Kategorie: Allgemein

  • RV07- Blogeintrag zum 26.05.2025

    1. Intelligenz und Vorwissen zählen zu den zentralen kognitiven Lernvoraussetzungen. Während Intelligenz als die Fähigkeit zur Problemlösung und zum abstrakten Denken verstanden wird, beschreibt Vorwissen das themenspezifisch erworbene Fakten- und Konzeptwissen. Erfolgreiches Lernen basiert auf dem Zusammenspiel beider Faktoren. Vorwissen ist häufig der stärkere Prädiktor für schulischen Lernerfolg als Intelligenz (Langfeldt 2006, S. 40; Gruber / Stamouli 2006, S. 39). Eine Studie von Schneider, Körkel und Weinert (1989) zeigte, dass Schüler:innen mit hohem Vorwissen, aber durchschnittlicher Intelligenz, bei einer Gedächtnisaufgabe im Schnitt besser abschnitten als intelligentere, aber fachfremde Kinder. Des kann also gesagt werden, dass Kinder aus anregungsärmeren Haushalten einen direkt sichtbaren Nachteil beim Lernen haben als Kinder aus anregungsstarken Haushalten, dieser Diskrepanz gilt es, auch im Unterricht, durch den Aufbau möglichst reichhaltige Lebenswelterfahrungen entgegenzuwirken. Intelligenz und Vorwissen wirken allerdings nicht additiv, sondern vielmehr interaktiv. Intelligenz erleichtert es, neues Wissen aufzunehmen und zu strukturieren – doch ohne relevantes Vorwissen bleibt diese Fähigkeit oft ungenutzt. Es besteht eine Art „Wechselwirkung“ beider Faktoren (vgl. Langfeldt 2006, S. 39 f.). Intelligenz ist dabei als Lernpotenzial zu verstehen und das Vorwissen als inhaltliche Grundlage (vgl. Langfeldt 2006, S. 39 f.).  Gruber und Stamouli (2009, S. 39) ziehen einen meiner Meinung nach schlüssigen Vergleich, demnach gilt: „je mehr Anknüpfungspunkte sich im vorhandenen Wissen finden,
    umso leichter kann neuer Lernstoff in bedeutungsvoller Weise in die vorhandenen Strukturen integriert werden“ (vgl. Gruber / Stamouli 2006, S. 39).

    Empirische Befunde

    Langfeldt (2006, S. 39 ff.) betont die zentrale Bedeutung des spezifischen Vorwissens für den schulischen Lernerfolg. Lernleistungen lassen sich demnach am zuverlässigsten durch bereits erbrachte Leistungen vorhersagen, das heißt wer heute in einem Fachbereich kompetent ist, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig Erfolg in diesem Bereich. Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden somit eine Art selbstverstärkende Grundlage für weiteres Lernen (vgl. Langfeldt 2006, S. 39 ff.). Im Verlauf der Schulzeit zeigt sich jedoch eine verschiebende Gewichtung kognitiver Einflussfaktoren: Während zu Beginn die allgemeine Intelligenz einen relativ starken Einfluss auf das Lernen hat – etwa beim schnellen Erfassen neuer Inhalte oder beim Lösen unbekannter Aufgaben – gewinnt mit zunehmender Lerndauer das bereichsspezifische Vorwissen an Bedeutung.  „Je länger gelernt wird, desto mehr nimmt die Bedeutung des spezifischen Vorwissens zu und die der Intelligenz ab“ (Langfeldt, 2006, S. 40 f.). Langfristiger schulischer Erfolg scheint also weniger von allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten als vielmehr von kontinuierlich aufgebautem, inhaltlich fundiertem Wissen abzuhängen.

    In einer groß angelegten Längsschnittstudie mit über 70.000 britischen Schüler:innen fanden sie eine signifikante Korrelation zwischen der gemessenen Intelligenz im Alter von 11 Jahren und den Abschlussnoten im Alter von 16 Jahren (vgl. Deary et. al. 2007). Dies verdeutlicht, dass Intelligenz durchaus ein relevanter Frühindikator für schulischen Erfolg ist, vor allem, wenn noch wenig fachliches Vorwissen aufgebaut wurde. Setzt man beide Studien in Beziehung, ergibt sich ein differenziertes Bild. Dabei ist Intelligenz besonders in früheren Schuljahren ein wichtiger Prädiktor für Schulerfolg, da sie das schnelle Verstehen neuer Inhalte erleichtert. Langfristig übernimmt jedoch das immer weiter ausgebaute, spezifische Vorwissen zunehmend die Hauptrolle.

