RV04-Blogeintrag vom 05.05.2025

Samira interessierte sich eigentlich für die Arbeit mit den Nistkästen – entschied sich dann aber doch für das Mandala, wie viele andere Mädchen auch. Diese Entscheidung lässt sich gut mit der Theorie der Selbstbestimmung erklären, demnach kann davon ausgegangen werden, „ […] daß der Mensch die angeborene motivationale Tendenz hat, sich mit anderen Personen […] verbunden zu fühlen“ (vgl. Deci / Ryan 1993, S. 229). Die Selbstbestimmungstheorie selbst fordert drei zentrale Bedürfnisse: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit (ebd.).

Samiras Entscheidung kann vor allem aus dem Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit verstanden werden. Obwohl sie intrinsisch zur Tätigkeit mit den Nistkästen tendiert, folgt sie der Mehrheit ihrer Freundinnen – vermutlich um den Anschluss an die Freundesgruppe nicht zu verlieren. An diesem Beispiel zeigt sich eine gewisse hierarchische Ordnung der Bedürfnisse. So kann das Bedürfnis nach Zugehörigkeit das Bedürfnis nach Autonomie überlagern. Die Wahl des Mandala-Projekts beansprucht hingegen das Bedürfnis nach Kompetenz, da kreative, feinmotorische Tätigkeiten für viele Kinder – insbesondere Mädchen – mit positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen verknüpft sind (vgl. Wild & Möller 2015, S. 137). Dies lässt mich schließen, dass eine projektbezogene Gestaltung schulischer Lernangebote nur dann als wirklich selbstbestimmt gelten kann, wenn sie sozial eingebettet ist und alle Optionen gleichermaßen als zugänglich erlebt werden, dabei muss die Entscheidung unabhängig von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen oder Gruppennormen getroffen werden können.

2)

Diese Kontroverse berührt eine zentrale Herausforderung von Bildungsgerechtigkeit. Den Spagat zwischen sprachlicher Zugänglichkeit und der Einführung von bildungssprachlicher Terminologie. Dies ist hier besonders relevant, da Sprache ein zentrales Medium der Teilhabe ist (vgl. Murmann 2025, Folie …). Wird auf Fachsprache verzichtet, sinkt zwar kurzfristig die Hürde für den Verstehenszugang – doch langfristig werden Schüler*innen benachteiligt, wenn sie Begriffe wie „Beobachtung“, „Hypothese“ oder „Sinnesorgan“ nicht lernen und daher nie anwenden. Denn Bildungssprache ist vor allem ein strukturierendes Werkzeug zum Denken (vgl. Leisen 2013, S. …). Daher sollten Fachbegriffe nicht vermieden werden, sondern sie müssen sprachsensibel eingeführt werden – etwa durch bildgestützte Materialien, Scaffolding-Strategien (vgl. …) oder kontextnahe Verankerung (z. B. mit Experimentierkarten).

3)

Außerschulische Lernorte können als „Resonanzräume“ (Rosa 2016) fungieren, in denen Kinder Bildungsprozesse als sinnhaft, ganzheitlich und selbstwirksam erleben. Zugleich eröffnen sie anderen Zugangsmöglichkeiten zur Welt, insbesondere für Kinder, deren Lebensweltbezug nicht im traditionellen Kanon schulischer Inhalte vorkommt. Zeitgleich muss sichergestellt werden, dass eine solche außerschulische Lehrnerfahrung nicht auf der handelnden Ebene verbleibt, sondern, dass sinnvolle Bezüge zwischen Praxis und Theorie hergestellt werden – etwa durch Wissenssicherungen am Ende von Exkursionen.

Ein zentraler Fokus der Arbeit sollte daher auf der Frage liegen, ob und wie solche Lernorte gezielt dazu beitragen können, Bildungsbenachteiligung abzubauen – etwa durch das Erleben von Selbstwirksamkeit, durch ästhetische oder haptische Zugänge. Die Vorlesung betont an mehreren Stellen die Bedeutung differenzsensibler Didaktik und die Notwendigkeit, Lernangebote an soziale Lebensrealitäten anzubinden (vgl. Murmann 2025, S. … Kapitel 3, „Heterogenität im Unterricht gestalten“). Außerschulische Lernorte bergen hier ein großes, bislang zu wenig ausgeschöpftes Potenzial.

Weiterführende Literatur:

  • Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39 (S. 223–238).
  • Leisen, J. (2013). Handbuch Sprachförderung im Fach. Stuttgart: Klett.
  • Wild, E. & Möller, J. (2015). Lernen und Lernmotivation. Heidelberg: Springer.
  • Rosa, H. (2016). Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt: Suhrkamp.

