1)
Die zentralste Erkenntnis aus der Ringvorlesung ist das Verständnis von Heterogenität als soziale Konstruktion, die nicht lediglich zwingend gegebene Tatsache darstellt, sondern durch schulische Praktiken, institutionelle Strukturen und gesellschaftliche Diskurse aktiv hervorgebracht, reproduziert und vertieft wird (vgl. Gomolla 2002, S. 50, Bartel o. D., S. 15). Gerade diese Perspektive ist für meine spätere Arbeit als Lehrkraft von absoluter Wichtigkeit, denn sie verdeutlicht, dass pädagogisches Handeln (auch mein eigenes) nie neutral ist, sondern stets Differenzverhältnisse stabilisieren oder auch reduzieren kann. Der schulische Umgang mit Heterogenität wird so zu einer Frage von Macht, Normalitätsvorstellungen und professioneller Haltung.
A1) In der Deutschdidaktik zeigt sich diese Problematik beispielsweise in der Frage, welche Sprachvarietäten als „korrekt“ gelten und wie mit Mehrsprachigkeit im Unterricht umgegangen wird. Wenn Sprachdefizite vorrangig als individuelles Problem verortet werden, wird potenziell übersehen, bestimmte Bedingungen, wie ein einsprachiger, rein strukturorientierter Unterricht zur Marginalisierung von mehrsprachigen Schüler:innen beitragen kann. Ein inklusiver Deutschunterricht müsste daher Sprachvielfalt nicht nur „tolerieren“, sondern bewusst produktiv aufgreifen.
Auch in der Mathematikdidaktik ist Heterogenität ein zentrales Thema, etwa im Hinblick auf unterschiedliche Vorkenntnisse, Sprachverständnis oder Lernzugänge. Hier sind offene Unterrichtsformen wie das „entdeckende Lernen“ oder das Arbeiten mit mathematischen Lernumgebungen besonders geeignet, um Lernende auf unterschiedlichen Niveaus anzusprechen (vgl. Prediger 2015, S. 720-722)
Im Sachunterricht, der als Integrationsfach besonders stark von Heterogenität geprägt ist, gewinnt das Konzept der interkulturellen Bildung an Bedeutung. Er bietet zahlreiche Möglichkeiten für Perspektivwechsel, etwa im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Lebenswelten, Traditionen oder religiösen Vorstellungen. Die Ringvorlesung machte deutlich, dass ein Unterricht, der kulturelle Differenz lediglich „feiert“, ohne Machtverhältnisse kritisch zu hinterfragen, schnell ins Affirmative abgleiten kann (vgl. Fereidooni, 2020, Folie S.24 ff.; Blogbeitrag RV02). Daher erscheint es mir zentral, auch rassismuskritische zu integrieren, die strukturellen Ungleichheiten thematisieren und damit auf eine tiefere Ebene der Auseinandersetzung zielen (vgl. Walgenbach 2016, S: 212).
B1) Wenn Heterogenität also sozial hergestellt wird, hat dies auch Folgen für die pädagogischen Beziehungen. Kinder, die häufig als „defizitär“ diagnostiziert werden, erleben eine subtile Abwertung, was das Beziehungsgefüge beeinflusst. Lehrkräfte müssen sich dieser Dynamik bewusst sein.
In meinem Praktikum konnte ich erleben, dass Kinder, die wegen sprachlicher Unsicherheiten in der Klasse oft übergangen wurden, im Einzelkontakt mit empathischen Lehrer:innen deutlich offener, selbstsicherer und kooperationsbereiter agierten. Dies zeigt klar, dass eine professionelle Beziehung bestimmte soziale Zuschreibungen relativieren kann, sofern sie wertschätzend, aufmerksam und reflektiert gestaltet ist. Für mich bedeutet das, dass eine professionelle Beziehungsgestaltung aktiv Zugehörigkeit herstellen muss.
A2) Ein zweiter, für mich zentraler Aspekt aus der Ringvorlesung betrifft die Bedeutung pädagogischer Beziehungen. Professionalität im Lehrerberuf ist nicht nur über Fachkompetenz, sondern maßgeblich über die Qualität der pädagogischen Interaktionen bestimmt wird. In einer heterogenen Lerngruppe entstehen täglich Ambivalenzen – etwa zwischen Fördern und Fordern, Nähe und Distanz, Struktur und Offenheit (vgl. Helsper 2011, S. 275). Die Fähigkeit, diese Spannungen auszuhalten und professionell zu gestalten, beschreibt Helsper als „pädagogische Professionalität“ (vgl. ebd.).
