RV07 | Lässt sich „Heterogenität“ im Klassenzimmer beobachten?

I. Welche theoretischen Schwierigkeiten ergeben sich bei dem Versuch, „Differenz“ oder „Heterogenität“ im Schulkontext identifizieren und beobachten zu wollen? Und was hat dies mit „Differenz“ oder „Heterogenität“ als Gegenstand selbst zu tun?

Ausgehend vom Problemkontext, dass Heterogenität sowieso im schulischen Rahmen als pädagogisch-didaktische Herausforderung betrachtet wird, ist auch der theoretische Differenzbegriff als solche anzusehen. Dies führt zur zentralen Frage: Was ist und bedeutet „Differenz“ überhaupt? Die etymologische Wortbedeutung bezeichnet Differenz als „Unterschied […], entlehnt aus [dem lateinischen Wort] differentia, einem Abstraktum zu […] differre, [und bedeutet so viel wie] unterscheiden [und] auseinandertragen.“ [1]

Differenz ist folglich damit immer das Ergebnis eines Unterscheidungsvorgangs, welcher auf gesellschaftlicher und sozial hergestellter Deutung beruht. [2] Grundlage dieser gesellschaftlichen Unterscheidungsprozesse sind historische Kontinuitäten, die festlegen, wie und was wir unterscheiden. Konkret wird damit im Vorgang des Unterscheidens etwas auseinandergetragen, d. h. „Differenzen fallen in binäre, hierarchisierte Codierungen auseinander und verdecken ein Kontinuum.“ [3] Das bedeutet, dass sich immer zwei Extreme konträr gegenüberstehen. Als Beispiel lassen sich hier Wohlhabend und Arm, Nord und Süd, Männlich und Weiblich nennen. Das zuerst Genannte (hier Geschriebene) hat damit immer die vorherrschende Stellung inne und das Zweitgenannte (oder Geschriebene) bildet damit immer die Abweichung. Durch solche Gegenüberstellungen artikulieren sich unteranderem auch gesellschaftliche Machtverhältnisse. Das Verdecken eines Kontinuums beschreibt in diesem Kontext das Nichtbeachten von Zwischenstufen zwischen den Extrempunkten. Es wird lediglich die extreme Unterscheidung strickt durchgesetzt, sodass das Resultat der gehemmte Umgang mit Differenzen ist.

Im schulischen Kontext ist eine Einteilung der Schüler:innen in Extreme sehr kritisch zu betrachten. Jede:r Schüler:in stellt ein Individuum innerhalb der Klassengemeinschaft dar und sollte auch als dieses behandelt werden. Ausgangslage der Beobachtung einer Lerngruppe ist also grundsätzlich die Unterscheidung von außen. Daher sollte sich die Lehrkraft immer bewusst machen, dass Unterscheidungen immer einem praktischen Zweck dienen und innerhalb einer sozialen Situation künstlich vom Beobachtenden hergestellt werden. Daher ist hier anstatt des Differenzbegriffs eher der Begriff der „Differenzierung“ anzuwenden. Ebenso statt „Heterogenität“ der Begriff „Heterogenisierung“. [4] Somit werden Zwischenschritte erlaubt und Schüler:innen nicht in Extremen eingeteilt.

