Ein Nachtrag zu Weihnachten und der Romantisierung von Armut

Das Student*innenleben in runtergekommenen WGs und Ernährung über Nudeln mit Ketchup wird oft romantisiert. Besonders in der linken Szene ist eben diese Romantisierung von Armut ein Problem: Löcher in Jeans als Kapitalismuskritik,  Billigbier als Selbstzweck. 

 

Ende letzten Jahres bringt Balenciaga eine Kollektion mit Adidas raus, in welcher Kleidung, die eins zu eins mit dem sportlichen Stil der Working Class Jugend aus den Neunzigern in Großbritannien zu vergleichen ist, zu überteuerten Preisen verkauft und einige Wochen später von Stars auf der Paris Fashion Week getragen wird. Abgetragene Kleidung und Plastiktüten funktionieren aber eben nur als Modestatement, wenn man die Wahl hat andere Dinge zu tragen.

 

Denn zu Weihnachten fahren eben diese Student*innen zu ihren Familien in die Heimat, zurück in ihre Gründerzeitvillen im besten Viertel der Stadt und Gesprächen über den Börsenmarkt am Abendbrottisch – weg vom Billigbier und hin zum teuren Wein. Der Heiligabend gestaltete sich wahrscheinlich hier auch seit der Kindheit idyllisch, zumindest in materieller Hinsicht: reich geschmückter Weihnachtsbaum, Festtagsessen und hochpreisige Geschenke. 

“Lieber, guter Weihnachtsmann,

guck mich nicht so böse an.

Stecke deine Rute ein,

will auch immer artig sein!”

lautete das Gedicht, das ich einen Großteil meiner Kindheit jeden Heiligabend vor der Bescherung aufsagte. Eine britische Studie (Park et al., 2016) wirft nun aber die Frage auf, warum so viele Kinder zu Weihnachten leer ausgehen und hat herausgefunden, dass nicht Verhalten der Kinder oder Nähe zum Nordpol einen Unterschied bei Santa’s Zielen machen, sondern rein sozioökonomische Faktoren. Kindern, die also eh schon unterprivilegiert sind, wird häufig nicht mal ein Besuch des Weihnachtsmannes beschert. 

Mal das Geld von den Eltern nicht anzunehmen, oder zurzeit kein Geld zu haben, weil man für die nächste Reise spart, hat nichts mit Armut zu tun. Armut ist nämlich nicht nur die Abwesenheit von Geld, es ist die Abwesenheit von jeglicher Sicherheit. Kein Netz, kein doppelter Boden. Armut hat nichts Poetisches, ist kein vernebeltes Foto mit grober Körnung und Beton. Die Romantisierung von Armut ist erniedrigend für die, die ihr ausgesetzt sind und tatsächlich lebt ein Drittel der Studierenden unter der Armutsgrenze (Schabram et al., 2022). Aber eine Studentin mit Ärzte-Eltern, die während des Studiums die Wohnung durch die Eltern finanziert und 1.000 Euro monatlich überwiesen bekommt, ist wohl kaum armutsgefährdet. Studieren als freie Entwicklung der Persönlichkeit verwandelt sich mehr und mehr zu einem Privileg für die Kinder der bürgerlichen Klassen. 

Wie können wir also beim Feiern und Sprechen über Weihnachten der Lebenswirklichkeiten unterschiedlicher Menschen gerecht werden?

 

Quellen:

Park, J J; Coumbe, B. G. T.; Park, E. H. G.; Tse G, Subramanian, S. V.; Chen, J. T. et al. Dispelling the nice or naughty myth: retrospective observational study of Santa Claus doi:10.1136/bmj.i6355.

Schabram, G.; Aust, Dr. A.; Rock, Dr. J. Armut von Studierenden in Deutschland. Aktuelle empirische Befunde zu einer bedarforientierten Reform der Berufsausbildungsförderung in Deutschland. Berlin. 2022.

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