    2. In meinem Praktikum fiel mir besonders auf, wie stark das Vorwissen der Schüler:innen variiert – besonders in offenen Aufgabenformaten ist dieser Unterschied deutlich geworden. Während einige Kinder (1. Klasse), die schon sinnentnehmend Lesen konnten, deutliches außerschulisches Vorwissen zu einem Thema aufgebaut hatten, haben andere Kinder keine Vorstellung zu den Konzepten vorweisen können. Ich selbst habe im Matheunterricht, für mich selbstverständliche, Konzepte oder Rechenmethoden vorausgesetzt und diese bei der Einführung nicht weiter erklärt, als allerdings konkrete Aufgaben bearbeitet werden sollte, fiel auf, dass etwa die Hälfte der Klasse Probleme hatte die Aufgabe nach den angegebenen Methoden zu lösen. Eine anschauliche Erklärung des Konzeptes half den Schüler:innen dabei ein konkretes Bild der zugrundeliegenden Methode zu entwickeln um die Aufgabe lösen zu können.

    3. Überraschend war für mich, wie unterschätzt die Rolle von Vorwissen im Schulalltag häufig ist. Die Lernprozesse nicht als lineare und kausale Abfolgen zu betrachten, sondern als adaptiven Prozess hat mir die Relevanz von Vorwissen klar gemacht. Daraus ergibt sich auch der didaktische Schluss, sich mit den Beispielen und Unterrichtsgestaltungen möglichst an den Lebenswelten der Kindern zu orientieren. Der Unterricht darf sich nicht am Durchschnittsschüler orientieren, wenn er alle erreichen will (vgl. Helmke, 2009).

    Forschungsfragen:

    Wie kann man das Vorwissen effizient erfassen, ohne zu viel Unterrichtszeit zu verlieren?

    Welche Lernformen unterstützen Schüler:innen mit geringem Vorwissen besonders effektiv?

    4. Weinert (1997) unterscheidet vier Reaktionsformen auf Leistungsheterogenität:
    Passiv: Keine Anpassung, z. B. bei reiner Stoffdurchnahme im Frontalunterricht ohne Rücksicht auf Vorkenntnisse.
    Substitutiv: Homogenisierung, etwa durch Bildung von Fördergruppen auf Basis eines Tests.
    Aktiv: Spontane Unterstützung, z. B. durch individuelle Hilfestellungen im Unterrichtsgespräch.
    Proaktiv: Differenzierte Planung, z. B. durch Aufgaben auf drei Niveaustufen mit klaren Lernzielen und Zeitfenstern.

    Leutner (1992) schlägt eine Einteilung nach Ziel und Umsetzung vor:
    Förderung: Mathematisch begabte Schüler:innen erhalten anspruchsvollere Knobelaufgaben.
    Kompensation: Kinder mit Leseproblemen bekommen zusätzliche Lesetrainings.
    Präferenz: In offenen Lernangeboten (z. B. Projektarbeit) wählen SuS entsprechend ihrer Interessen und Stärken.

     

    Literatur:

    Gruber, H., & Stamouli, E. (2009). Intelligenz und Vorwissen. In Wild & Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie, S. 25–44.
    Langfeldt, H. P. (2006). Psychologie für die Schule. Weinheim: Beltz. Kapitel 2 & 3.
    Schneider, W., Körkel, J., Weinert, F. E. (1989). Domain-specific knowledge and memory performance. Journal of Educational Psychology, 81, 306–312.
    Deary, I. J.; Strand, S.; Smith, P.; Fernandes, C.  (2007). Intelligence and educational achievement. In: Intelligence, 35(1), 13–21.
    Weinert, F. E. (1997). Notwendige Methodenvielfalt. In: Friedrich-Jahresheft, 50–52.
    Leutner, D. (1992). Adaptive Lehrsysteme. Weinheim: Beltz.
    Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Seelze-Velber: Klett-Kallmeyer.

