Monat: April 2021

RV02 | Migration und die Reaktion von Schule – ein Blick auf schulpolitische Hintergründe, Strukturen und Konzepte

I a. Was sind die Kernaussagen der Grafik auf Folie 16?

Die Grafik auf Seite 16 des Foliensatzes zur Ringvorlesung „Umgang mit Heterogenität in der Schule“ vom 20.04.2021 zeigt eine Übersicht der erreichten Abschlüsse der Schulentlassenen in der Stadtgemeinde Bremen aus dem Jahr 2018. Visualisiert werden prozentual die Schulentlassenen ohne Migrationshinweis (blau), die Schulentlassenen mit Migrationshinweis und ohne Vorkurs oder mit Vorkurs vor 2014 (rot) und die Schulentlassenen mit Vorkurs ab 2014 (grün), die das Abitur, den Mittleren Schulabschluss, die Erweiterte Berufsbildungsreife, die Einfache Berufsbildungsreife oder keinen Schulabschluss erreicht haben.

Abb. 1: Grafik, Y. Krakasoglu, PPP RV 02, Folie 16.

Besonders auffällig ist hierbei, dass lediglich 2% der Absolvent:innen mit einem Vorkurs ab 2014 das Abitur erwarben und der Großteil (36%) sogar überhaupt keinen Schulabschluss erreichte. Schulentlassene ohne Migrationshinweis absolvierten hingegen unübersehbar oft das Abitur (49%) und bildeten gegenteilig einen sehr niedrigen Prozentsatz an Schüler:innen ohne Schulabschluss (5%) ab.

Als Kernaussagen lassen sich folglich formulieren: Je höherwertig der erreichte deutsche Schulabschluss, desto geringer der Prozentsatz an Absolvent:innen mit Migrationshinweis. Je niedriger gestellt der erzielte Schulabschluss bis hin zu keinem Schulabschluss, desto höher die Prozentzahl an Schulentlassenen mit Migrationshinweis und Besuch eines Vorkurses. [1]

I b. Welche Hinweise gibt die Grafik zum Zusammenhang zwischen Migrationshinweis, Neu-Zuwanderung und Bildungsbenachteiligung?

Nimmt man die Grafik aus Ia genauer in den Blick, fällt auf, dass deutliche Unterschiede zwischen den Schulentlassenen mit Migrationshinweis und ohne Vorkurs oder mit Vorkurs vor 2014 und den Schulentlassenen ohne Migrationshinweis bestehen. Nahezu die Hälfte (49%) aller Absolvent:innen ohne Migrationshintergrund im Jahr 2018 in der Stadtgemeinde Bremen erreichte das Abitur, während lediglich 27% der Schüler:innen mit Migrationshinweis und ohne Vorkurs oder mit einem Vorkurs vor 2014 den höchsten deutschen Schulabschluss erreichten. Erschreckend niedrig ist die Zahl der zugewanderten Schüler:innen mit einem Vorkurs ab 2014, die die Allgemeine Hochschulreife erzielten. Lediglich zwei Prozent können das Abitur mit entsprechendem Zertifikat vorweisen. Beim Mittleren Schulabschluss (MSA) ist hingegen ein hoher Prozentsatz an Absolvent:innen mit Migrationshinweis und ohne Vorkurs oder mit Vorkurs vor 2014 zu verzeichnen. Dort erhielten 40% den Mittleren Schulabschluss. Direkt darauf folgen die Absolvent:innen mit Besuch eines Vorkurses ab 2014 mit 33%. Nah an diesem Prozentwert liegen auch die Schüler:innen ohne Migrationshinweis. Sie erreichten dort ihren zweithöchsten Wert mit 30%. Angenäherte Prozentzahlen von Schüler:innen mit und ohne Migrationshinweis sind beim Erwerb der Erweiterten Berufsbildungsreife (ErwBBR, entspricht dem Erweiterten Hauptschulabschluss) zu sehen. 18% der Absolvent:innen mit Migrationshintergund und ohne Vorkurs oder mit Vorkurs vor 2014 erzielten die ErwBBR. 16% der zugewanderten Schüler:innen mit Besuch einer Deutschlernklasse ab 2014 erhielten diesen Abschluss und 10% der Schüler:innen ohne Migrationshinweis erreichten die Erweiterte Berufsbildungsreife. Als gestaffelt ist hingegen der Erwerb der Einfachen Berufsbildungsreife (EinfBBR) zu beschreiben. In der Grafik wird visualisiert, dass hier nur noch 5% an Schüler:innen ohne Migrationshintergrund die EinfBBR erzielten, jedoch deutlich mehr Schulentlassene mit Besuch eines Vorkurses ab 2014 (13%) einen solchen Abschluss erwarben. Auch 7% der Absolvent:innen mit Migrationshinweis und ohne Vorkurs oder mit Vorkurs vor 2014 schlossen 2018 mit der Einfachen Berufsbildungsreife ihre Schullaufbahn ab.