Zudem stellt sich die Frage, ob „Differenz“ als Gegenstand der Beobachtung fungieren kann. Differenzierung begreifen wir im Anschluss an die Praktikentheorie als ein soziales Handeln. [5] Soziales Handeln ist Gegenstand von „Getanem und Gesagtem“. [6] Reckwitz schlüsselt dies nochmal genauer auf, indem er Praktiken „als know-how abhängige und von einem praktischen Verstehen zusammengehaltene Verhaltensroutinen (…)“ beschreibt, „(…) deren Wissen einerseits in den Körpern der Subjekte ‚inkorporiert‘ ist [und] die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen.“ [7] Das bedeutet übersetzt, dass wir über vieles im Alltag, was wir tun oder sagen, nicht nachdenken, da es „automatisch“ geschieht und innerhalb von Routinen abläuft. Unser soziales Handeln ist damit immer ausgelegt auf intersubjektive Verständlichkeit und Anschlussfähigkeit aneinander und damit gleichzeitig auch auf die Normativität der Praktiken. Wir deuten uns also, wie wir uns verstehen und wie wir auch verstanden werden wollen. [8] Damit erhält Differenzierung auch einen normativen-subjektivierenden Zug, welcher sich uns selbst als Subjekte verstehen lässt und auch Schüler und Schülerinnen als „freie und unabhängige Individuen“ betitelt. Diese Idee der Subjekthaftigkeit ist nach  Frau Dr. Nadine Rose jedoch ein lebenslanger Prozess, der auch an gesellschaftliche Erwartungen geknüpft ist, die schon mit der Geburt eintritt. Herausforderung für die Schüler:innen und auch Lehrkräfte ist es mit diesen Erwartungen umzugehen und mit ihnen im System Schule zurechtzukommen. Darum kann es weniger um „Differenz“ gehen, sondern viel mehr um „Praktiken der Differenzierung“. Ebenso kann so die Beobachtung zukunftsoffen und prozessorientiert ablaufen.[9]

II. Welche Differenz-Kategorien legen Sie vermutlich – eher unbewusst – im Blick auf Ihre zukünftigen Schüler:innen an und welche erweisen sich – nach Ihrem bisherigen Kenntnisstand – warum als eher problematisch als andere?

Eine Differenz-Kategorie, die vermutlich unbewusst aufgestellt wird, ist die Unterscheidung in leistungsstarke und leistungsschwache Schüler, also „gut“ oder „schlecht“. Jedoch hat die Mitarbeit im Unterricht, anhand derer vermutlich diese Unterteilung gemessen wird, nichts mit den kognitiven oder intellektuellen Fähigkeiten der Schüler:innen zu tun. Fleißige Schüler:innen, die den Unterricht gut mitgestalten, werden innerhalb dieser Differenz-Kategorie vermutlich besser bewertet als Schüler:innen, die nicht so gut mitarbeiten. Umgekehrt wird eine größere Erwartungshaltung an fleißige Schüler:innen gestellt und mehr Wissen oder Können vorausgesetzt.

Eine weitere Differenz-Kategorie könnte das Alter von Schüler:innen sein. Als Lehrkraft traut man automatisch älteren Schüler:innen mehr zu, als Jüngeren. Durch die Schulreformen und den Strukturwandel in Schule kann dies jedoch nicht immer auf alle Schüler:innen angewendet werden. So können beispielsweise Schüler:innen, die G8 machen, auf demselben Wissensstand sein wie Schüler:innen, die G9 machen. Oder auch Schüler:innen die als Seiteneinsteiger neu in eine Klasse  kommen und deutlich jünger/älter sind, können über genauso viel Wissen verfügen, wie ihre Mitschüler:innen. Auch spielt dort die Körpergröße eine Rolle. Je größer ein:e Schüler:in, desto eher wird er oder sie älter eingeschätzt, als er oder sie ist.

Ferner sind auch Differenz- Kategorien hinsichtlich des Geschlechts kritisch zu betrachten. Mädchen wird im Unterricht oft ein ruhigeres und diszipliniertes Verhalten nachgesagt. Jungen hingegen eine größere Unruhe und Unaufmerksamkeit. Dadurch kann es bei der Leistungsbewertung zu Ungerechtigkeiten kommen, wenn z.B. ein männlicher Schüler und eine weibliche Schülerin gleich stark mitarbeiten, aber das Geschlecht für die Endnote ausschlaggebend ist und das Mädchen besser bewertet wird, als der Junge. Auch Bevorzugung von Schüler:innen durch Sympathie oder Vernachlässigung von Schüler:innen durch Antipathie kann hier als Differenz-Kategorie genannt werden.

Zusätzlich kann auch das Aussehen von Schüler:innen in Bezug auf ihren sozio-ökonomischen Hintergrund als Differenz-Kategorie angeführt werden. Schüler:innen, die dementsprechend deutliche äußere oder sprachliche Merkmale  aufweisen, werden eventuell eher als leistungsschwächer einkategorisiert, als Schüler:innen, die diese nicht haben. Auch so kann eine unbewusste Differenz stattfinden.