  • RV05 Blogbeitrag zum 12.05.2025

    1) Das schulische Parallelsystem in der Provinz Bozen stell ein Spannungsfeld innerhalb des Bemühens um ein inklusives Bildungssystem dar. Während die sich die Autonomie auf den Schutz und Erhalt der sprachlichen und kulturellen Identitäten der drei Sprachgruppen (Deutsch, Italienisch, Ladinisch) stützt, führt eine organisatorische Trennung in der Praxis zu einer segmentierten Bildungserfahrung, die Chancenungleichheiten und soziale Auftrennung verstärken kann (vgl. Seitz 2025, Folie 12). Ein inklusives System basiert allerdings auf der Idee, dass alle Kinder – unabhängig von sämtlichen Heterogenitätsmerkmalen – gemeinsam lernen und auf diese Weise soziale Geschlossenheit und gegenseitiges Verständnis gestärkt werden (vgl. Prengel, 2019, S. 45 f.). Die institutionalisierte Trennung nach Sprache steht daher in Spannung zu den Prinzipien der Inklusion, da sie den Austausch, das gemeinsame Lernen und die Teilhabe aller Lernenden an denselben Bildungsräumen systematisch erschwert. 

    Die Forschung zeigt, dass gerade heterogene Lernsettings einen positiven Beitrag zum Abbau von Vorurteilen leisten können (Florian & Spratt, 2013, S. 124). In diesem Kontext wäre eine kritisch-reflexive Überprüfung der bestehenden Modelle unter Einbeziehung von inklusionspädagogischen Perspektiven angebracht.

    2) Da die Idee eines inklusiven Bildungssystems das gemeinsame Lernen aller Kinder  – unabhängig von sämtlichen Heterogenitätsmerkmalen – ist, erscheint mir die Fokussierung auf bestimmte Differenzmerkmale wenig sinnvoll. Gerade die Fixierung auf medizinisch-defizitorientierte Diagnosen, führt leicht zur Etikettierung und Stigmatisierung von Kindern und reduziert diese auf ihre Beeinträchtigung (vgl. Prengel, 2019, S. 47 f.). Auf der anderen Seite verfolgen diese diagnostischen Verfahren auch das Ziel spezifische Förderbedarfe zu identifizieren und Ressourcen so zielgerichtet bereitstellen zu können. Es erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll den inklusiven Ansatz weniger als den Fokus auf individuellen Defizite zu verstehen, sondern vielmehr als die Gestaltung barrierefreier Lernumgebungen für alle (vgl. Florian & Spratt, 2013, S. 123). Allerdings ist ein vollständiger Verzicht auf Kategorien nicht realistisch, wohl aber die Notwendigkeit, Diagnosen kritisch zu reflektieren und sie nicht als Ausschlusskriterium, sondern als Ausgangspunkt für flexible Unterstützungssysteme zu betrachten.

    3) Ein zentraler Erfolgsfaktor für inklusiven Unterricht ist die Teamarbeit. Forschungsergebnisse zeigen, dass multiprofessionelle Kooperationen zwischen Lehrpersonen, Sonderpädagog:innen, Sozialarbeiter:innen sowie Erziehungsberechtigten maßgeblich dazu beitragen, die Bedürfnisse heterogener Lerngruppen zu adressieren (vgl. Widmer-Wolf 2014, S. 34 ff.). Dabei ermöglicht Teamarbeit nicht nur den Austausch von Expertise, sondern auch die gemeinsame Entwicklung kreativer und flexibler Unterrichtskonzepte, die auf unterschiedliche Lernvoraussetzungen eingehen, sollte dies allerdings nicht gelingen kann es zu einer Aufteilung der Kinder in kleine Gruppen entlang der Qualifikation des Lehrpersonals kommen (vgl. Widmer-Wolf 2014, S. 34). Insbesondere in komplexer werdenden Lernsituationen, in denen Differenzierungs- und Unterstützungsbedarfe auftreten, kann kollegiale Zusammenarbeit zur Entlastung beitragen und den professionellen Umgang mit Heterogenität fördern, allerdings ist eine solche interprofessionelle Zusammenarbeit maßgeblich von der Gegenseitigen Wetschätzung und dem Austausch zwischen allen Beteiligten abhängig (vgl. ebd., S. 31 ff.). Für eine erfolgreiche Teamarbeit bedarf es also klarer Strukturen, regelmäßiger Absprachen und einer wertschätzenden Teamkultur, die die Expertise aller Beteiligten anerkennt (vgl. ebd.).