Die Grafik zeigt deutlich, dass Schüler:innen, die zugewandert sind und einen Deutschvorkurs ab 2014 belegten, große Schwierigkeiten haben einen hohen deutschen Schulabschluss – wie das Abitur – zu erlangen. Mögliche Gründe dafür können kaum zu überwindende Sprachbarrieren und das herausfordernde Bildungsniveau an deutschen Schulen sein. Auch die Deutschlernklassen sind eventuell nicht effektiv genug. Zudem spielt der zeitliche Faktor eine große Rolle. Schüler:innen, die erst im Jugendlichenalter nach Deutschland kommen, haben nur wenige Jahre Zeit die deutsche Sprache fehlerfrei zu erlernen. Ebenfalls wird vermutlich in ihrem persönlichen Umfeld nicht immer Deutsch als Hauptkommunikationssprache verwendet. Der Erwerb der deutschen Sprache hängt jedoch unmittelbar mit dem Erreichen eines deutschen Schulabschlusses zusammen.

Einen konkreten Hinweis auf den Zusammenhang von Zugewanderten und Schüler:innen mit Migrationshinweis und der Bildungsbenachteiligung ist hier jedoch nicht zu benennen. Es fällt aber auf, dass seiteneinsteigende Schüler:innen deutlich niedrigere Schulabschlüsse erzielen als Schüler:innen, die bereits in Deutschland leben und einen Migrationshinweis oder auch keinen Migrationshinweis haben. Auch bei Absolvent:innen mit Eltern, die nicht von Beginn an die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, sind höhere Schulabschlüsse als bei zugewanderten Schüler:innen mit Besuch eines Vorkurses ab 2014 festzustellen. Insofern kann von einer Bildungsbenachteiligung gesprochen werden, dass auffällig wenig Schüler:innen mit Besuch eines Vorkurses ab 2014 einen hohen deutschen Schulabschluss erlangten und somit ihre weitere Bildungslaufbahn nicht so vielfältig aufgefächert ist, wie bei Schüler:innen, die z.B. das Abitur erwarben. [2]

II. Inwiefern fordert Migration das nationalstaatlich verfasste Schulsystem Deutschlands heraus?

Migration ist für das nationalstaatliche Schulsystem eine Herausforderung. Fend formuliert Migration als Schlüsselthema der Veränderung vom nationalen Bildungssystem. Seine „Theorie der Schule“ besagt, dass jede neue Generation über das Bildungswesen an den Stand der Fähigkeiten, des Wissens und der Werte herangeführt wird, welcher für den Fortbestand der Gesellschaft erforderlich ist. Migration erschüttert nach dieser Theorie die Vorstellung einer ethnischen, kulturellen und sprachlich homogenen Gemeinschaft und ist Grundstein für Heterogenität. Migration wird demnach als „Durchbrecher“ einer Logik des Bildungssystems angesehen, bei der davon ausgegangen wird, dass jede:r das System von Beginn an bis zum Ende am gleichen Ort durchläuft. Diese Logik spielt auf die räumliche und zeitliche Kontinuität von Bildung an und versteht die Gesellschaft als nationalstaatlich verfasste Gesellschaft. [3]

Migration wird in dem Sinne als heterogenitätsfördernder Faktor angesehen, als dass Schüler:innen mit Migrationshinweis im Durchschnitt viel öfter von sozialen Risikolagen betroffen sind, als Schüler:innen ohne Migrationshinweis. Gründe hierfür sind meist ein niedriger Bildungstand oder die Erwerbslosigkeit der Eltern und ein Familieneinkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze. Diese Faktoren gelten insbesondere für Zugewanderte. Auch das Lernen einer anderen Erstsprache, welche nicht das Deutsche ist, kann ein solcher heterogenitätsfördernder Faktor sein. In 91% der Schulen im Land Bremen sind mehr als 10 Erstsprachen vertreten. In mehr als 50% der Schulen werden sogar mehr als 20 Erstsprachen gesprochen. Dies stellt eine Herausforderung für die Schüler:innen, das Schulsystem und die Lehrkräfte dar. Trotzdem ist ein Migrationshinweis in diesem Kontext nicht gleichzusetzen mit einer Risikolage, obwohl Schüler:innen mit Migrationshinweis deutlich öfter von einer solchen betroffen sind als Kinder ohne Migrationshinweis. Gleichzusetzen ist dies dennoch nicht. [4]

