Die Heterogenität von Schüler*innen und deren Bedeutung für Schule und Unterricht ist ein Thema, mit dem ich erst zu Beginn des Studium überhaupt in Berührung gekommen bin. Diese Ringvorlesung hat mir ein Verständnis davon vermittelt, wie wichtig und wie allgegenwärtig das Thema in Schule ist und auch welche Herausforderungen es für uns zukünftige Lehrer*innen birgt.
Die Heterogenitätskategorie Gender wurde in mehreren Vorlesungen thematisiert und ging meist damit einher, dass stereotypische Vorstellungen zu einer Verringerung von Schulerfolg von Schüler*innen führen können. Sehr deutlich ist das u.a. in der Vorlesung von Frau Hollerweger geworden, in der es um die Schwierigkeiten von Jungen beim Erwerb der Lesekompetenz ging. Dass eine durch weiblichen Vorbilder geprägte Lesepraxis dazu führt, dass das Lesen als weiblich wahrgenommen wird und bei Jungen dazu führen kann, dass sie ihre eigene Lesekompetenz nicht nur geringer einschätzen sondern in Tests sogar schlechter abschnitten (vgl. Muntoni, 2019), hat mich doch sehr nachdenklich gemacht. Dieses Phänomen, das laut Frau Hollerweger Psychologen als „Bedrohung durch Stereotype“ nennen, macht deutlich wie vielfältig die Faktoren sind, die einen Einfluss auf das Lernen haben. Da ich Deutsch studiere, wird der gendersensible Literaturunterricht ein Thema sein, in dass ich mich in meiner praktischen Zukunft intensiver einarbeiten möchte. Auch in der Vorlesung von Frau Murmann wird die Genderdimension zum Thema gemacht. Hier möchte ich als konträres Beispiel zur Lesesozialisation die Selbstwahrnehmung von Mädchen in Bezug auf ihre technische Kompetenz aufgreifen. Es wird darauf hingewiesen, dass bereits bei Grundschulkindern durchaus stereotypische Rollenbilder bestehen und dass der Sachunterricht, dieses Fach studieren ich nicht, laut des Perspektivrahmens Sachunterricht von 2013 die Aufgabe hat: „(…) Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen, ihre (…)
Technische Umwelt sachbezogen zu verstehen, (…) zu erschließen und sich darin zu orientieren, mitzuwirken und zu handeln.“ (Perspektivrahmen, 2013) So wie bei der Lesekompetenzvermittlung an Jungen im Deutschunterricht hat der Sachunterricht die Aufgabe gendersensibel Kompetenzförderung u.a. in den Bereichen Naturwissenschaft und Technik zu vermitteln und die Selbstwirksamkeitserwartung zu fördern (vgl. Franz, 2008).
Ein weiteres Thema, dass ich sehr wichtig finde, ist die Mehrsprachigkeit und der Umgang damit in Schule. „[T]he bilingual is NOT the sum of two complete or incomplete monolinguals“ (Grosjean 1989: 3). Das bedeutet nach Frau Professor Daase, dass es keine doppelte Einsprachigkeit gibt, sondern dass die Sprachen eines Menschen zusammen ein individuelles sprachliches Repertoire bilden. Und genau so sollte Sprache in der Schule verstanden werden. Glücklicherweise gibt es an immer mehr Schulen auch die Möglichkeit des Unterrichts in einer anderen Erstsprache als Deutsch, weil man davon ausgeht, der konzeptionelle Erstspracherwerb hilfreich für den Erwerb einer weiteren Sprache ist. An zwei unterschiedlichen Schulen, habe ich zwei vollkommen gegensätzliche Umgänge mit einer anderen Erstsprache als Deutsch erlebt. Das Negativbeispiel ereignete sich während der Organisation einer Projektwoche über die Kontinente, in der unterschiedliche Sprachen vorgestellt werden sollten. Als ein Schüler voller Stolz „Arabisch“ vorschlug, weil das die Sprache seiner Eltern ist, hat die Lehrerin das abgelehnt. Ihrer Kollegin hat sie dann hinter vorgehaltener Hand dazu gesagt: „Genau, Arabisch das hätte er wohl gerne, wir nehmen Französisch.“ Dieses Beispiel zeigt, dass Sprachen einen unterschiedlichen Wert haben bzw. so wahrgenommen werden. In diesem Fall hat die Lehrerin die Französische Sprache höherwertig eingestuft hat als die Arabische Sprache. Glücklicherweise hat sie das dem Kind gegenüber nicht so deutlich gemacht, dennoch eine tolle Chance verpasst, das Kind positiv zu bestärken und es in seinem Wunsch zu unterstützen, damit das Kind die Erstsprache der Eltern positiv besetzen kann was sich wiederum positiv auf sein Selbstwertgefühl hätte auswirken können. Dies geschieht sicherlich nicht, wenn die Vorschläge einfach abgeschmettert werden. An meiner Praktikumsschule war es komplett anders, hier wird beispielsweise Türkischunterricht angeboten, um die Kinder mit türkischen Wurzeln in ihrer Sprachentwicklung adäquat zu fördern und ihnen damit ebenfalls einen stabilen Zweitspracherwerb im Deutschen zu ermöglichen.