    Quellen:

    Florian, L. & Spratt, J. (2013). Enacting Inclusion: A Framework for Interrogating Inclusive Practice. European Journal of Special Needs Education, 28(2), S. 119–135.

    Prengel, A. (2019). Pädagogik der Vielfalt. Inklusive Bildung in der Schule. 6. Aufl. München: Carl Link Verlag.

    Seitz, S. (2025). Inklusive Bildungspraxis in Südtirol / Italien: Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb inklusiver Strukturen. Vortrag: Universität Bremen vom 13.05.2025

    Widmer-Wolf, Patrik: Praxis der Individualisierung. Wie multiprofessionelle Klassenteams Fördersituationen für Kinder im Schulalltag etablieren. Opladen u.a. : Budrich UniPress 2014

  • RV04-Blogeintrag vom 05.05.2025

    Samira interessierte sich eigentlich für die Arbeit mit den Nistkästen – entschied sich dann aber doch für das Mandala, wie viele andere Mädchen auch. Diese Entscheidung lässt sich gut mit der Theorie der Selbstbestimmung erklären, demnach kann davon ausgegangen werden, „ […] daß der Mensch die angeborene motivationale Tendenz hat, sich mit anderen Personen […] verbunden zu fühlen“ (vgl. Deci / Ryan 1993, S. 229). Die Selbstbestimmungstheorie selbst fordert drei zentrale Bedürfnisse: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit (ebd.).

    Samiras Entscheidung kann vor allem aus dem Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit verstanden werden. Obwohl sie intrinsisch zur Tätigkeit mit den Nistkästen tendiert, folgt sie der Mehrheit ihrer Freundinnen – vermutlich um den Anschluss an die Freundesgruppe nicht zu verlieren. An diesem Beispiel zeigt sich eine gewisse hierarchische Ordnung der Bedürfnisse. So kann das Bedürfnis nach Zugehörigkeit das Bedürfnis nach Autonomie überlagern. Die Wahl des Mandala-Projekts beansprucht hingegen das Bedürfnis nach Kompetenz, da kreative, feinmotorische Tätigkeiten für viele Kinder – insbesondere Mädchen – mit positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen verknüpft sind (vgl. Wild & Möller 2015, S. 137). Dies lässt mich schließen, dass eine projektbezogene Gestaltung schulischer Lernangebote nur dann als wirklich selbstbestimmt gelten kann, wenn sie sozial eingebettet ist und alle Optionen gleichermaßen als zugänglich erlebt werden, dabei muss die Entscheidung unabhängig von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen oder Gruppennormen getroffen werden können.

    2)

    Diese Kontroverse berührt eine zentrale Herausforderung von Bildungsgerechtigkeit. Den Spagat zwischen sprachlicher Zugänglichkeit und der Einführung von bildungssprachlicher Terminologie. Dies ist hier besonders relevant, da Sprache ein zentrales Medium der Teilhabe ist (vgl. Murmann 2025, Folie …). Wird auf Fachsprache verzichtet, sinkt zwar kurzfristig die Hürde für den Verstehenszugang – doch langfristig werden Schüler*innen benachteiligt, wenn sie Begriffe wie „Beobachtung“, „Hypothese“ oder „Sinnesorgan“ nicht lernen und daher nie anwenden. Denn Bildungssprache ist vor allem ein strukturierendes Werkzeug zum Denken (vgl. Leisen 2013, S. …). Daher sollten Fachbegriffe nicht vermieden werden, sondern sie müssen sprachsensibel eingeführt werden – etwa durch bildgestützte Materialien, Scaffolding-Strategien (vgl. …) oder kontextnahe Verankerung (z. B. mit Experimentierkarten).

