RV01-Blogeintrag zum 07.04.2025

1.0) Das Spannungsfeld zwischen Heterogenität und Homogenität ist im schulischen Kontext durchaus relevant. Besonders hervorzuheben erscheint mir in diesem Zusammenhang der Aspekt, dass Heterogenität niemals eine objektive Gegebenheit ist, sondern vielmehr in sozialen Kontexten konstruiert wird (vgl. Gomolla 2009, zit. in RV01, Folie 13). Mit dieser Betrachtungsweise bleiben Schulen und angewandte Praktiken nicht nur eine Reaktion auf Vielfalt, sondern werden zu aktiven Gestaltungsinstanzen, die aktiv Differenz und Ungleichheiten erschaffen oder verhindern können.

Für die schulische Praxis ist dieser Aspekt insofern wichtig, als etwa Ungleichheit durch normative Vorstellungen von Homogenität in heterogenen Gruppen entstehen kann und durch standardisierte Curricula oder die Selektion von Kindern in verschiedene Schulformen nicht nur strukturierend im Hinblick auf das Ermöglichen von „Massenbeschulung“ (vgl. Hummrich 2016, S. 41) wirkt, sondern auch Vielfalt beschränken kann (vgl. Hummrich 2016, S. 40). Durch eine Aufteilung der Kinder werden also gesellschaftliche Vorstellungen von Homogenität reproduziert; so entsteht fast schon zwangsläufig eine Abspaltung von Menschen, die von „der Norm“ in bestimmten Kriterien abweichen (vgl. Hummrich 2016, S. 41). Dabei ist eine Diskrepanz zwischen dem Ideal der Chancengleichheit und der sozial-gesellschaftlichen Realität ungleicher Bildungsvoraussetzungen zu erkennen.

1.1) Ein zweiter, ebenso zentraler Aspekt ist die „bewusste pädagogische Intervention“ (vgl. Helsper 2011, S. 108; RV01, Folie 12), um eine Gruppenbildung zu forcieren, die sich durch ein „Wir-Gefühl“ auszeichnet, bestehende Idealvorstellungen aufweicht und so als Gegenstrategie zu unbewussten Normen der Homogenisierung wirkt. Ziel dieser Intervention ist die Relativierung der sozialen Differenzen. Die Aufgabe der Lehrkräfte ist somit das gezielte Entgegenwirken von diskriminierenden oder ausschließenden Dynamiken und die inklusive Unterrichtsgestaltung, die Unterschiede nicht nur toleriert, sondern auch alle Kinder integriert.

Helsper (2011) beschreibt diese Arbeit im Spannungsfeld zwischen widersprüchlichen Anforderungen und professioneller Urteilsfähigkeit als „pädagogische Professionalität“(vgl. Helsper 2011, S.275). Lehrkräfte sind also mit Differenzen und Vielfalt konfrontiert und müssen gleichzeitig Ordnung herstellen und mit Widersprüchen umgehen. Die bewusste Intervention ist demnach kein einmaliger Akt, sondern vielmehr eine kontinuierliche Aufgabe, die eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung, den Bedürfnissen der Lernenden und bestehenden Idealvorstellungen erfordert.

„Professionalität lässt sich demnach in und über die pädagogischen Beziehungen, über die Genese, Konsistenz, Kontinuität und Ausgestaltung der pädagogischen Interaktionen zwischen Professionellen und Kindern […] dokumentieren“ (Helsper 2011, S. 108)

 