Gleichwohl muss sich der Blick hin zu einer Veränderung von Schule wenden, welche eine Wandlung von exklusiver Perspektive hin zu inklusiver Perspektive vollzieht. Von nicht hinterfragten Anpassungsanforderungen an die Schüler:innen im Hinblick auf die Organisationsprinzipien und Erwartungen der Institution zu einer Veränderung von Schule und der in ihr verantwortlich Handelnden im Hinblick auf ihren Umgang mit der Vielfalt von Schüler:innen und Eltern und deren Bedürfnissen. [5]

Nach Karakasoglu und Mecheril gibt es vier migrationsgesellschaftliche Entwicklungsbedarfe von Schule. Auf struktureller Ebene können solche Bedarfe z.B. über ein Angebot an unterschiedlichen Schulformen gedeckt werden, die auch für seiteneinsteigende Schüler:innen geeigneter und durchlässiger sind und die eine gewisse internationale Kompatibilität aufweisen. Auf Ebene der Ressourcen kann eine solche Entwicklung durch zusätzliche Lehrer:innenstellen, multiprofessionelle Teams und eine gute Ausstattung der Schulgebäude und Lehrmaterialien gewährleistet werden. Auch eine Konzeptentwicklung und die Einbeziehung von kollegialer Supervision wären unterstützende Faktoren. Auf der Ebene der pädagogischen Konzepte, der didaktischen Methoden und verwendeten Lehrmittel (u.a. Schulbücher) wäre eine Vielfalt an geistigen und materiellen Ressourcen geeignet, um den migrationsgesellschaftlichen Biographien der Schüler:innen und Eltern gerecht zu werden. Auf der Ebene der Lehrer:innenausbildung müssten angehende Lehrer:innen in allen drei Phasen der Ausbildung für das Thema Migration sensibilisiert werden. Dies würde zu einer hohen Flexibilität der Lehrkräfte führen, die eine solche Komplexität und Heterogenität meistern könnten. [6]

Ebenso müsste es eine Sensibilisierung im Bereich des Schulbuchs geben. Das Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung veröffentlichte 2015 eine Studie über die Begriffsverwendung von „Ausländer“, „Fremde“, „Migranten“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“. Dabei kam heraus, dass diese Begriffe häufig als Synonyme zueinander verwendet werden, es also keine Differenzierung im Schulbuch und im Text gibt. Gleiches stellte die neue Studie zu Migration und Bildungsmedien von Eva Matthes im Jahr 2020 fest. Somit ist migrationsgesellschaftliches Wissen und Reflexionskompetenz von vielen Seiten nötig, um das Lernmaterial gesellschaftlichen Realitäten und aktuellen wissenschaftlichen Standards und Erkenntnissen anzupassen, sodass keine Vorurteile reproduziert werden. Aufgrund der Entwicklungsbedarfe im Bereich der Lehrkräfte und Schulen und im Hinblick auf die Schulbücher ist Migration als gegenwärtige und auch zukünftige Herausforderung für das nationalstaatliche Schulsystem anzusehen. [7]

III. Inwiefern kann das folgende Beispiel als Ausdruck von „Doing Culture“ durch Lehrer:innenhandeln im Unterricht herangezogen werden? Was ist problematisch daran? Erinnern Sie sich aus ihrer eigenen Schulzeit an ein Beispiel für „Doing Culture“ im Lehrer:innenhandeln?

Kim (Name geändert), eine Lehramtsstudierende, berichtet in einer Aufgabe:
„Einer meiner ehemaligen Mathelehrer nahm mich des Öfteren bei Fragen an die gesamte Klasse dran, ohne dass ich mich gemeldet hatte, da er der Meinung war‚ die Asiatin müsse es ja wissen, die seien doch so gut in Mathe. Da Mathe nicht eine meiner Stärken war und ich dementsprechend keine richtige Antwort auf die Fragen geben konnte, hieß es seitens des Lehrers ‚Da hätte ich aber jetzt mehr erwartet‘ (…). Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch nie in Asien war und dementsprechend keinerlei Berührungspunkte oder persönliche Erfahrungen mit der Kultur und Mentalität habe, wird von mir erwartet, besser in Mathe zu sein, als Schüler*innen die nicht daher kommen.“

