I. Warum wird Heterogenität im schulischen Kontext häufig als „Herausforderung“, die bewältigt werden muss, wahrgenommen?

Im schulischen Kontext wird Heterogenität häufig als „Herausforderung“, die es zu bewältigen gilt, wahrgenommen. Schüler:innen unterscheiden sich in ihren Lernvoraussetzungen voneinander, beispielweise durch die Individualität und Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihres Alters, Geschlechts oder ihrer ethnischen, kulturellen und sozialen Herkunft. Auch ihre Motivation, ihre Interessen und ihre Leistungsfähigkeit sind verschieden. Diese Vielfalt ist im schulischen Kontext der Einschätzung der Lehrkräfte unterworfen, was eine besondere Herausforderung für beide Seiten darstellt.

Maßgebend in diesem Zusammenhang ist das Spannungsfeld von Hetero- und Homogenität in der Wahrnehmung der Lehrenden, in welcher  teils eine bewusste oder unbewusste Idealvorstellung von Homogenität transportiert wird. In dieser Vorstellung ist die Individualität der Schüler:innen eine anspruchsvolle Realität, die durch die Entdeckung von Gemeinsamkeiten einer Gemeinschaft gebändigt werden muss. Diese Komplexität führt in manchen Fällen zur Überforderung der Lehrkräfte, so dass diese auf Stereotypen und Erfahrungswerte zurückgreifen, um eine gewisse Grundstruktur und Ordnung innerhalb einer Gruppe zu schaffen. Diese „Rettungsanker“ kennzeichnen Abweichungen von den Normerfahrungen als Störfaktoren und bilden damit gleichzeitig einen Grundstein für Diskriminierung und Vorurteile gegenüber Schüler:innen.

Um einem solchen Überforderungsphänomen der Lehrkräfte entgegenzuwirken, muss Homogenität als Strukturprinzip von Schule verstanden werden. Somit erscheint lediglich die äußere Form als Einheitlichkeit, welche aber Differenzierungen im Inneren zulässt und damit nur eine Art „gedachte Homogenität“ darstellt. So können Klassenverbände losgelöst von ganzen Jahrgangsstufen behandelt werden und einzelne Schüler:innen unabhängig vom Gesamtkonzept Schule.

Katharina Walgenbach hat die Bedeutungsdimensionen von Heterogenität und die damit einhergehenden Herausforderungen in vier wissenschaftlichen Dimensionen sehr treffend zusammengefasst. Auf didaktischer Bedeutungsebene zählt demzufolge vor allem die innere Differenzierung, die die konkrete Unterscheidung von einzelnen Schüler:innen und das zieldifferente Lernen umfasst. Auf deskriptiver Bedeutungsebene haben auch die pädagogisch zu beachtenden Unterschiede individueller Persönlichkeitsmerkmale und Effekte gesellschaftlicher Entwicklungen Einfluss auf die Lernmöglichkeiten und -voraussetzungen der einzelnen Schüler:innen. Dies können zum Beispiel der soziokulturelle Hintergrund, das Geschlecht oder das Alter sein. Auch soziale Ungleichheiten, die aus dem Umfeld der Einzelnen an die Schule herangetragen werden, bilden Hindernisse auf ungleichheitskritischer Bedeutungsebene, die in der Schule aufgegriffen werden. So muss sich eine Lehrkraft mit den familiären Hintergründen von Schüler:innen genauso konfrontiert sehen, wie mit deren schulischen Leistungen. Heterogenität kann nach Katharina Wagenbach somit in der normativen/evaluativen Bedeutungsdimension als eine Chance, Herausforderung oder Belastung verstanden werden. Aufgabe der Schulen ist es somit nicht die Schüler:innen zu ändern, sondern ihre Individualität und Vielfalt in das Schulgeschehen einzubeziehen und einen verbesserten Umgang mit Heterogenität zu gewährleisten, was eben eine gewisse „Herausforderung“ darstellt.

II. Was ist der „Konstruktionscharakter“ von Heterogenität?

Weiter lässt sich der „Konstruktionscharakter“ von Heterogenität heranziehen. Was genau ist damit gemeint? Heterogenität ist abhängig von expliziten oder impliziten Maßstäben, die um eine Einheitlichkeit, also Homogenität, herum konstruiert sind. Das bedeutet, dass die Vorstellung von Heterogenität immer eine Norm als Vergleichswert beinhaltet. Diese Norm stellt immer das „Normale“, das „Übliche“, das „Grundlegende“ dar. Die Heterogenität steht zu dieser in Differenz, bildet also einen Streuwert um die Norm herum. Zur Bestimmung von Heterogenität muss daher der Kontext einbezogen werden, wie z.B. in der Schule bestimmte institutionalisierte Wert- oder Leistungsmaßstäbe. Allerdings ist die Vorstellung zu eng, dass Schüler:innen an sich „heterogen seien“, denn Unterschiede sind keine individuellen Merkmale, sondern Resultat sogenannter sozialer Konstruktionen. Was nämlich jeweils als heterogen angesehen wird, ist das Ergebnis sozialer Vorstellungen.