Für das Fach Sachunterricht bedeutet dies konkret, dass Themen wie „Zusammenleben in der Gesellschaft“, „Religionen“, „Familienformen“ oder „Kinderrechte“ nicht aus einer vermeintlich neutralen Perspektive behandelt werden sollten, sondern bewusst so gestaltet werden müssen, dass Vielfalt der Lebensrealitäten der Schüler:innen berücksichtigt wird. Dabei ist es wichtig, Differenz nicht defizitär darzustellen, sondern als selbstverständlichen Bestandteil gesellschaftlicher Realität. Dies kann etwa durch den Einbezug von Biografien oder Perspektivwechseln geschehen. Zeitgleich können damit zusammenhängende globale Themen (z. B. Migration, Kolonialgeschichte, Klimagerechtigkeit) kritisch thematisiert werden. So können vor allem historisch gewachsene Ungleichheiten aufgezeigt und reflektiert werden, in diesem Zusammenhang sollten auch verschiedene Handlungsoptionen aufgezeigt werden.
Im Fach Mathematik erscheint ein rassismuskritischer Zugang zunächst weniger offensichtlich. Doch vor allem bei der Gestaltung von Sachaufgaben können Anknüpfungspunkte zu den Lebensrealitäten der Kinder aufgegriffen werden: Die Gestaltung von Sachaufgaben sollte also daraufhin überprüft werden, welche Lebensrealitäten dargestellt werden und welche nicht. Durch den bewussten Einsatz vielfältiger Kontexte, können auch im Mathematikunterricht Repräsentation und Teilhabe gefördert werden.
B2) Besonders eindrücklich war für mich das Beispiel aus meinem Praktikum, bei dem in den ersten Wochen nach der Einschulung bewusst auf Klassenstrukturen verzichtet wurde, um zunächst ein Gemeinschaftsgefühl über Differenzen hinweg zu schaffen. Dieses Beispiel zeigt, wie gezielte Beziehungsarbeit zur Grundlage gelingender Lernprozesse werden kann. Auf der anderen Seite habe ich auch erfahren, wie leistungsbezogene Gruppentrennungen, etwa im Mathematikunterricht, langfristig soziale Differenzen verstärken können. Auch wenn sie kurzfristig pädagogisch begründet erscheinen. Diese Spannung zwischen notwendiger Differenzierung und sozialer Integration ist ein zentrales Dilemma professionellen Lehrerhandelns.
2)
Rückblickend auf meine eigenen schulischen Erfahrungen sowie meine Praktika sehe ich besonders zwei schulische Handlungsbereiche, in denen sich der Umgang mit Heterogenität entscheidend auswirkt: Schulstruktur und Unterrichtsform.
Während meiner eigenen Schulzeit war ich Teil eines Systems, das stark auf Selektion beruhte, beispielweise durch die frühe Trennung nach Schulformen, aber auch durch innere Leistungsdifferenzierung im Unterricht. Die Gruppierung nach Leistung führte langfristig zu einer Aufteilung der Lerngruppe entlang des Leistungsprofils der einzelnen Kinder. Abweichung von der als normal verstandenen Leistungsmitte wurde hier nicht als Ressource, sondern als Defizit betrachtet (vgl. Hummricht 2016, S. 41).
Die bloße Erfassung von Diversität reicht in einem solchen System jedoch nicht aus, um institutionelle Benachteiligungen zu vermeiden oder aufzulösen. Vielmehr braucht es eine aktiv gestaltete Lernumgebung, in der jedes Kind individuell angesprochen und gefördert wird, nicht nur in Bezug auf Leistungsheterogenität, sondern auch hinsichtlich weiterer Heterogenitätsdimensionen wie Sprache oder kulturelle Zugehörigkeit (vgl. RV02; RV05). Hierfür war für mich besonders das Konzept der impliziten Normen prägend, es verdeutlicht, dass viele schulische Routinen auf das „Gleichschalten“ von Lernprozessen zielen: gleiche Aufgaben, gleiche Zeiten, gleiche Ziele (vgl. Helmke 2003) In einem solchen System werden Differenzen nicht als Ausgangspunkt gemeinsamen Lernens verstanden, sondern als Störungen, die es zu kompensieren oder auszulagern gilt.
Demgegenüber hebt die Ringvorlesung – insbesondere mit Bezug auf Ainscow und Booth (2017) sowie Seitz (2020) hervor, dass inklusiver Unterricht auf individuelle Herausforderung in sozialer Eingebundenheit zielt (vgl. RV05, Folie 2). Es geht also nicht darum, Kinder gleich zu machen, sondern darum, sie in ihrer Verschiedenheit als Teil eines gemeinsamen Bildungsprozesses zu begreifen.
Demgegenüber habe ich im Praktikum positive Erfahrungen mit einer inklusiven Lernkultur gemacht. Durch Teamarbeit, gemeinsames Lernen in heterogenen Gruppen und ein wertschätzendes Klassenklima konnte Vielfalt als Normalität erlebt werden. Solche Praktiken sind aber nicht nur als individuelle Initiative, sondern müssen als notwendiger Teil professionellen Handelns zu verstanden werden.
