Inklusion, Förderschwerpunkte und Sonderschulen

  1. Reflektieren Sie die Konsequenzen der Aussonderung von Schüler/-innen mit Förderbedarf.
  2. Welche Informationen sind in der Diagnose „Förderschwerpunkt Wahrnehmung& Entwicklung“ bzw. „Förderschwerpunkt Lernen“ enthalten? Welche Informationen benötigen Sie von einer Schüler/-in um Ihren Unterricht ggf. anzupassen?
  3. Wie können Sie der Vielfalt der Schüler/-innen gerecht werden und welche Verbündeten können sie dazu gewinnen?
  4. Warum stellte die Entwicklung der Sonderschulen historisch betrachtet einen Fortschritt dar? (vgl. Feuser in Müller 2019)

 

1. Die Aussonderung von SuS mit Förderbedarf ist keine Inklusion. Damit ist nicht nur die Aussonderung von Menschen mit Förderbedarf in Förderschulen gemeint, sondern auch konkret die Aussonderung im Unterricht einer vermeintlich inklusiven Schule. Die Konsequenzen dieser Aussonderung fallen nicht nur zu Lasten der förderbedürftigen SuS aus, sondern auch zum Nachteil der Lehrkräfte, MitschülerInnen und tatsächlich auch der Gesellschaft. Die förderbedürftigen SuS könnten sich weiterhin ausgegrenzt fühlen und darüber hinaus auch keine engeren Kontakte knüpfen, die ihnen bei der Inklusion in die Gesellschaft helfen würden. Die MitschülerInnen lernen, dass ein Förderbedarf etwas „Anderes“ bedeutet und könnten zwangsläufig die falschen stigmatisierenden Schlüsse ziehen, wobei ihnen eine mögliche Freundschaft oder zusätzliches Verständnis gegenüber anderen Menschen verloren geht. Die Lehrkräfte wachsen nicht an der Herausforderung und gehen nicht mit der Situation um, sondern wälzen die Aufgabe auf PädagogInnen ab. Betrachtet man die Auswirkungen dieses Systems auf großer, gesellschaftlicher Ebene, so lässt sich erkennen, dass die fehlerhafte Inklusion nicht zu einer echten Inklusion führt. Die Vielfalt einer Gesellschaft kann nur positiv sein, wenn es nicht mehrere vielfältige Gesellschaftsgruppen gibt die nebeneinander existieren aber nicht kooperieren. Eine echte Inklusion führt zu einer kooperierenden Vielfalt unserer Gesellschaft.

2. Die Diagnose „Förderschwerpunkt Wahrnehmung & Entwicklung“ (in anderen Bundesländern: „Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“) beschreibt eine Ansammlung unterschiedlicher Förderbedarfe in unterschiedlichen Entwicklungsbereichen, wie zum Beispiel Sprache, Denken und Handeln. Eine Möglichkeit diesen Förderschwerpunkt zu diagnostizieren wäre das ermitteln des Intelligenzquotienten, was jedoch nicht immer ein aussagekräftiges Ergebnis produzieren muss[1]. Menschen mit dem Förderschwerpunkt Wahrnehmung und geistige Entwicklung lernen zieldifferent, was bedeutet, dass sie andere Lernziele gesetzt bekommen, als ihre Mitschüler. In Kontrast dazu steht das zielgleiche Lernen von SuS mit Förderbedarf, bei dem die Lernenden beispielsweise Nachteilsausgleiche bekommen aber trotzdem dasselbe Ziel verfolgen wie ihre Mitschüler. Auch die Diagnose „Förderschwerpunkt Lernen“ führt zu einem zieldifferenten Lernen. Darunter fallen erneut eine Menge unterschiedlicher Erscheinungsbilder, wie zum Beispiel Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Entwicklungsprobleme in anderen schulischen Fähigkeiten. Diese Informationen können jedoch eher wenig über die einzelnen Schüler/-innen aussagen. Sie beschreiben weder die genaue Art und Weise des Förderungsbedarfs, noch geben sie Auskunft über die Talente und Schwierigkeiten des Individuums. Sie geben im besten Falle eine grobe Idee von den möglichen Anforderungen an die Lehrkraft und im schlechtesten Falle ein vereinfachtes und stereotypisierendes Bild von einem komplexen Individuum. Die weiteren Informationen, die ich als Lehrkraft benötigen würde, sind unter anderem der Lernstand des Schülers oder der Schülerin (Auskunft von SuS selbst oder LehrerInnen der vorherigen Schule), die Interessen und Fähigkeiten (Auskunft vom SuS selbst oder von Eltern), mögliche medizinische oder familiengeschichtlichen Hinweise (Auskunft von den Eltern) und Verhalten innerhalb des Unterrichts (Beobachtung von mir selbst). Vor allem das eigene Kennenlernen der Person wäre sehr wichtig, um sich selbst ein Bild zu machen was der bestimmte Förderschwerpunkt überhaupt bedeutet.