III. Würde sich die Interpretation der im Vortrag zugrunde gelegten Szene der „Gruppenarbeit in Klasse P“ aus Ihrer Sicht verändern (und wenn ja, wie), wenn Sie sie explizit unter der Aufmerksamkeitsrichtung der Bedeutung von „Migrationshintergrund“ oder „Gender“ in Unterricht zu lesen versuchten?

In der „Gruppenarbeit in Klasse P“ spielen hierarchisierende Strukturen und die Kontrastierung der Leistungsbereitschaft der Schüler:innen eine Rolle. In einer „inszenierten“ Gruppenarbeit werden deutliche Rollenunterschiede zwischen den weiblichen und männlichen Schüler:innen sichtbar. Die beiden Schülerinnen, Alina und Mia, nehmen „Quasi-Lehrerinnen“-Rollen ein, währen die Schüler, Hatif und Leon, „Quasi-Schüler“-Rollen verkörpern. Die Bearbeitung der Aufgabe erfolgt im Modus „Theaterspiel“ und ermöglicht den vier Schüler:innen eine Distanzierung und Ironisierung gegenüber der Arbeitsaufgabe. Es geschehen Sanktionierungen untereinander, indem Alina beispielsweise Hatif fragt „Hatif, was habe ich gesagt?“ oder ihn mahnt gut zuzuhören. [10]

Unter dem Gesichtspunkt „Migrationshintergrund“ oder „Gender“ wäre eine andere Interpretation der Situation möglich. Hatifs ausländisch klingender Name lässt auf einen Migrationshintergrund des Schülers schließen. Alinas Aussagen ihm gegenüber könnten auf noch nicht so gute Deutschkenntnisse hinweisen oder auch als Anspielungen auf ein Defizit verstanden werden. Der Satz „Jeder hört zu“ appelliert damit explizit an seine auditiven Fähigkeiten und verweist gleichzeitig auf seine Herkunft und Andersartigkeit. Ebenfalls würde Alina Hatif mit ihren Aussagen vor der laufenden Kamera vorführen und ihm seine fehlenden Sprachkenntnisse vor Augen halten. Hatifs Ausbruch am Ende mit dem Satz „Das ist scheiße, mach weiter“ würde in diesem Kontext seinen Unmut über die Situation ausdrücken und deutlich machen, dass er die Aussagen als diskriminierend aufnimmt. Er bricht damit ebenfalls aus der „schwächeren Position“ aus, indem er sich gegen Alina wehrt.

Unter dem Fokus „Gender“ würde im vorliegenden Fallbeispiel Alina ihre Macht in Form des weiblichen Geschlechts demonstrieren, welches ihre schulischen Leitungen in den Vordergrund hebt. In Bezug auf die Lehrkraft, die im Vorfeld schon Alina und Mia zur Gruppenarbeit auffordert und ihnen die Leitungsfunktion der Gruppenarbeit überträgt, würde auch da ein gewisses Ungleichgewicht der Geschlechterpositionen deutlich, sowie eine Bevorzugung des weiblichen Geschlechts gegenüber dem Männlichen. In diesem Sinne würden die weiblichen Personen als leistungsstärker und leitungsfähiger als die männlichen Personen dargestellt werden.

[1] Kluge 1999: 180, Hervorh. i. O.
[2] Rose, Dr. Nadine, in: PPP zur Ringvorlesung 08, Lässt sich „Heterogenität“ im Klassenzimmer beobachten?, Folie 6.
[3] Lutz/Leiprecht 2006: 225.
[4] Rose, Nadine, in: PPP zur Ringvorlesung 08, Lässt sich „Heterogenität“ im Klassenzimmer beobachten?, Folie 6.
[5] Rose, Nadine; Gerkmann, A., in: Differenzierungen unter Schüler_innen, S. 193.
[6] vgl. „nexus of doing and saysings“, Schatzki 2002: 73.
[7] Reckwitz, 2003: 289.
[8] Rose, Nadine, in: PPP zur Ringvorlesung 08, Lässt sich „Heterogenität“ im Klassenzimmer beobachten?, Folie 7.
[9] Rose, Nadine, in: PPP zur Ringvorlesung 08, Lässt sich „Heterogenität“ im Klassenzimmer beobachten?, Folie 8, 9.
[10] Rose, Nadine; Gerkmann, A., in: Differenzierungen unter Schüler_innen, S. 197ff.

