1. Intelligenz und Vorwissen zählen zu den zentralen kognitiven Lernvoraussetzungen. Während Intelligenz als die Fähigkeit zur Problemlösung und zum abstrakten Denken verstanden wird, beschreibt Vorwissen das themenspezifisch erworbene Fakten- und Konzeptwissen. Erfolgreiches Lernen basiert auf dem Zusammenspiel beider Faktoren. Vorwissen ist häufig der stärkere Prädiktor für schulischen Lernerfolg als Intelligenz (Langfeldt 2006, S. 40; Gruber / Stamouli 2006, S. 39). Eine Studie von Schneider, Körkel und Weinert (1989) zeigte, dass Schüler:innen mit hohem Vorwissen, aber durchschnittlicher Intelligenz, bei einer Gedächtnisaufgabe im Schnitt besser abschnitten als intelligentere, aber fachfremde Kinder. Des kann also gesagt werden, dass Kinder aus anregungsärmeren Haushalten einen direkt sichtbaren Nachteil beim Lernen haben als Kinder aus anregungsstarken Haushalten, dieser Diskrepanz gilt es, auch im Unterricht, durch den Aufbau möglichst reichhaltige Lebenswelterfahrungen entgegenzuwirken. Intelligenz und Vorwissen wirken allerdings nicht additiv, sondern vielmehr interaktiv. Intelligenz erleichtert es, neues Wissen aufzunehmen und zu strukturieren – doch ohne relevantes Vorwissen bleibt diese Fähigkeit oft ungenutzt. Es besteht eine Art „Wechselwirkung“ beider Faktoren (vgl. Langfeldt 2006, S. 39 f.). Intelligenz ist dabei als Lernpotenzial zu verstehen und das Vorwissen als inhaltliche Grundlage (vgl. Langfeldt 2006, S. 39 f.). Gruber und Stamouli (2009, S. 39) ziehen einen meiner Meinung nach schlüssigen Vergleich, demnach gilt: „je mehr Anknüpfungspunkte sich im vorhandenen Wissen finden,
umso leichter kann neuer Lernstoff in bedeutungsvoller Weise in die vorhandenen Strukturen integriert werden“ (vgl. Gruber / Stamouli 2006, S. 39).
Empirische Befunde
Langfeldt (2006, S. 39 ff.) betont die zentrale Bedeutung des spezifischen Vorwissens für den schulischen Lernerfolg. Lernleistungen lassen sich demnach am zuverlässigsten durch bereits erbrachte Leistungen vorhersagen, das heißt wer heute in einem Fachbereich kompetent ist, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig Erfolg in diesem Bereich. Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden somit eine Art selbstverstärkende Grundlage für weiteres Lernen (vgl. Langfeldt 2006, S. 39 ff.). Im Verlauf der Schulzeit zeigt sich jedoch eine verschiebende Gewichtung kognitiver Einflussfaktoren: Während zu Beginn die allgemeine Intelligenz einen relativ starken Einfluss auf das Lernen hat – etwa beim schnellen Erfassen neuer Inhalte oder beim Lösen unbekannter Aufgaben – gewinnt mit zunehmender Lerndauer das bereichsspezifische Vorwissen an Bedeutung. „Je länger gelernt wird, desto mehr nimmt die Bedeutung des spezifischen Vorwissens zu und die der Intelligenz ab“ (Langfeldt, 2006, S. 40 f.). Langfristiger schulischer Erfolg scheint also weniger von allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten als vielmehr von kontinuierlich aufgebautem, inhaltlich fundiertem Wissen abzuhängen.
In einer groß angelegten Längsschnittstudie mit über 70.000 britischen Schüler:innen fanden sie eine signifikante Korrelation zwischen der gemessenen Intelligenz im Alter von 11 Jahren und den Abschlussnoten im Alter von 16 Jahren (vgl. Deary et. al. 2007). Dies verdeutlicht, dass Intelligenz durchaus ein relevanter Frühindikator für schulischen Erfolg ist, vor allem, wenn noch wenig fachliches Vorwissen aufgebaut wurde. Setzt man beide Studien in Beziehung, ergibt sich ein differenziertes Bild. Dabei ist Intelligenz besonders in früheren Schuljahren ein wichtiger Prädiktor für Schulerfolg, da sie das schnelle Verstehen neuer Inhalte erleichtert. Langfristig übernimmt jedoch das immer weiter ausgebaute, spezifische Vorwissen zunehmend die Hauptrolle.
