Die letzte Schule unserer Lernreise! Für sie haben wir uns von Berlin verabschiedet und sind weiter gezogen nach Schleswig-Holstein, genauer gesagt nach Neumünster. Die Fahrt verging wie im Fluge und wie immer hatte jede/jeder seine Rolle auf der Fahrt: Einige spielten, andere lasen oder unterhielten sich und manch‘ andere machte wie jede Fahrt neue Zug- und Busbekanntschaften mit interessanten und informativen Gesprächen. Aber genug von der Fahrt –es soll ja um die Schule gehen! Der Transport zur Schule selbst ist allerdings noch erwähnenswert, da wir die wohl luxuriöseste Anfahrt der Lernreise-Geschichte erleben durften: Wir ließen uns von zwei Großraum-Taxen von unserem Heim bis vor die Schule fahren – wie peinlich! Aber jetzt mal im Ernst, die Taxifahrt war günstiger und schneller als die Fahrt mit den Öffis. Zum Glück hatten wir eine ausdauernde Stimme in der Gruppe, die immer wieder die Taxen ins Gespräch brachte!
Als wir die Freiherr-vom-Stein- Gemeinschaftsschule betreten, stoßen wir direkt auf hilfsbereite SchülerInnen, die uns helfen, unsere Ansprechperson zu finden. Diese begrüßt uns herzlich und zeigt uns einen Raum (das eigentliche LehrerInnenzimmer), der den gesamten Tag nur für uns reserviert ist – wie genial ist das denn? Noch dazu wird uns gleich großes Vertrauen geschenkt, indem wir direkt den Schüssel in die Hand bekommen. Wir haben kurz Zeit uns einzufinden und unsere ersten neugierigen Blicke durch den Raum und auf die besonders gestalteten Plakate zu werfen. Was wir noch nicht wissen ist, dass wir im Laufe des Tages noch sehr viel mehr dieser spannenden Plakate sehen werden, die teilweise von SchülerInnen aber auch von den Erwachsenen zu verschiedensten Themen, Methoden oder Abläufen selbst gestaltet sind, und viele Gänge der Schule schmücken.
Der Tag beginnt mit einem Gespräch mit der Schulleiterin, die uns vor allem durch ihre Offenheit begeistert. Sie erzählt uns von den drei Lernhäusern, die in die Farben gelb, orange und rot eingeteilt sind. Die Lernhäuser bilden eine Art „Unterschule“ mit je vier Klassen in der Unter- und Mittelstufe. Dieses System soll das Gemeinschaftsgefühl und die Identifikation mit der Schule stärken. Insgesamt besuchen ca. 585 SchülerInnen die Freiherr-vom-Stein-Schule. In jedem der drei Lernhäuser bilden SchülerInnen der Jahrgangsstufen 7-9 und 8-10 jahrgangsübergreifende Lerngruppen. Der Unterricht findet in fächerübergreifenden Projekten statt. Zu jedem einzelnen Lernhaus gehört ein LehrerInnen-Team, das die SchülerInnen begleitet und unterstützt. Sie bereiten für jede vier- bis sechswöchige Projektphase ein Oberthema vor, das sich für jedes Fach auf drei thematische Säulen stützt, und die SchülerInnen können selber wählen, in welcher Reihenfolge sie die Themen selbstständig bearbeiten und innerhalb dieser auch eigene Schwerpunkte setzten. Zur Dokumentation dient ihnen ein Logbuch, welches sie in der Planung, Durchführung und Reflexion ihrer Projekte unterstützen soll. Für jedes einzelne Fach gibt es ein Kompetenzraster, in dem die Schülerinnen und Schüler die gelernten Inhalte abhaken können. Jeder Schultag endet mit einer etwa halbstündigen Tagesreflexion im Klassenverbund, in der jeder/jede sein oder ihr selbst gestecktes Tagesziel mit dem tatsächlich erreichten Ziel abgleicht. Darüber hinaus hat jeder/jede SchülerIn immer wieder Beratungsgespräche mit einer zuständigen Lehrkraft, dem/der MentorIn. Außerdem haben die einzelnen Klassen neben den offenen Phasen einmal pro Woche „Fachberatung“ bei dem/der jeweiligen FachlehrerIn. Am Ende eines jeden Projektes wählen die SchülerInnen ihre Lernprobe – ihre Leistungsbewertungsform – selbst. Das können beispielsweise Plakate, Präsentationen, Gespräche oder schriftliche Ausarbeitungen sein. Anhand der Struktur kann man erkennen, wie wichtig der Schule selbstorganisiertes und -gestaltetes Lernen ist. Die Schule setzt selbst ganz klar den Schwerpunkt auf die Digitalisierung. Die SchülerInnen können und sollen viel im Internet recherchieren, nutzen die schuleigene Lernplattform und dürfen auch ihre Lernprobe digital abgeben. Darüber hinaus kann jeder/jede Laptops und Tablets ausleihen. Im digitalen Lernraum haben die SchülerInnen auch die Möglichkeit mit Robotern zu experimentieren und andere Medien kennen zu lernen und zu nutzen. Im SchülerInnen-Interview wird begeistert von der Mediennutzung berichtet, aber auch reflektiert über die Nachteile gesprochen – dass sie einen beispielsweise ablenken können. Die SchülerInnen können wählen, ob sie digital oder mit Papier arbeiten wollen. Im Gespräch mit der Schulleiterin fällt uns ihre bestimmte Haltung zum Lernen und der Schule selber, durch so klare Formulierungen wie:„Die Schule muss sich den SchülerInnen anpassen!“, immer wieder auf. Darüber hinaus können wir von ihrem theoretisches Wissen zu Veränderungsprozessen und Prozessmanagement, ihrer eigenen Haltung zu Innovation und ihrem großen Entwicklungswillen sehr profitieren.