1 Kommentar

  1. Kijara

    Vielen Dank Katharina, für deinen reich und sorgfältig recherchierten Beitrag.

    Die erste Teilaufgabe lässt wenig Raum für inhaltliche Ergänzungen, so dass ich zuerst die strukturellen Vorzüge hervorheben möchte. Mir gefällt insbesondere, die Bezugnahme auf „Differenz“ und „Heterogenität als Theorie/Lehre sowie die Anwendung der Konzepte auf praktische oder potentiell wirklichkeitsabbildende Schulkontexte. Die Schwierigkeiten der Identifikation arbeitest du auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau heraus und zeichnest die damit einhergehenden Probleme klar nach.
    Eventuell ließe sich noch einbringen, dass prädefinierte Differenzierungskategorien der Beobachter*innen wie etwa Sympathien etc., nicht in ausreichender Ausprägung beobachtet werden können oder trotz Existenz durch andere Phänomene überlagert oder eben durch die agierenden Schüler*innen nicht zum Ausdruck gebracht werden. Konkret entstände dadurch die Schwierigkeit, gewisse antizipierte Differenzierungen kaum oder gar nicht beobachten zu können und mit Modalitäten konfrontiert zu werden, die bei der Planung der Feldbeobachtung keinerlei Aufmerksamkeit erfuhren. Um meine Anmerkung in ihrer Relevanz einzuordnen, ist die Ausführlichkeit und inhaltliche Vollständigkeit deines ersten Teils klar darüber zu stellen.

    Bei der anschließenden Teilaufgabe, möchte ich fehlende Persönlichkeit beziehungsweise Hinzuziehung deiner individuellen Differenzierungsmuster kritisieren. Als Lesende gewinnt man einen guten Eindruck von der Fülle der Kategorien und wie diese zutage treten können, dennoch verbleiben deine Darstellungen auf einer zu abstrakt-theoretischen Sphäre. Ich nehme an, dass neu hinzugetretene Kategorien, also andere als in der Vorlesung und in der Begleitlektüre genannte, deiner eigenen Erfahrung oder Antizipation entstammen. Dass also dem Alter oder der Körpergröße der Schüler*innen Relevanz zuzuweisen, vorstellbar für neue Lehrer*innen ist, sofern man sich dessen noch nicht ausreichend bewusst ist. Insgesamt abreitest du sehr schön die Problematik mit der Differenz-Kategorien einhergehen heraus und wie diese Kategorien unbewusst von den Lehrenden (re-)produziert werden.

    Die letzte Teilaufgabe schließt sich der Qualität der vorangegangen an. Der beginnende Paragraph fasst inhaltlich und interpretativ sehr pointiert den betreffenden Kontext/Szene zusammen. Ich würde noch ergänzen, dass bei einer Beobachtung unter der Fahne von „Gender“, viele Situationen geschlechtlich codiert verstanden werden würden und folglich in der Interpretation dieser Kategorie einen größeren Stellenwert beigemessen. Ich könnte mir vorstellen, dass Hatif, dem wir aufgrund seines Namens einen Migrationshinweis unterstellen, durch seinen brechenden Ausruf und dessen rohe Formulierung, im Zuge einer Beobachtung mit Fokus auf die jeweilige Herkunft der Schüler*innen ein Aggressionspotential zugeschrieben werden könnte, dass gemäß der Szene keinerlei sonstige Argumentationsbasis gewinnt. Die Gefahr nach statischen Kategorien, also solche die durch die Schüler*innen nicht beeinflussbar oder veränderbar sind, wie Gender und Migrationshistorie, zu differenzieren und insbesondere „falsch“ zu differenzieren ist besonders problematisch, da diese für eine wirklichkeitsnahe Interpretation eher ungeeignet und Kontexte verzerren oder künstlich kreieren.

    All in all ein wirklich gelungener Blogbeitrag, der alle Lektüren umfasst und getätigte Aussagen gründlich belegt und an passenden Stellen durch eigene Ideen unterfüttert.
    Beste Grüße,
    Kijara 🙂

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