Im vorliegenden Fallbeispiel greift die Lehrkraft, hier der Mathelehrer, auf stereotypische Vorurteile gegenüber Asiaten zurück, indem er das Mädchen namens Kim drannimmt, obwohl sie sich nicht gemeldet hat. Kim hat offenkundig asiatische Wurzeln und scheint auch äußerlich so auszusehen. Die Lehrkraft weist ihr aufgrund ihres Migrationshinweises gute Fähigkeiten im Fach Mathematik zu. Dabei geht die Lehrkraft nicht von den individuellen Fähigkeiten des Mädchens aus, sondern konstruiert eine Auffassung von „Kultur“. Hier führt die pauschale Zuordnung eines nationalen, ethnischen, kulturellen Kollektivmerkmals zur Verunsicherung der Schülerin. Ebenso ist das Drannehmen mit der Aussage „die Asiatin müsse es ja wissen, die seien doch so gut in Mathe“ fälschlich gleichsetzend und verallgemeinernd. Kim ist nämlich nicht so gut in Mathe. Ebenfalls ist das Drannehmen ohne Melden ein Bloßstellen vor der gesamten Klasse und der Mathelehrer setzt im selben Zug mit seinem Kommentar höhere Anforderungsmaßstäbe an Kim, als an ihre Klassenkameraden. Die geschieht nur aufgrund ihres Aussehens und ihrer Wurzeln. Das Fallbeispiel kann somit gut als Ausdruck von „Doing Culture“ durch Leher:innenhandeln verwendet werden.

Ich persönlich habe in meiner Schulzeit kaum „Doing Culture“-Erfahrungen gemacht, was auch ein großes Glück ist. Lediglich die Einstellung mancher Lehrkräfte war dahingehend ausgelegt, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Durchschnitt geringere Leistungen erbringen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Auch Kindern mit sozialen oder schulischen Problemen wurde schnell ein Migrationshintergrund nachgesagt und das Problem auf die Eltern geschoben. Auch Fragen nach der Herkunft eines Kindes, obwohl dieses in Deutschland geboren ist, habe ich miterlebt. Dort wird von der Herkunft der Eltern oder aufgrund von Äußerlichkeiten pauschal auf die Nationalität und Identifikation mit einem anderen Land geschlossen. Viele Lehrkräfte vermitteln dabei leider den Schüler:innen das Gefühl von „anders sein“ und fördern somit selbst die Heterogenität in einer Klasse.

Ein Lösungsansatz für diese Problematik wäre eine dauerhafte kritische Selbstreflexion der Lehrkräfte in Hinblick auf die eigenen Aussagen und Kompetenzen. Auch das Akzeptieren der Migration als facettenreiche Alltagserfahrung und Perspektive in der globalisierten Welt wäre ein Ansatz. Zusätzlich müsste Unterrichtsmaterial kritisch analysiert und auf Stereotypen hin untersucht werden. Damit würde Mehrsprachigkeit und Migration als Normalität anerkannt und im Unterricht besser berücksichtigt werden. [8]

[1] Migration und Bildungsbenachteiligung in Bremen (2018), Abbildung 6: Schulentlassene nach Abschlüssen in der Stadtgemeinde Bremen 2018, in: (Welt-)Gesellschaftliche Veränderungen, Migration und die Reaktion von Schule – ein Blick auf schulpolitische Hintergründe, Strukturen und Konzepte, PPP 02, Folie 16 , Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu.
[2] Ebenda.
[3] Schroeder, Joachim/ Seukwa, Louis Henri 2018, S. 141.
[4] vgl. PPP zur Ringvorlesung 02, Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Folie 15.
[5] vgl. PPP zur Ringvorlesung 02, Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Folie 19.
[6] Karakasoglu / Mecheril 2019.
[7] Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung 2015, S. 68; Matthes 2020; BIM/SVR 2017; Doğmuş/Karakaşoǧlu/Mecheril/Shure 2018.
[8] vgl. PPP zur Ringvorlesung 02, Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Folie 22.

RV01 | Heterogenität als Merkmal der Gesellschaft und Herausforderung für die Schule

I. Warum wird Heterogenität im schulischen Kontext häufig als „Herausforderung“, die bewältigt werden muss, wahrgenommen?