    3)

    Außerschulische Lernorte können als „Resonanzräume“ (Rosa 2016) fungieren, in denen Kinder Bildungsprozesse als sinnhaft, ganzheitlich und selbstwirksam erleben. Zugleich eröffnen sie anderen Zugangsmöglichkeiten zur Welt, insbesondere für Kinder, deren Lebensweltbezug nicht im traditionellen Kanon schulischer Inhalte vorkommt. Zeitgleich muss sichergestellt werden, dass eine solche außerschulische Lehrnerfahrung nicht auf der handelnden Ebene verbleibt, sondern, dass sinnvolle Bezüge zwischen Praxis und Theorie hergestellt werden – etwa durch Wissenssicherungen am Ende von Exkursionen.

    Ein zentraler Fokus der Arbeit sollte daher auf der Frage liegen, ob und wie solche Lernorte gezielt dazu beitragen können, Bildungsbenachteiligung abzubauen – etwa durch das Erleben von Selbstwirksamkeit, durch ästhetische oder haptische Zugänge. Die Vorlesung betont an mehreren Stellen die Bedeutung differenzsensibler Didaktik und die Notwendigkeit, Lernangebote an soziale Lebensrealitäten anzubinden (vgl. Murmann 2025, S. … Kapitel 3, „Heterogenität im Unterricht gestalten“). Außerschulische Lernorte bergen hier ein großes, bislang zu wenig ausgeschöpftes Potenzial.

    Weiterführende Literatur:

    • Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39 (S. 223–238).
    • Leisen, J. (2013). Handbuch Sprachförderung im Fach. Stuttgart: Klett.
    • Wild, E. & Möller, J. (2015). Lernen und Lernmotivation. Heidelberg: Springer.
    • Rosa, H. (2016). Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt: Suhrkamp.
  • RV02-Blogeintrag zum 14.04.2025

    1) In meiner eigenen Schulzeit habe ich zwei zentrale Maßnahmen erlebt: Zum einen war die Schule Teil der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ (SOR-SMC). Im Sinne dieses Projekts wurde eine Themenwoche zum Thema Antisemitismus durchgeführt. Dabei standen Informationsveranstaltungen und Projektarbeiten im Mittelpunkt.

    Die Maßnahmen lassen sich nicht eindeutig einer einzigen pädagogischen Strömung zuordnen, sondern weisen Merkmale mehrerer Modelle auf. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Initiative primär auf die Prinzipien interkultureller Bildung zurückgreift. Hier steht die Förderung von Dialog, Begegnung und kultureller Sensibilisierung im Zentrum. Dazu muss gesagt sein, dass in der Grundschule eher auf kulturellen Austausch gesetzt wird – etwa durch Kochkurse oder Präsentationen kultureller Bräuche. In der Oberstufe, in der ich meine Erfahrung machen durfte, liegt der Fokus stärker auf kritischer Auseinandersetzung und Reflexion. Hierbei werden beispielsweise Workshops mit externen Expert:innen, Podiumsdiskussionen zu Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen sowie biografische Zugänge wie Zeitzeugengespräche oder Projekttage mit Betroffenen organisiert. Ziel ist es, die eigene Haltung zu reflektieren, Privilegien zu hinterfragen und Diskriminierungsformen als gesellschaftliche Strukturen zu erkennen – nicht nur als individuelles Fehlverhalten.

    In Bezug auf das theoretische Vergleichsmodell zeigt sich dabei Folgendes: In der Diagnose des Problems orientiert sich die Maßnahme an Differenz und kultureller Unterschiedlichkeit – ein zentrales Merkmal der interkulturellen Bildung. Gleichzeitig werden auch Elemente antirassistischer Bildung aufgegriffen, durch die explizite Thematisierung von Diskriminierung und die Bezeichnung als systematisches Phänomen (vgl. Fantini 2025, Folie 7). Die Adressat:innen sind nicht nur Schüler:innen mit Migrationsgeschichte, sondern – wie es in der interkulturellen und antirassistischen Pädagogik intendiert ist – alle Lehrenden und Lernenden, oftmals wird sogar die Institution Schule als Ganzes adressiert. In der Praxis lassen sich in der Grundschule vor allem kulturvermittelnde Elemente und in der Oberstufe dialogorientierte Elemente beobachten, die Teil der Interkulturellen Bildung sind, zeitgleich gibt es Elemente wie kritische Analyseformate aus der rassismuskritischen Bildung. Die Ziele dieser Maßnahmen liegen überwiegend in der Anerkennung von Heterogenität, gleichzeitig wird ein aktives Eintreten gegen Rassismus gefördert, was an das Ziel der Dekonstruktion rassistischer Strukturen anschließt. Das zugrundeliegende Gesellschaftsbild schwankt dementsprechend zwischen dem Ideal einer heterogenen und einer diskriminierungsfreien Gesellschaft.