Kommentare

Eine Antwort zu „RV04-Blogeintrag vom 05.05.2025“

  1. Avatar von Karoline
    Karoline

    1) Die Deutung über das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit erscheint besonders plausibel, da Samiras Entscheidung stark vom Verhalten ihrer Freundinnen geprägt ist. Gerade im Grundschulalter spielt die Orientierung an der Peergruppe eine zentrale Rolle – Kinder wählen häufig konform mit der Gruppe, um Zugehörigkeit zu sichern oder soziale Ablehnung zu vermeiden. Dass sich Samira dem von vielen Mädchen gewählten Mandala-Projekt anschließt, obwohl sie sich ursprünglich für die Nistkästen interessiert hat, kann somit als Ausdruck dieses sozialen Anpassungswunsches verstanden werden.
    Darüber hinaus lässt sich vermuten, dass auch geschlechtsbezogene Rollenerwartungen Samiras Wahl mitgeprägt haben. Kreative, feinmotorisch orientierte Tätigkeiten wie das Gestalten eines Mandalas gelten häufig als „typisch weiblich“ und erscheinen Mädchen daher sozial erwartbar und anschlussfähig. Entscheidungen im schulischen Kontext vollziehen sich folglich nicht nur entlang individueller Interessen und Bedürfnisse, sondern stets auch im Spannungsfeld gesellschaftlich tradierter Geschlechterbilder (vgl. Josting, Roeder & Dettmar 2016, S. 186). Um echte Selbstbestimmung im Sinne der Selbstbestimmungstheorie zu ermöglichen, sollten Wahlangebote im Sachunterricht daher geschlechtersensibel gestaltet sein – so, dass keine Option durch normative Zuschreibungen als „unangemessen“ erscheint und alle Kinder ihre Wahl frei von Rollenerwartungen treffen können.

    2) Der Beitrag thematisiert überzeugend das Spannungsfeld zwischen sprachlicher Zugänglichkeit und der Notwendigkeit, bildungssprachliche Kompetenzen zu fördern – eine Herausforderung, die im Sachunterricht besonders ist. Wie zutreffend angemerkt wird, stellt Sprache ein zentrales Medium der Teilhabe dar; dies wird auch von Fornol (2022) unterstrichen, sie betont, dass Bildungssprache nicht nur lexikalische oder grammatische Hürden birgt, sondern vor allem komplexe sprachliche Handlungen wie Beschreiben, Begründen oder Erklären umfasst. Diese Sprachhandlungen sind im Sachunterricht essenziell, um Fachinhalte zu verstehen, darzustellen und produktiv zu verarbeiten.
    Der Hinweis, dass die Verwendung von Fachbegriffen wie „Hypothese“ oder „Sinnesorgan“ notwendig ist, lässt sich mit Fornols Argumentation zur „Textsortenkompetenz“ stützen: Um z. B. einen Sachtext zu produzieren oder zu verstehen, müssen Lernende wissen, wie sprachliche Mittel in funktionale Zusammenhänge eingebettet werden – etwa durch das gezielte Einsetzen von Textprozeduren. Fornol verdeutlicht, dass nicht nur die Begriffe selbst, sondern ihre Einbettung in typische Darstellungsformen fachlicher Texte erlernt werden muss.

    3) Die Ausführungen sind überzeugend, da sie die Potenziale außerschulischer Lernorte als differenzsensible und erfahrungsorientierte Zugänge zu Bildungsprozessen herausstellen. Ergänzend wäre es sinnvoll, stärker zu berücksichtigen, wie diese Lernprozesse systematisch in den schulischen Kontext integriert werden können. Dies könnte beispielsweise durch gezielte Vor- und Nachbereitungsphasen geschehen, die durch sprachlich strukturierende Elemente die nachhaltige Verankerung fachlicher Inhalte unterstützen und somit die Bildungswirksamkeit langfristig sichern.

    Literaturangaben:
    – Fornol, S., Wildemann, A.(2022): Der bildungssprachliche Texthandlungstyp. Beschreiben im Sachunterricht der Grundschule – eine Analyse elaborierter Text. In: Zeitschrift für Grundschulforschung (2023) 16: 61-74. Wiesbaden: Springer VS.
    – Josting, P., Roeder, C., Dettmar, U. (2016): Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder. Und Jugendliteratur und -medien (Forschung). München: kopaed

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