3.1)
In der fünften Sitzung der Ringvorlesung wurde das schulische Parallelsystem in der Autonomen Provinz Bozen thematisiert. Im Zusammenhang mit inklusiven Bildungsstrukturen rückte dabei auch die Bedeutung multiprofessioneller Kooperation in den Fokus. Angesichts der zunehmenden Komplexität schulischer Anforderungen gewinnt die Zusammenarbeit in heterogen zusammengesetzten Teams zunehmend an Relevanz.
Für eine fundierte Vorbereitung auf die Arbeit in solchen Teams erscheint es daher zentral, sich mit den Erfolgsfaktoren, Herausforderungen und Potenzialen multiprofessioneller Kooperation auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams gelingen kann und welche strukturellen sowie kommunikativen Voraussetzungen hierfür notwendig sind.
3.2) In der zweiten Sitzung der Ringvorlesung stand die Auseinandersetzung mit rassismuskritischer Bildung sowie der historischen Entwicklung verschiedener pädagogischer Ansätze im Mittelpunkt. Besonders gewinnbringend war hierbei der vergleichende Blick auf unterschiedliche Konzepte, da er nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich machte, sondern auch verdeutlichte, dass es sich bei rassismuskritischer Bildung um ein dynamisches und kontextgebundenes Feld handelt.
Zentral erscheint in diesem Zusammenhang die Frage, welche professionellen Kompetenzen Lehrkräfte benötigen, um rassismuskritisches Lernen nicht nur punktuell, sondern dauerhaft und wirksam im Unterricht und Schulleben zu verankern. Damit verbunden ist die Überlegung, wie Lehrer:innenbildung diese Kompetenzen systematisch fördern kann – etwa durch reflexive Elemente in der Ausbildung, durch Fortbildungen oder durch begleitete Praxisphasen.
Rassismuskritische Bildung darf dabei nicht auf individuelle Aufklärung reduziert bleiben. Vielmehr bedarf es konkreter Strategien, wie Schule als Institution strukturelle Diskriminierung erkennen, hinterfragen und abbauen kann. In diesem Kontext stellt sich die weiterführende Frage, wie Schule als lernende Organisation agieren kann – also als ein System, das sich kontinuierlich selbstreflexiv weiterentwickelt, auf Basis von Rückmeldungen, kollegialem Austausch und gemeinsam getragener Verantwortung.
Eine zentrale Rolle spielt hierbei die kollegiale Kooperation, da tiefgreifende Veränderungsprozesse im Umgang mit Diskriminierung nicht durch Einzelpersonen getragen werden können. Vielmehr bedarf es multiprofessioneller Zusammenarbeit, institutioneller Unterstützung und einer gemeinsamen Haltung, um rassismuskritische Praxis nachhaltig zu etablieren. Nur wenn Lehrkräfte, Schulleitung und weiteres pädagogisches Personal gemeinsam an der Reflexion schulischer Routinen und der Gestaltung diskriminierungssensibler Strukturen arbeiten, kann eine Schule ihrer Verantwortung als inklusiver und gerechter Bildungsort gerecht werden.
Literatur:
Bartel D. (o.d.) Positioniertheit von Berater_innen und Beratungsangeboten. In: advd (Hrsg.) Antidiskriminierungs-Beratung in der Praxis. Berlin.
Fereidooni K. (2025). Rassismuskritik – Was muss ich wissen? Was kann ich tun? Was kann meine Schule leisten?. Vortrag, Universität Bremen vom 01.04.2025
Gomolla, M. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Leske Budrich, Opladen: Springer Verlag.
Helmke, A. (2003). Unterrichtsqualität erfassen, bewerten, verbessern. In: Helmke, A. & Weinert, F. E. (Hrsg.), Schulentwicklung durch Unterrichtsevaluation. Beltz, S. 41–69.
Helsper, W. (2011): Pädagogische Professionalität. In: Helsper, W. u. a. (Hrsg.): Theorie und Empirie pädagogischer Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag, S. 107–138.
Hummrich, M. (2016): Differenz und Differenzierungen im pädagogischen Diskurs. In: Mecheril, P./Plößer, M./Dirim, İ. (Hrsg.): Differenz und Differenzierungen. Pädagogische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
Prediger, S., (2015): Sprachförderung im Mathematikunterricht – Ein Überblick zu vernetzten Entwicklungsforschungsstudien. In Calouri, F., Linneweber-Lammerskitten, H. Streit, C. (Hrsg.) Beiträge zum Mathematikunterricht. Münster: WTM, 720-724
Walgenbach K. (2016). Intersektionalität als Paradigma zur Analyse von Ungleichheits-, Macht und Normierungsverhältnissen. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. S. 211-224. München: Ernst Reinhardt Verlag