Im schulischen Kontext wird Heterogenität häufig als „Herausforderung“, die es zu bewältigen gilt, wahrgenommen. Schüler:innen unterscheiden sich in ihren Lernvoraussetzungen voneinander, beispielweise durch die Individualität und Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihres Alters, Geschlechts oder ihrer ethnischen, kulturellen und sozialen Herkunft. Auch ihre Motivation, ihre Interessen und ihre Leistungsfähigkeit sind verschieden. Diese Vielfalt ist im schulischen Kontext der Einschätzung der Lehrkräfte unterworfen, was eine besondere Herausforderung für beide Seiten darstellt.

Maßgebend in diesem Zusammenhang ist das Spannungsfeld von Hetero- und Homogenität in der Wahrnehmung der Lehrenden, in welcher  teils eine bewusste oder unbewusste Idealvorstellung von Homogenität transportiert wird. In dieser Vorstellung ist die Individualität der Schüler:innen eine anspruchsvolle Realität, die durch die Entdeckung von Gemeinsamkeiten einer Gemeinschaft gebändigt werden muss. Diese Komplexität führt in manchen Fällen zur Überforderung der Lehrkräfte, so dass diese auf Stereotypen und Erfahrungswerte zurückgreifen, um eine gewisse Grundstruktur und Ordnung innerhalb einer Gruppe zu schaffen. Diese „Rettungsanker“ kennzeichnen Abweichungen von den Normerfahrungen als Störfaktoren und bilden damit gleichzeitig einen Grundstein für Diskriminierung und Vorurteile gegenüber Schüler:innen.

Um einem solchen Überforderungsphänomen der Lehrkräfte entgegenzuwirken, muss Homogenität als Strukturprinzip von Schule verstanden werden. Somit erscheint lediglich die äußere Form als Einheitlichkeit, welche aber Differenzierungen im Inneren zulässt und damit nur eine Art „gedachte Homogenität“ darstellt. So können Klassenverbände losgelöst von ganzen Jahrgangsstufen behandelt werden und einzelne Schüler:innen unabhängig vom Gesamtkonzept Schule.

Katharina Walgenbach hat die Bedeutungsdimensionen von Heterogenität und die damit einhergehenden Herausforderungen in vier wissenschaftlichen Dimensionen sehr treffend zusammengefasst. Auf didaktischer Bedeutungsebene zählt demzufolge vor allem die innere Differenzierung, die die konkrete Unterscheidung von einzelnen Schüler:innen und das zieldifferente Lernen umfasst. Auf deskriptiver Bedeutungsebene haben auch die pädagogisch zu beachtenden Unterschiede individueller Persönlichkeitsmerkmale und Effekte gesellschaftlicher Entwicklungen Einfluss auf die Lernmöglichkeiten und -voraussetzungen der einzelnen Schüler:innen. Dies können zum Beispiel der soziokulturelle Hintergrund, das Geschlecht oder das Alter sein. Auch soziale Ungleichheiten, die aus dem Umfeld der Einzelnen an die Schule herangetragen werden, bilden Hindernisse auf ungleichheitskritischer Bedeutungsebene, die in der Schule aufgegriffen werden. So muss sich eine Lehrkraft mit den familiären Hintergründen von Schüler:innen genauso konfrontiert sehen, wie mit deren schulischen Leistungen. Heterogenität kann nach Katharina Wagenbach somit in der normativen/evaluativen Bedeutungsdimension als eine Chance, Herausforderung oder Belastung verstanden werden. Aufgabe der Schulen ist es somit nicht die Schüler:innen zu ändern, sondern ihre Individualität und Vielfalt in das Schulgeschehen einzubeziehen und einen verbesserten Umgang mit Heterogenität zu gewährleisten, was eben eine gewisse „Herausforderung“ darstellt.

II. Was ist der „Konstruktionscharakter“ von Heterogenität?

Weiter lässt sich der „Konstruktionscharakter“ von Heterogenität heranziehen. Was genau ist damit gemeint? Heterogenität ist abhängig von expliziten oder impliziten Maßstäben, die um eine Einheitlichkeit, also Homogenität, herum konstruiert sind. Das bedeutet, dass die Vorstellung von Heterogenität immer eine Norm als Vergleichswert beinhaltet. Diese Norm stellt immer das „Normale“, das „Übliche“, das „Grundlegende“ dar. Die Heterogenität steht zu dieser in Differenz, bildet also einen Streuwert um die Norm herum. Zur Bestimmung von Heterogenität muss daher der Kontext einbezogen werden, wie z.B. in der Schule bestimmte institutionalisierte Wert- oder Leistungsmaßstäbe. Allerdings ist die Vorstellung zu eng, dass Schüler:innen an sich „heterogen seien“, denn Unterschiede sind keine individuellen Merkmale, sondern Resultat sogenannter sozialer Konstruktionen. Was nämlich jeweils als heterogen angesehen wird, ist das Ergebnis sozialer Vorstellungen.