3. Dem Förderbedarf unterschiedlicher Schüler/-innen gerecht zu werden ist eine schwere Aufgabe, die mir nach dieser Vorlesung jedoch nicht mehr so unmöglich erscheint wie vorher. Zwar ist es nicht immer möglich, jeden SuS für jedes Fach zu begeistern, da man an persönlichem Interesse als Lehrkraft nur bedingt etwas ändern kann, dennoch ist es möglich interessierten SuS mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten gerecht zu werden. Die Angebote die man als Lehrkraft macht, sind dabei entscheidend. Man kann für die meisten Themen innerhalb eines Unterrichts unterschiedliche Lernangebote an die Lernenden machen. Die Vermittlung von Lerninhalten kann hierbei beispielsweise visuell erfolgen, zum Beispiel durch Videos, oder auditiv, zum Beispiel durch Vorlesen oder Erzählen. In einigen Fächern ist es sogar möglich kinästhetisch/motorisch zu lehren, zum Beispiel durch das basteln im Kunstunterricht. Auch kommunikatives Lernen ist ein mögliches Lernangebot, indem man selbst mit den Schülern arbeitet und spricht, oder sie in Gruppen ein Thema ausarbeiten lässt. Mit diesen und weiteren Lernangeboten ist es möglich, unterschiedlichen SuS gerecht zu werden und darüber hinaus auch Abwechslung zu bieten. Dies erfordert ein gutes Situationsbewusstsein und eine gewisse Anpassungsfähigkeit, gepaart mit Kreativität. Doch man muss diese Aufgabe nicht allein bewältigen. Die wichtigsten Menschen, die einem beim Meistern dieser Herausforderung helfen können, sind eindeutig der Schüler oder die Schülerin und die jeweiligen Eltern. Mit der regelmäßigen Kommunikation zwischen allen Parteien sollten sich Lösungen für viele aufkommende Fragen finden. Auch die Unterstützung und Vernetzung mit Kollegen und Kolleginnen (auch außerhalb der eigenen Schule), mit und ohne Erfahrung in diesem Bereich, bringt Unterstützung, Anregungen und neue Ideen ein. Zu guter Letzt ist ein offener Umgang mit den Themen rund um Förderbedarf und Förderung in inklusiven Klassen sehr wichtig. MitschülerInnen sollten nicht nur Verständnis lernen, sondern auch Wissen und Aufklärung über diese Themen erwerben, um Stigmatisierung vorzubeugen und die eigene inklusive Arbeit als Lehrenden einfacher zu gestalten.

4. Die historische Wichtigkeit der Einführung von Sonderschulen ist nicht zu unterschätzen. Auch wenn sie heute ein immer mehr veraltendes Mittel an Förderung sind, so waren sie doch ein erster Schritt zur Anerkennung von behinderten Menschen. Das Interview von Georg Feuser (in Müller 2019), in dem er seinen Werdegang und Erfahrungen mit Inklusion und Exklusion beschreibt, ist in dieser historischen Betrachtung ein wichtiger Zeitzeugenbericht. Dennoch wollte ich vor allem meinen eigenen Vater (geb. 1955) zu der Frage befragen, um auch einen anderen Zeitzeugen sprechen zu lassen. Er antwortete mir in einer Email auf die oben gestellte Frage Folgendes:

„In Tangstedt (Anmerkung: sein Geburtsort) hatte ein Mann seine Cousine geheiratet. Von den 3 Kindern waren 2 mongoloid (Anmerkung: veraltete Bezeichnung für das Down Symdrom). Das Älteste war im Kuhstall angekettet und irgendwann (im Alter von ca. 13 Jahren) war er weg. Gestorben, vielleicht verhungert und niemand hat nachgefragt. Andererseits wurden Menschen auch in Deutschland mit geringen geistigen Behinderungen auf den Bauernhöfen bis an ihr Lebensende „beschäftigt“. Es hing also alles vom Grad der Behinderung und der Einstellung der Eltern ab. Sehr, sehr, sehr böse war die Lehre, dass geistige Behinderung eine Strafe Gottes darstellt und sich die Eltern irgendwie versündigt hatten und deshalb das Kind behindert war und deshalb versteckt wurde. Oft wurden früher direkt nach der Geburt Kinder dem Vater gezeigt und wenn es behindert war oder der Vater dachte, es sei nicht von ihm, getötet. Dass können wir heute nicht verstehen, aber früher hatten die Menschen viele Kinder und wenn es dann „eins gekostet“ hat, dann war das ebenso.“

Da mein Vater in einem kleinen Dorf groß wurde, in dem eher Bauernfamilien lebten, ist diese Beschreibung vermutlich nicht auf ganz Deutschland anwendbar, sondern eventuell nur mit bestimmten Dorfgemeinschaften vergleichbar. Dennoch lässt sich der Fortschritt erkennen, den Sonderschulen eingeleitet haben. Menschen mit Förderbedarf werden heutzutage generell nicht als eine Last für die Gesellschaft oder gar eine Scham für die Familie gesehen, sondern als Menschen, die ebenso ein Recht auf Bildung haben, wie alle anderen auch.


 

[1] „Selbst der Erfinder der Intelligenztests, der französische Psychologe Alfred Binet, hat schon um 1900 zugegeben, dass Intelligenz nicht messbar sei“ https://www.br.de/themen/wissen/intelligenz-iq-test-intelligenztest-hochbegabt-100.html, 05.07.2018

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