die bemerkenswerten Geschichten wie die einer Raquel Liberman, die von der mächtigen Zwi-Migdal-Bande zur Prostitution gezwungen wurde, sich selbst befreien konnte, und schließlich zum Niedergang der Bande beitrug, nachdenklich und berühren. Es sind Geschichten wie diese, die öfter gehört werden müssen, und ich bin stolz, eine kleine Rolle im „Rabi Rosenaks Traum“- Projekt gespielt zu haben, um sie ans Licht zu bringen.
Matthew Colfax über die Entwicklung einer Performance zu dem Projekt:
„Es mag sein, dass du entscheidest, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen, aber du wirst niemals mehr sagen können, dass du nichts von all dem wusstest“ (William Wilberforce,
Abolitionist, 1759-1833)
Als erster Rabbi von Bremen unternahm Rosenak große Anstrengungen, den Frauenhandel zum Zweck der Zwangsprostitution, insbesondere um die Bremer Häfen, zu erschweren. Er hatte den Traum, jeglichen Prostitutionshandel zu stoppen, und begann damit in seiner eigenen Gemeinde. Wir wollten ein Projekt entwickeln, das seiner ambitionierten Arbeit und seinen Ideen gedenkt. Es sollte etwas entstehen, auf das er stolz wäre, gleichzeitig wollten wir mögliche antisemitische Reaktionen von vornherein ausschließen. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf entwickelten wir ein Projekt mit aktuellen Medienformen, das Rabbi Rosenaks Anstrengungen zeigt, jüdische Mädchen zu warnen.
Wir diskutierten viel darüber, wie das Erinnerungsprojekt auf lehrreiche und würdige Weise präsentiert werden sollte. Wir lasen zunächst Rabbi Rosenaks Texte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was er selbst am liebsten gesehen hätte. Wir entschieden, den Aspekt der Förderung und Verbreitung von Informationen an junge jüdische Mädchen an der Arbeit des Rabbis herauszustellen, und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Zuschauer so weit wie möglich zu fesseln. Wir einigten uns darauf, Choreographie, visuelle Medien und Klänge als zentrale Medien für unser Projekt zu nutzen.
Das Hauptmotiv unseres Projekts war „falsche Hoffnung“. Wir dachten, dass jedes der Opfer des jüdischen Sexhandels zu Beginn der Reise dieses Gefühl gehabt haben muss. Hoffnung auf einen Neuanfang, ein besseres Leben mit etwas Wohlstand und einer Familie. Leider zerplatzten alle diese Träume, als die jungen Frauen in Buenos Aires ankamen und herausfanden, dass sie von den Menschenhändlern betrogen wurden. In unserem Projekt wollten wir Flugblätter oder Plakate nutzen, die ähnlich wie Rabbi Rosenaks Zeitung die jungen jüdischen Mädchen vor dem Horror des Sexhandels warnen sollten. Wir diskutierten außerdem die Idee, das Symbol eines Koffers in unserem Projekt zu nutzen. Der Koffer verkörpert nicht nur die Essenz von Reisen, Emigration, Neubeginn und Hoffnung auf die Zukunft, sondern repräsentiert auch speziell das jüdische Volk. Uns wurde im Kurs klar, dass der mythische „wandernde Jude“ oder der jüdische Nomade, stets auf der Suche nach einem Zuhause, oft mit einem Koffer in der Hand dargestellt wird. Da der Koffer so symbolträchtig ist, wollten wir ihn in das Projekt einbauen.
Es war uns wichtig, auch eine klangliche Ebene in unser Projekt zu integrieren. Wir entschieden uns, jemanden die Passagen aus Rosenaks Antrag vor der deutschen Rabbinerversammlung 1902 (“Zur Bekämpfung des Mädchenhandels”) vorlesen zu lassen. Der Vortrag sollte dann aufgenommen und während der Performance abgespielt werden. Wir hoffen, damit einen eindrücklichen Effekt zu erzielen, speziell dann, wenn er während einer Tanz- und Bewegungschoreographie abgespielt wird.
Ich glaube, dass George Santayana (1863-1952, Philosoph, Essayist, Dichter und Romanautor) Recht hatte, als er sagte: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“. Aus diesem Grund glaube ich, dass der beste Weg des Gedenkens der Vergangenheit – in diesem Fall die Vergangenheit der jüdischen Mädchen – ist, Geschichte zu unterrichten, sie zu lernen und sie niemals zu vergessen, mit allen Fehlern, Erfolgen, mit allen Gräueln und aller Schönheit.
Über die Autoren:
Magdalena Waligórska ist Juniorprofessorin für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert im Institut für Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen.
Elizabeth Kniffin ist Austauschstudentin aus dem Hobart and William Smith Colleges (NY, USA) und studiert International Relations an der Universität Bremen.
Matthew Colfax ist Austauschstudent aus dem Hobart and William Smith Colleges (NY, USA) und studiert International Relations und Deutsche Philologie an der Universität Bremen.
Bildnachweis:
- AutorInnenfotos: Magdalena Waligórska (privat), Elizabeth Kniffin (privat), Matthew Colfax (privat)
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