2. In meinem Praktikum fiel mir besonders auf, wie stark das Vorwissen der Schüler:innen variiert – besonders in offenen Aufgabenformaten ist dieser Unterschied deutlich geworden. Während einige Kinder (1. Klasse), die schon sinnentnehmend Lesen konnten, deutliches außerschulisches Vorwissen zu einem Thema aufgebaut hatten, haben andere Kinder keine Vorstellung zu den Konzepten vorweisen können. Ich selbst habe im Matheunterricht, für mich selbstverständliche, Konzepte oder Rechenmethoden vorausgesetzt und diese bei der Einführung nicht weiter erklärt, als allerdings konkrete Aufgaben bearbeitet werden sollte, fiel auf, dass etwa die Hälfte der Klasse Probleme hatte die Aufgabe nach den angegebenen Methoden zu lösen. Eine anschauliche Erklärung des Konzeptes half den Schüler:innen dabei ein konkretes Bild der zugrundeliegenden Methode zu entwickeln um die Aufgabe lösen zu können.
3. Überraschend war für mich, wie unterschätzt die Rolle von Vorwissen im Schulalltag häufig ist. Die Lernprozesse nicht als lineare und kausale Abfolgen zu betrachten, sondern als adaptiven Prozess hat mir die Relevanz von Vorwissen klar gemacht. Daraus ergibt sich auch der didaktische Schluss, sich mit den Beispielen und Unterrichtsgestaltungen möglichst an den Lebenswelten der Kindern zu orientieren. Der Unterricht darf sich nicht am Durchschnittsschüler orientieren, wenn er alle erreichen will (vgl. Helmke, 2009).
Forschungsfragen:
Wie kann man das Vorwissen effizient erfassen, ohne zu viel Unterrichtszeit zu verlieren?
Welche Lernformen unterstützen Schüler:innen mit geringem Vorwissen besonders effektiv?
4. Weinert (1997) unterscheidet vier Reaktionsformen auf Leistungsheterogenität:
Passiv: Keine Anpassung, z. B. bei reiner Stoffdurchnahme im Frontalunterricht ohne Rücksicht auf Vorkenntnisse.
Substitutiv: Homogenisierung, etwa durch Bildung von Fördergruppen auf Basis eines Tests.
Aktiv: Spontane Unterstützung, z. B. durch individuelle Hilfestellungen im Unterrichtsgespräch.
Proaktiv: Differenzierte Planung, z. B. durch Aufgaben auf drei Niveaustufen mit klaren Lernzielen und Zeitfenstern.
Leutner (1992) schlägt eine Einteilung nach Ziel und Umsetzung vor:
Förderung: Mathematisch begabte Schüler:innen erhalten anspruchsvollere Knobelaufgaben.
Kompensation: Kinder mit Leseproblemen bekommen zusätzliche Lesetrainings.
Präferenz: In offenen Lernangeboten (z. B. Projektarbeit) wählen SuS entsprechend ihrer Interessen und Stärken.
Literatur:
Gruber, H., & Stamouli, E. (2009). Intelligenz und Vorwissen. In Wild & Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie, S. 25–44.
Langfeldt, H. P. (2006). Psychologie für die Schule. Weinheim: Beltz. Kapitel 2 & 3.
Schneider, W., Körkel, J., Weinert, F. E. (1989). Domain-specific knowledge and memory performance. Journal of Educational Psychology, 81, 306–312.
Deary, I. J.; Strand, S.; Smith, P.; Fernandes, C. (2007). Intelligence and educational achievement. In: Intelligence, 35(1), 13–21.
Weinert, F. E. (1997). Notwendige Methodenvielfalt. In: Friedrich-Jahresheft, 50–52.
Leutner, D. (1992). Adaptive Lehrsysteme. Weinheim: Beltz.
Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Seelze-Velber: Klett-Kallmeyer.