III. Welche Erfahrungen im Umgang mit der Corona bedingten Ungleichheit der Bildungschancen von Schüler:innen machen Sie aktuell in ihrem Umfeld? Bitte reflektieren Sie diese mit Bezug auf die Stellungnahme der Bildungswissenschaftler:innen: https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/das-deutsche-schulbarometer-hurrelmann-dohmen-corona-krise-verstaerkt-bildungsungleichheit/

Auch die Corona-Pandemie fordert nun schon seit über einem Jahr ihren Tribut. Erfahrungen mit der Ungleichheit der Bildungschancen vieler Schüler:innen hat mittlerweile nahezu jeder schon gemacht. In meinem persönlichen Umfeld geraten Schüler:innen an ihre Grenzen. Viele fühlen sich „allein gelassen“, da die üblichen schulischen Kommunikationswege stark eingeschränkt sind. Fast alles läuft über den Online-Unterricht und grade leistungsschwächere Schüler:innen verlieren mehr und mehr den Anschluss. Es fehlt an persönlichem Kontakt und Kommunikation zwischen Lehrenden und Schüler:innen, ebenso an Hilfestellungen durch die Eltern und Lehrkräfte. Auch der Austausch mit Mitschüler:innen im schulischen Kontext bleibt fast vollständig aus. Viele Kinder und Jugendliche bräuchten mehr Unterstützung, können diese aber nicht bekommen, da ihre Eltern entweder einen zu niedrigen Bildungsstand haben oder den ganzen Tag arbeiten. Auch die häusliche und schulische (technische) Ausstattung ist nicht immer optimal, sodass dort besonders die Unterschiede und Ungleichheiten auffallen. Viele Familien müssen sich ein technisches Endgerät teilen, was bedeutet, dass die Schulaufgaben nur im Schichtwechsel bearbeitet werden können.  Dabei spielen auch die finanziellen Mittel der Familien eine große Rolle, denn finanziell besser gestellte Familien verfügen oftmals über mehrere Endgeräte und Zugangsmöglichkeiten zum Online-Unterricht. Zusätzlich können Eltern in Akademikerfamilien eher im Homeoffice arbeiten und ihr Kind unterstützen, als Eltern aus schwächer aufgestellten Familien.

Zusätzlich bietet sich nicht immer das optimale Lernumfeld an, beispielsweise durch beengte Wohnverhältnisse oder viele Personen in einem Haushalt. Gerade Schüler.innen, die leistungsschwächer sind und vielleicht aus bildungsschwächeren Schichten kommen, verlieren immer mehr die Lust am Lernen, da sich langfristig kaum Lernerfolge einstellen. Dazu kommt, dass die Ablenkung zuhause deutlich größer ist als in der Schule. Gerade jüngeren Schüler:innen fällt die Eigenmotivation und Selbstorganisation deutlich schwerer. Ältere Schüler:innen können auf ihre Erfahrungen im Schulablauf zurückgreifen, wohingegen die Jüngeren deutlich mehr Anleitung brauchen. Zudem fehlt im Schulalltag die Regelmäßigkeit und Routine durch die wechselnden Schulschließungen oder Halbgruppenregelungen. Auch Schüler:innen mit Sprachbarrieren oder körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen haben zusätzliche Schwierigkeiten.

Wie auch schon die Bildungswissenschaftler:innen mit ihrer Expertenmeinung anmerken, müsste es eine viel stärkere Einbeziehung der Eltern in den Lernprozess der Kinder geben, sofern diese Doppelbelastung ihnen zumutbar ist. Auch Lehrende müssten besser über geeignete Kanäle mit Eltern und Schüler:innen kommunizieren, um der weitgreifenden Heterogenität entgegenzuwirken. Diese Kanäle müssten individuell abgesprochen werden, um eine größtmögliche Transparenz zwischen Lehrenden und Lernenden zu gewährleisten und um einer immer größeren Schere zwischen leistungsstarken- und leistungsschwachen Schüler:innen vorzubeugen. Konkret wird sich die Spannbreite der Heterogenität in den einzelnen Schulverbänden aber erst zeigen, wenn die Schüler:innen wieder zur Schule gehen dürfen und ein Vergleich mit den Mitschüler:innen und Anforderungsmaßstäben besteht.