    Allerdings bleibt ein zentrales Problem bestehen: Die Rassismuskritik verlangt mehr als symbolisches Engagement. Es geht nicht nur um „gutes Verhalten“, sondern um eine kritische Analyse struktureller Machtverhältnisse und die Frage, wie Rassismus im Schulalltag produziert und reproduziert wird (vgl. Fereidooni, Folie S. 24 ff.; Bartel o. D., S. 15). Hier bleibt die Initiative oftmals auf einer affirmativen (bestätigenden) Ebene stehen – sie feiert Vielfalt, ohne tiefgreifende Selbstreflexion oder strukturelle Veränderungen systematisch zu fördern. Da die Auseinandersetzung mit den Themen meist nur an Themenwochen oder besondere Gedenktage gekoppelt ist, bleibt die langfristige, kontinuierliche Beschäftigung mit Diskriminierung aus – was zu einem Verlust an Relevanz führen kann (vgl. Bartel o. D., S. 14 f.).

    Besonders deutlich wird dies auch bei der Behandlung von Antisemitismus: Dieser wird überwiegend historisch kontextualisiert, insbesondere mit Blick auf die NS-Zeit. Der Bezug zu aktuellen Diskriminierungsformen, beispielsweise gegenüber jüdischen oder muslimischen Jugendlichen, bleibt oft aus. Dadurch wird die Verbindung zwischen der Vergangenheit und gegenwärtigen rassistischen Strukturen nicht ausreichend hergestellt, was zur Relativierung heutiger Diskriminierungserfahrungen führen kann. Um diesem Mangel zu begegnen, braucht es eine konsequente Einbindung intersektionaler Perspektiven (vgl. Walgenbach 2016, S. 212) – also eine Sichtweise, die unterschiedliche Ungleichheitsverhältnisse (wie Ethnizität, Geschlecht, soziale Herkunft) in ihrem Zusammenspiel begreift.

    2) Inwieweit ist rassismuskritische Bildungsarbeit im Schulalltag verankert – oder bleibt sie auf vereinzelte Aktionen und Projekttage beschränkt? Wie konsequent werden Diskriminierung und Machtverhältnisse auch im regulären Unterricht, in Lehrplänen, in Schulregeln oder im Kollegium thematisiert und bearbeitet?

    3) Die Reflexion aus Aufgabe 1 zeigt, dass die Maßnahmen zwar wichtige Impulse setzen können, jedoch häufig an der Oberfläche bleiben. Ein zentrales Problem der Umsetzung besteht darin, dass Diskriminierung oft nur punktuell – etwa im Rahmen von Projektwochen – thematisiert wird, während die dauerhafte, systematische Auseinandersetzung mit etwa strukturellen Ungleichheiten im Schulalltag ausbleibt. Um diese Lücke zu schließen, braucht es konkrete Schritte zur Weiterentwicklung von Schule und Unterricht, die sich an einer rassismuskritischen und intersektionalen Bildung orientieren. Es reicht also nicht aus, sich symbolisch gegen Rassismus zu positionieren, vielmehr müssen Schulen als Institutionen selbstkritisch hinterfragen, wie sie konkret  Reproduktion von Ausschlüssen beitragen, dies kann bspw. durch die Auswahl von Lehrmaterialien oder durch mangelnde Repräsentation marginalisierter Gruppen passieren. Rassismuskritik verlangt die bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien und institutionellen Machtverhältnissen, dies muss sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene geschehen.

    Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Einbeziehung intersektionaler Perspektiven (vgl. Walgenbach 2016, S. 212). Diskriminierung sollte nicht nur entlang einzelner Kategorien – etwa Ethnie – betrachtet werden, sondern im Zusammenspiel mit anderen sozialen Ungleichheiten wie Geschlecht, sozialer Herkunft, Behinderung oder Religion. Eine differenzierte Aufschlüsselung dieser verschiedenen Marginalisierungsbereiche ermöglicht ein tieferes Verständnis und eine umfassendere Aufklärung als ein Unterricht, der Differenz ausschließlich kulturell denkt. Neben den bereits genannten Maßnahmen braucht es auch institutionelle Strukturen, die eine dauerhafte und langfristige Auseinandersetzung mit Diskriminierung sicherstellen. Dazu zählen beispielsweise Feedbackformate zu Diskriminierungserfahrungen, regelmäßige Fortbildungen im Kollegium sowie die Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle innerhalb der Schule.

    Quellen:

    Walgenbach K. (2016). Intersektionalität als Paradigma zur Analyse von Ungleichheits-, Macht und Normierungsverhältnissen. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. S. 211-224. München: Ernst Reinhardt Verlag

    Fereidooni K. (2025). Rassismuskritik – Was muss ich wissen? Was kann ich tun? Was kann meine Schule leisten?. Vortrag, Ruhr-Universität Bochum.

    Aktion Courage e.V. (o.j.). Netzwerk. Abgerufen am 14.04.2025 von Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage. https://hfph.de/studierende/archiv-lehrveranstaltungen/wintersemester-2014-15/anthropozentrismus-wer-oder-was-zaehlt-in-der-ethik

    Fantini C. (2025). 2. Grundlagen zum Umgang mit soziokultureller Heterogenität in Schule. Vortrag, Universität Bremen.

  • RV01-Blogeintrag zum 07.04.2025

    1.0) Das Spannungsfeld zwischen Heterogenität und Homogenität ist im schulischen Kontext durchaus relevant. Besonders hervorzuheben erscheint mir in diesem Zusammenhang der Aspekt, dass Heterogenität niemals eine objektive Gegebenheit ist, sondern vielmehr in sozialen Kontexten konstruiert wird (vgl. Gomolla 2009, zit. in RV01, Folie 13). Mit dieser Betrachtungsweise bleiben Schulen und angewandte Praktiken nicht nur eine Reaktion auf Vielfalt, sondern werden zu aktiven Gestaltungsinstanzen, die aktiv Differenz und Ungleichheiten erschaffen oder verhindern können.

    Für die schulische Praxis ist dieser Aspekt insofern wichtig, als etwa Ungleichheit durch normative Vorstellungen von Homogenität in heterogenen Gruppen entstehen kann und durch standardisierte Curricula oder die Selektion von Kindern in verschiedene Schulformen nicht nur strukturierend im Hinblick auf das Ermöglichen von „Massenbeschulung“ (vgl. Hummrich 2016, S. 41) wirkt, sondern auch Vielfalt beschränken kann (vgl. Hummrich 2016, S. 40). Durch eine Aufteilung der Kinder werden also gesellschaftliche Vorstellungen von Homogenität reproduziert; so entsteht fast schon zwangsläufig eine Abspaltung von Menschen, die von „der Norm“ in bestimmten Kriterien abweichen (vgl. Hummrich 2016, S. 41). Dabei ist eine Diskrepanz zwischen dem Ideal der Chancengleichheit und der sozial-gesellschaftlichen Realität ungleicher Bildungsvoraussetzungen zu erkennen.

    1.1) Ein zweiter, ebenso zentraler Aspekt ist die „bewusste pädagogische Intervention“ (vgl. Helsper 2011, S. 108; RV01, Folie 12), um eine Gruppenbildung zu forcieren, die sich durch ein „Wir-Gefühl“ auszeichnet, bestehende Idealvorstellungen aufweicht und so als Gegenstrategie zu unbewussten Normen der Homogenisierung wirkt. Ziel dieser Intervention ist die Relativierung der sozialen Differenzen. Die Aufgabe der Lehrkräfte ist somit das gezielte Entgegenwirken von diskriminierenden oder ausschließenden Dynamiken und die inklusive Unterrichtsgestaltung, die Unterschiede nicht nur toleriert, sondern auch alle Kinder integriert.