Meines Erachtens haben stereotypische Vorstellungen über Schüler*innen in Schule immer noch einen starken Einfluss auf das Handeln von Lehrer*innen, denn auch im Orientierungspraktikum kam deutlich heraus, dass diese typisch-Mädchen/ typisch Jungen-Vorstellungen und die damit einhergehende Beurteilung von Handeln der Schüler*innen häufig zu beobachten ist. Damit ist beispielsweise gemeint, wenn Jungen im Stuhlkreis miteinander sprechen, dann wird es häufig sofort als eine Störung des Gesprächskreises deklariert und es werden sofort Sanktionen angedroht, während das Sprechen unter Mädchen häufig als „tuscheln“ bewertet und erst mehrmals ermahnt wird bevor Konsequenzen folgen. Das negativste Beispiel ist mir im Gespräch mit einer pädagogischen Mitarbeiterin begegnet, in dem sie über einen Jungen mit länger als schulterlangen Haaren urteilte, dass er die langen Haare nur tragen würde, weil er sich damit wichtig machen möchte und dass es unmöglich sei für einen Jungen so lange Haare zu tragen. Diesen Jungen hatte sie schon länger als „Störenfried“ ausgemacht und dieses „nicht genderkonforme Aussehen“ verstärkte ihr Urteil über diesen Schüler nur noch.
Ansonsten habe ich den Umgang mit Heterogenität in der Schule so erlebt, dass sie im Grunde nicht als Gewinn, sondern als Belastung von Lehrer*innen wahrgenommen wird, da eine differenzierte Unterrichtsvorbereitung eines höheren Aufwands bedarf. Diese Differenzierung ist wiederum nur Mittel zum Zweck die unterschiedlichen Grundvoraussetzungen der Schüler*innen auszugleichen, um sie schlussendlich so nahe wie Möglich an den Regelstand zu führen, was m.E. wiederum nur das Ziel verfolgt, eine homogene Schülerschaft herzustellen. Der Heterogenitätsgedanke macht nach meinem Verständnis in erster Linie dann Sinn, wenn die Unterschiede der Schüler*innen wahrgenommen und wertgeschätzt werden, so dass jeder einzelne Schüler, jede einzelne Schülerin die eigenen Stärken wahrnehmen kann, um daran zu wachsen. Aber das kann nur funktionieren, wenn man Schule auch diesen Spielraum zugesteht. In unserem Grundschulsystem, in dem nach dem ersten Halbjahr in Klasse 4 die Selektion für die weiterführenden Schulen ansteht, befindet sich zwangsläufig die defizitorientierte Wahrnehmung von Schülerleistungen im Fokus, was m.E. wenig mit Wertschätzung zu tun hat und für die psychologische Entwicklung der Kinder durchaus problematisch sein kann.
Sicherlich gibt es auch nach dieser Veranstaltung noch viele unbeantwortete Fragen, wie die Umsetzung all dessen als einzelne Lehrkraft mit ca. 24 Kindern. Wie nimmt man Heterogenität und die daraus resultierenden Bedürfnisse der Schüler*innen im Schulalltag adäquat wahr? Welche Diagnoseverfahren gibt es? Und vor allem, wie kann Förderung in einem Schulsystem dargestellt werden, das (zumindest nach den Erfahrungen aus dem Orientierungspraktikum) von Zeit- und Ressourcenknappheit geprägt ist, von Ansprüchen der Eltern und den Bedürfnissen der Schüler*innen, die häufig gar nicht auf Schule ausgerichtet sind? Ganz zu schweigen von den Ansprüchen der Kolleg*innen und der Schulleitung.
Dennoch waren die Einblicke in die verschiedenen Heterogenitätsdimensionen für mich sehr hilfreich und werden einen großen Einfluss auf meine weiteren Erfahrungen in der Praxis in Schule haben.
Ein weiteres Thema zu dem ich mehr erfahren möchte, ist der Bereich der Inklusion. Wenn man inklusive Pädagogik nicht studiert, ist der Input zu diesem Thema sehr gering.
Literatur:
Franz, Ute 2008: Lehrer- und Unterrichtsvariablen im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Eine empirische Studie zum Wissenserwerb und zur Interessenentwicklung in der 3. Jahrgangsstufe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Grosjean, Francois (1997): The Bilingual Individual. In: Interpreting2, 163‐187.
Muntoni, Francesca & Retelsdorf, J. (2019). At their children’s expense: How parents’ gender stereotypes affect their children’s reading outcomes. Learning & Instruction, 60, 95-103.
Perspektivrahmen Sachunterricht, 2013