2.0) Den Aspekt der pädagogische Intervention konnte ich auch in meinem Praktikum bereits beobachten. In der Grundschule meines letzten Praktikums wurde beispielsweise durch das Abschaffen der Klassenstruktur für die ersten Wochen nach der Einschulung eine Art Großgruppe mit allen Kindern der ersten Klasse geformt, in der sich die Kinder, unabhängig von bestimmten Differenzen, kennenlernen konnten. In dieser Zeit fand kein direkter Unterricht statt, sondern es wurde Wert auf die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls gelegt, dies geschah durch gemeinsame Spiel, gemeinsame Betreuungszeiten und das Aufheben von Barrieren zwischen den unterschiedlichen Räumen. Das Ziel dieser Phase ist es allen Kindern die Möglichkeit zu geben sich als Teil der Gemeinschaft der 1. Klasse zu fühlen. Auch wenn einige Kinder zunächst niemanden kannten, konnten sie sich durch die pädagogischen Maßnahmen mühelos in die Gruppe einfinden. Dieses Konzept wird auch nach der Einteilung der Kinder in Klassen durch beispielsweise gemeinsamen Sportunterricht oder gemeinsame Ausflüge fortgeführt, so entsteht ein Klassenübergreifendes Gemeinschaftsgefühl der Kinder in dem Differenzen keine Rolle spielen.

Meine Schulzeit war stark von gezielten pädagogischen Interventionen geprägt. Dabei wurden Schülerinnen und Schüler von den Lehrkräften bewusst in leistungsstärkere und leistungsschwächere Gruppen eingeteilt, woraufhin der Unterricht entsprechend differenziert gestaltet wurde. Kinder mit geringerer Leistungsfähigkeit arbeiteten in Einzel- oder Kleingruppen auf den Fluren an gesonderten Aufgaben, während der übrigen Klasse ein vertiefter, differenzierter Unterricht im Klassenraum angeboten wurde. Auf diese Weise entstand eine bewusst herbeigeführte „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ innerhalb der Lerngruppe.

Obwohl sich diese Trennung – soweit ich mich erinnere – nicht unmittelbar auf das soziale Miteinander in der Klasse auswirkte, hatte sie dennoch spürbare Folgen auf die fachliche Entwicklung. Leistungsschwächere Kinder wurden thematisch zunehmend abgehängt, was langfristig zu einer weiteren Verschärfung der ohnehin bestehenden Leistungsunterschiede führte.

 

3.0) Beobachtungsaufgabe:

Achten Sie im Unterrichtsalltag und im schulischen Miteinander  auf Situationen in denen Unterschiede zwischen den Schüler*innen betont oder revidiert werden. Achten Sie auch, auf Situationen in denen Vielfalt adressiert wird und notieren Sie, auf welche Weise diese angesprochen werden (z. B. sprachlich, organisatorisch, Didaktisch) und inwiefern dabei differenzierende Tendenzen zu erkennen sind. Welche Normativen Vorstellungen von „Normalität“ liegen den jeweiligen Situationen zugrunde.

 

Hummrich, M. (2016) Homogenisierung und Heterogenität. Die erziehungswissenschaftliche Bedeutung eines Spannungsverhältnisses. In: Tertium comparationis 22.  Münster, New York: Waxmann Verlag GmbH. S. 39-58

Helsper, W. (2011) Pädagogische Professionalität. In: Zeitschrift für Pädagogik (S. 104- 121). Weinheim: Beltz.

Kommentare

Eine Antwort zu „RV01-Blogeintrag zum 07.04.2025“

  1. Avatar von Ben
    Ben

    1.
    Julien zeigt uns überzeugend, dass Heterogenität keine objektive Gegebenheit, sondern ein sozial konstruiertes Konzept ist und das die Schulen aktiv an der Herstellung oder Reduktion von Differenz beteiligt sind. Diese Perspektive ist zentral, um Bildung nicht nur als Reaktion auf Vielfalt, sondern als Mitgestalterin gesellschaftlicher Strukturen zu begreifen. Der Hinweis auf die normative Wirkung von Homogenitätsvorstellungen, etwa durch die Unterteilung in verschiedene Schulformen, ist dabei zentral und nachvollziehbar belegt.

    Ergänzen lässt sich, dass diese theoretisch fundierte Betrachtung in der schulischen Praxis oft an ihre Grenzen stößt. Hummrich ergänzt, dass die Vorstellung von Homogenität als strukturelle Voraussetzung für die Organisation von Schule selbst zur Begrenzung von Vielfalt beiträgt (vgl. Hummrich 2016, S. 40). Strukturelle Rahmenbedingungen wie starre Curricula, zeitliche Ressourcenknappheit oder leistungsbezogene Förderlogiken erschweren es Lehrkräften, aktiv gegen homogenisierende Tendenzen zu arbeiten, was aber nicht heißt, dass es eine Entschuldigung für Stigmatisierungen ist.