    Helsper (2011) beschreibt diese Arbeit im Spannungsfeld zwischen widersprüchlichen Anforderungen und professioneller Urteilsfähigkeit als „pädagogische Professionalität“(vgl. Helsper 2011, S.275). Lehrkräfte sind also mit Differenzen und Vielfalt konfrontiert und müssen gleichzeitig Ordnung herstellen und mit Widersprüchen umgehen. Die bewusste Intervention ist demnach kein einmaliger Akt, sondern vielmehr eine kontinuierliche Aufgabe, die eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung, den Bedürfnissen der Lernenden und bestehenden Idealvorstellungen erfordert.

    „Professionalität lässt sich demnach in und über die pädagogischen Beziehungen, über die Genese, Konsistenz, Kontinuität und Ausgestaltung der pädagogischen Interaktionen zwischen Professionellen und Kindern […] dokumentieren“ (Helsper 2011, S. 108)

     

    2.0) Den Aspekt der pädagogische Intervention konnte ich auch in meinem Praktikum bereits beobachten. In der Grundschule meines letzten Praktikums wurde beispielsweise durch das Abschaffen der Klassenstruktur für die ersten Wochen nach der Einschulung eine Art Großgruppe mit allen Kindern der ersten Klasse geformt, in der sich die Kinder, unabhängig von bestimmten Differenzen, kennenlernen konnten. In dieser Zeit fand kein direkter Unterricht statt, sondern es wurde Wert auf die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls gelegt, dies geschah durch gemeinsame Spiel, gemeinsame Betreuungszeiten und das Aufheben von Barrieren zwischen den unterschiedlichen Räumen. Das Ziel dieser Phase ist es allen Kindern die Möglichkeit zu geben sich als Teil der Gemeinschaft der 1. Klasse zu fühlen. Auch wenn einige Kinder zunächst niemanden kannten, konnten sie sich durch die pädagogischen Maßnahmen mühelos in die Gruppe einfinden. Dieses Konzept wird auch nach der Einteilung der Kinder in Klassen durch beispielsweise gemeinsamen Sportunterricht oder gemeinsame Ausflüge fortgeführt, so entsteht ein Klassenübergreifendes Gemeinschaftsgefühl der Kinder in dem Differenzen keine Rolle spielen.

    Meine Schulzeit war stark von gezielten pädagogischen Interventionen geprägt. Dabei wurden Schülerinnen und Schüler von den Lehrkräften bewusst in leistungsstärkere und leistungsschwächere Gruppen eingeteilt, woraufhin der Unterricht entsprechend differenziert gestaltet wurde. Kinder mit geringerer Leistungsfähigkeit arbeiteten in Einzel- oder Kleingruppen auf den Fluren an gesonderten Aufgaben, während der übrigen Klasse ein vertiefter, differenzierter Unterricht im Klassenraum angeboten wurde. Auf diese Weise entstand eine bewusst herbeigeführte „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ innerhalb der Lerngruppe.

    Obwohl sich diese Trennung – soweit ich mich erinnere – nicht unmittelbar auf das soziale Miteinander in der Klasse auswirkte, hatte sie dennoch spürbare Folgen auf die fachliche Entwicklung. Leistungsschwächere Kinder wurden thematisch zunehmend abgehängt, was langfristig zu einer weiteren Verschärfung der ohnehin bestehenden Leistungsunterschiede führte.

     

    3.0) Beobachtungsaufgabe:

    Achten Sie im Unterrichtsalltag und im schulischen Miteinander  auf Situationen in denen Unterschiede zwischen den Schüler*innen betont oder revidiert werden. Achten Sie auch, auf Situationen in denen Vielfalt adressiert wird und notieren Sie, auf welche Weise diese angesprochen werden (z. B. sprachlich, organisatorisch, Didaktisch) und inwiefern dabei differenzierende Tendenzen zu erkennen sind. Welche Normativen Vorstellungen von „Normalität“ liegen den jeweiligen Situationen zugrunde.

     

    Hummrich, M. (2016) Homogenisierung und Heterogenität. Die erziehungswissenschaftliche Bedeutung eines Spannungsverhältnisses. In: Tertium comparationis 22.  Münster, New York: Waxmann Verlag GmbH. S. 39-58

    Helsper, W. (2011) Pädagogische Professionalität. In: Zeitschrift für Pädagogik (S. 104- 121). Weinheim: Beltz.

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