III. Welche Erfahrungen im Umgang mit der Corona bedingten Ungleichheit der Bildungschancen von Schüler:innen machen Sie aktuell in ihrem Umfeld? Bitte reflektieren Sie diese mit Bezug auf die Stellungnahme der Bildungswissenschaftler:innen: https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/das-deutsche-schulbarometer-hurrelmann-dohmen-corona-krise-verstaerkt-bildungsungleichheit/

Auch die Corona-Pandemie fordert nun schon seit über einem Jahr ihren Tribut. Erfahrungen mit der Ungleichheit der Bildungschancen vieler Schüler:innen hat mittlerweile nahezu jeder schon gemacht. In meinem persönlichen Umfeld geraten Schüler:innen an ihre Grenzen. Viele fühlen sich „allein gelassen“, da die üblichen schulischen Kommunikationswege stark eingeschränkt sind. Fast alles läuft über den Online-Unterricht und grade leistungsschwächere Schüler:innen verlieren mehr und mehr den Anschluss. Es fehlt an persönlichem Kontakt und Kommunikation zwischen Lehrenden und Schüler:innen, ebenso an Hilfestellungen durch die Eltern und Lehrkräfte. Auch der Austausch mit Mitschüler:innen im schulischen Kontext bleibt fast vollständig aus. Viele Kinder und Jugendliche bräuchten mehr Unterstützung, können diese aber nicht bekommen, da ihre Eltern entweder einen zu niedrigen Bildungsstand haben oder den ganzen Tag arbeiten. Auch die häusliche und schulische (technische) Ausstattung ist nicht immer optimal, sodass dort besonders die Unterschiede und Ungleichheiten auffallen. Viele Familien müssen sich ein technisches Endgerät teilen, was bedeutet, dass die Schulaufgaben nur im Schichtwechsel bearbeitet werden können.  Dabei spielen auch die finanziellen Mittel der Familien eine große Rolle, denn finanziell besser gestellte Familien verfügen oftmals über mehrere Endgeräte und Zugangsmöglichkeiten zum Online-Unterricht. Zusätzlich können Eltern in Akademikerfamilien eher im Homeoffice arbeiten und ihr Kind unterstützen, als Eltern aus schwächer aufgestellten Familien.

Zusätzlich bietet sich nicht immer das optimale Lernumfeld an, beispielsweise durch beengte Wohnverhältnisse oder viele Personen in einem Haushalt. Gerade Schüler.innen, die leistungsschwächer sind und vielleicht aus bildungsschwächeren Schichten kommen, verlieren immer mehr die Lust am Lernen, da sich langfristig kaum Lernerfolge einstellen. Dazu kommt, dass die Ablenkung zuhause deutlich größer ist als in der Schule. Gerade jüngeren Schüler:innen fällt die Eigenmotivation und Selbstorganisation deutlich schwerer. Ältere Schüler:innen können auf ihre Erfahrungen im Schulablauf zurückgreifen, wohingegen die Jüngeren deutlich mehr Anleitung brauchen. Zudem fehlt im Schulalltag die Regelmäßigkeit und Routine durch die wechselnden Schulschließungen oder Halbgruppenregelungen. Auch Schüler:innen mit Sprachbarrieren oder körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen haben zusätzliche Schwierigkeiten.

Wie auch schon die Bildungswissenschaftler:innen mit ihrer Expertenmeinung anmerken, müsste es eine viel stärkere Einbeziehung der Eltern in den Lernprozess der Kinder geben, sofern diese Doppelbelastung ihnen zumutbar ist. Auch Lehrende müssten besser über geeignete Kanäle mit Eltern und Schüler:innen kommunizieren, um der weitgreifenden Heterogenität entgegenzuwirken. Diese Kanäle müssten individuell abgesprochen werden, um eine größtmögliche Transparenz zwischen Lehrenden und Lernenden zu gewährleisten und um einer immer größeren Schere zwischen leistungsstarken- und leistungsschwachen Schüler:innen vorzubeugen. Konkret wird sich die Spannbreite der Heterogenität in den einzelnen Schulverbänden aber erst zeigen, wenn die Schüler:innen wieder zur Schule gehen dürfen und ein Vergleich mit den Mitschüler:innen und Anforderungsmaßstäben besteht.