Anschließend an das Gespräch werden wir von einer Lehrerin der Klassen 8-10 der roten Gruppe zur Hospitation abgeholt. Wir haben zwei Stunden lang die Gelegenheit, durch die vier Klassenräume des roten Flures zu gehen, uns die Ordner mit den verschiedenen Themenbereichen des aktuellen Projektes „Orientierung in der Welt“ anzuschauen, mit SchülerInnen und Lehrkräften zu sprechen und das selbstorganisierte Lernen zu beobachten. In den Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern stellen wir fest, dass einige sehr gut mit dem System zurechtkommen, während andere, gerade wenn von einer anderen Schule gewechselt wurde, ein wenig Zeit brauchten, sich an die eigenen Freiheiten und Wahlmöglichkeiten zu gewöhnen. Die Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse bereiten sich aktuell intensiv auf den mittleren Schulabschluss (MSA) vor und wir sind sehr dankbar, dass trotzdem so viele bereit waren, unsere Fragen zu beantworten und von ihren Erfahrungen im Schulalltag zu erzählen.
Nach dem Mittagessen in der hübsch gestalteten Mensa haben wir noch die Möglichkeit, einen Blick in den Flur der 8. bis 10. Klasse des gelben Lernhauses zu werfen. Hier endet gerade die Lesezeit, ein fester Zeitraum, in dem jede/jeder in einem selbstgewählten Buch oder Comic liest. Als nächstes steht auch dort wieder ein Freiarbeits-Block an. Während dieser Zeit wird in einem Gruppenraum zusätzlich Input zu bestimmten Themen für die MSA-Prüfung angeboten. Die SchülerInnen entscheiden selbstständig, ob bei ihnen Bedarf besteht, das Angebot wahrzunehmen.
Im Laufe des Tages haben wir nicht nur die Möglichkeit, ein Interview mit der Schulleiterin zu führen, auch der stellvertretende Schulleiter und fünf SchülerInnen nehmen sich Zeit für uns und unsere Fragen. Der stellvertretende Schulleiter bestärkt uns noch einmal darin, wie wichtig das Team, der Wille zur Veränderung und Leute, die Lust und Motivation für das Lernen zu haben, seien. Die SchülerInnen beeindrucken uns durch ihre Reflexionsfähigkeit und ihre klare Meinung, dass Schülerinnen und Schüler ihre Schule mit einem bestimmten Konzept selber und bewusst wählen sollten und dass sowohl Digitalisierung als auch Buch und Papier wichtig sind, um eine möglichst große Spannbreite an Medien zur Verfügung zu haben. Für sie ist das Besondere an ihrer Schule das selbstbestimmte und freie Lernen, das zum Fragen stellen anregt und auf das spätere Leben vorbereitet. Mit einer Million Euro würden die SchülerInnen an ihrer Gemeinschaftsschule eine Oberstufe einführen, um in dem bekannten System weiterarbeiten zukönnen, und nicht, wie jetzt, beim Übergang in die Oberstufe einer anderen Schule zur Umgewöhnung an ganz andere Strukturen gezwungen zu sein.
Bei unserer anschließenden Reflexion, die das erste Mal in der Schule selbst stattfand, kristallisieren sich für uns die Themen Digitalisierung, selbstorganisiertes Lernen und Konzept einer Schule in Abhängigkeit von der Schülerschaft als Aspekte heraus, die uns nach unserem Schulbesuch besonders beschäftigen. Nach einer eindrucksvollen „Talkshow“ mit „ExpertInnen“ zur Digitalisierung, die von einer Gruppe inszeniert wird, sprechen wir darüber, ob und in welchem Umfang unserer Meinung nach die Medienkompetenz in Schulen gefördert werden sollte, was dafür von uns als zukünftigen LehrerInnen für Kompetenzen benötigt werden und sind uns darüber einig, dass besonders der kritische Umgang mit digitalen Medien geschult werden sollte. In einer zweiten Talk-Runde wird besonders der Gewinn des selbstorganisierten Lernens in der Schule für zukünftige ArbeitnehmerInnen und -geberInnen thematisiert. Zum Schluss geht es um die Frage, ob das Konzept einer Schule an die Schülerschaft oder die Schülerschaft an das Konzept angepasst werden sollte, d.h. durch eine bewusste Auswahl die Zusammensetzung der Lerngruppen zu beeinflussen, wie es beispielsweise an Anwahlschulen möglich ist. Die Freiherr-vom-Stein-Schule hat uns gezeigt, dass gerade in kleineren Städten und dörflichen Regionen Hürden und Widerstände dadurch entstehen können, dass genau die Schülerinnen und Schüler, die eben da sind, in eine Schule gehen, und dass Innovation besonders für öffentliche Schulen stark vom Umfeld abhängt. Umso beeindruckender ist es, dass diese Schule ihr innovatives Lernkonzept umgesetzt hat und stetig daran arbeitet, das Beste für ihre Schülerinnen und Schüler anzubieten.