    2.
    Die im Beitrag beschriebene „Großgruppenphase“ zu Beginn der Einschulung ist aus meiner Sicht ein gelungenes und gut gewähltes Beispiel pädagogischer Intervention. In meinem eigenen Schulpraktikum habe ich ein ähnlichen Ablauf in dem Klassenraum einer zweiten Klasse erlebt: Die von mir besuchte Grundschule hat bewusst altersgemischte Arbeitsgruppen eingeführt, um soziale und leistungsspezifische Unterschiede aufzulösen. Diese Gruppen wechselten ab und beinhalteten dabei Teamaufgaben, in welchen sich die Kinder gegenseitig helfen und bestärken konnten. So fühlten sich alle als angenommen und nicht als in bestimmte soziale Gruppen eingeteilt. Um mit der Vielfalt innerhalb von Schulklassen umzugehen, greift das System Schule häufig auf vereinfachende Strukturen zurück, wie z. B. Leistungsgruppierung oder standardisierte Fördermaßnahmen (vgl. Luhmann, 1975, S. 36). Im Gegensatz dazu erinnere ich mich an meine eigene Schulzeit, in der eine starke Differenzierung nach Leistung (z. B. durch „Förder-“ und „Fordergruppen“) zu einer Trennung innerhalb der Klasse führte. Dennoch fand, trotz des Faktes, dass ich in einer Inklusionsklasse war, eine erste Annäherung durch Inklusionsbemühungen bereits statt, in dem einige Kinder regelmäßig am normalen Unterricht teilnehmen konnten, dabei jedoch noch überwiegend räumlich getrennt waren. Besonders in den Pausen verstärkte sich dieses Gefühl der Abgrenzung aber noch mehr, da sich die Gruppen nicht mehr selbstverständlich mischten.

    3.
    Julien verknüpft seine Ausführungen überzeugend mit dem Vorlesungsthema „Umgang mit Heterogenität“. Besonders stark ist sein Bezug auf das Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Chancengleichheit und echten Ungleichheitsstrukturen. Dieses Spannungsfeld wird auch in der Vorlesung betont, etwa durch den Hinweis auf die Tendenz zur „Homogenisierung heterogener Gruppen“ (vgl. Hummrich 2016, Folie aus RV01). Damit ist gemeint, dass Kategorisierungen wie z.B. „die Migrantenkinder“ oder „die Jungen“ in der Praxis leider immer noch vorgenommen werden und so Stigmatisierungen entstehen können. Juliens Beispiel, wie durch selektive Maßnahmen innerhalb der Klasse eine Zwei-Klassen-Struktur entstehen kann, macht deutlich, dass solche Homogenisierungsprozesse nicht nur theoretische Konstrukte sind, sondern reale Folgen für Lern- und Bildungschancen nach sich ziehen. Auch in meinem Großfach Deutsch, in dem wir Sprachdidaktik behandeln, lernen wir, dass solche Stigmatisierungen zwingend zu verhindern sind und z.B. Tandem-lesen verschiedenster Kinder für beide Vorteile bringt. Sein Beitrag zeigt dabei eindrucksvoll, wie wichtig reflektierte pädagogische Entscheidungen sind, um solchen Tendenzen entgegenzuwirken.

    Luhmann, N. (1975). Komplexität und Demokratie. In: N. Luhmann (Hrsg.), Soziologische Aufklärung 2 (S. 30–45). Opladen: Westdeutscher Verlag

    Hummrich, M. (2016). Homogenisierung und Heterogenität. Die erziehungswissenschaftliche Bedeutung eines Spannungsverhältnisses – In: Tertium comparationis 22 (S. 39-58). Münster, New York. Axmann Verlag GmbH

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