RV04 – Prof. Dr. Till Sebastian Idel – Individualisierung von Unterricht als schulpädagogische Antwort auf Leistungsheterogenität

1.

Die wichtigsten Einsichten, die mir der schul- und unterrichtstheoretischen Blick auf
individualisierenden Unterricht offenbart hat, sind an die möglichen Spannungsfelder gekoppelt. Wird von einer Individualisierung des Unterrichts gesprochen, entsteht zunächst eine positive Assoziationskette: Das Auswählen und Bereitstellen individuell passender Lernangebote auf Basis einer zuvor erfolgten Erfassung der Lernvoraussetzungen der Schüler*innen klingt nach einem harmonischen Konzept, welches sich auf die Logik der Heterogenisierung bezieht. Als Reformstrategie wird betont, Kinder und Jugendliche bei ihrer Potenzialentfaltung zu unterstützen, was wiederum Einfluss auf die Strukturierung anderer Ebenen, wie z.B. die Schul- und Unterrichtsebene nimmt. Das aufgeführte Fallbeispiel zeigt jedoch, dass individualisierender Unterricht nicht immer positiv zu bewerten ist – das Konzept erscheint als ambivalente kompensatorische Hilfe und interne Ausgrenzung. Der betroffene Schüler Tarkan wird räumlich von seinen Mitschüler*innen getrennt, während er mit der Lehrerkraft im Eins-zu-eins-Gespräch versucht, eine Aufgabe zu lösen. Er erfährt dadurch eine Sonderbehandlung und wird somit nicht nur räumlich, sondern ebenfalls bezogen auf die Komplexität der Aufgabe von den Anderen getrennt (Mitschüler*innen lösen alleine anspruchsvollere Aufgaben). Dieses Empfinden wird insbesondere in der Situation mit Nele deutlich, die Tarkan als kreative Schülerin gegenüber steht (soziale Differenz). Wissen gilt in diesem Sinne nicht mehr als elementar, sondern als Medium von Distinktion, was der pädagogischen Leitidee einer Talentförderung im Sinne von Chancengleichheit widerspricht.

 

2.

Aus meinem vorherigen Abschnitt über die wichtigsten Einsichten kann bereits entnommen werden, dass durchaus eine kritische Sichtweise auf die Individualisierung des Unterrichts besteht, die ihrerseits einen wichtigen Beitrag zur Reflexion des Umgangs mit Leistungs-Heterogenität im schulischen Kontext leistet. Die möglichen Herausforderungen können beinhalten, dass durch die Steigerung der Komplexität im Unterricht auch die Anforderungen an die Lehrkraft sich vervielfältigen. Hierbei bietet sich erneut an, das Fallbeispiel von Turkan einzubeziehen. Parallele Prozesse in der Klasse führen dazu, dass die Lehrkraft vermehrt ihre analytischen Fähigkeiten anwenden muss, um über den individuellen Förderbedarf von Schüler*innen zu entscheiden. Kategorisierung und Dekategorisierung sind bei diesem Prozess nicht auszuschließen, insbesondere vor dem Hintergrund, ob die individuelle Förderung aller oder die abhelfende Förderung der Leistungsschwachen geleistet werden soll in der Verbindung mit der Debatte um eine Defizitkompensation oder der Betonung von Stärken. Diese Probleme führen zu einer ausgiebigen Reflexion, die eine Sensibilisierung im Umgang mit Leistungs-Heterogenität im Unterricht fördert. Insbesondere in dem Widerspruch zwischen Förderung und Selektion, wie es auch im Fallbeispiel dargestellt wird, können die Konsequenzen Maßnahmen zur Professionalisierung hervorrufen. Anknüpfend an diesen Aspekt steht der Umgang mit Klassifikationswissen (Kategorisierung/Dekategorisierung) und die Frage nach der Gerechtigkeitsproblematik (individuelle oder kollektive Bezugsgrößen). Eine reflektierte Haltung gegenüber hierarchischer Strukturen ist ebenfalls von Wichtigkeit, die eine kritische Selbstreflexion bezüglich der eigenen Umgangsweisen mit Heterogenität voraussetzten.

3.

Die Perspektive eines schul- und unterrichtstheoretischen Blickes ermöglicht eine Vielzahl an Fragestellungen, die im Unterricht bei einem Praktikum beobachtet werden können:

Wie flexibel ist die Raum-Zeit Struktur?

Herrscht eine dezentralisierte Ordnung?

Gibt es verschiedene Aktivitätszentren?

Werden die Aufgabenstellungen ausdifferenziert und an wen sind sie adressiert (Einzelne/Teilgruppen)?

Wie ist die Kommunikation unter Anwesenden und wie wird mittels dessen Disziplin gesichert?

Wie geht die Lehrkraft mit parallelen Prozessen um?

usw.

 

 

 

 

 

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