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RV08: Prof. Dr. Matthis Kepser – Heterogenität 2020

1. Greiner (2019) formuliert verschiedene Dilemmata, die mit der Forderung nach Inklusion an den Schulen verbunden sind. Nehmen Sie zu dreien Ihrer Wahl Stellung.

Differenzstärkungsdilemma: In inklusiven Schulen wird die Heterogenitatswahrnehmung aufgrund der Sichtbarkeit großer (Leistungs- und Verhaltens-)Differenzen noch verschärft: Extreme Heterogenität erfordere ≫komplexe Differenzierung≪ (Gonzalez et al. 2016, S. 335). Vergleichsdifferenz erzeugt potenziell besonders für Schüler mit Problemen mögliche Beschämungs- und Abwertungserfahrungen.

Dies ist meiner Meinung nach ein sehr relevantes Dilemma, welches ich auch in meiner eigenen Schulzeit erfahren habe.

In einigen Situationen war die Differenzierung hilfreich. So hatten wir z.B. im Matheunterricht einen Schüler, der sehr schlecht war, was auch alle wussten. Dies war sicher für ihn etwas unangenehm, hat aber auch dazu geführt, dass unser Lehrer sich besonders viel Mühe gegeben hat, ihm die Dinge verständlich zu erklären und der Rest der Klasse hat dementsprechend auch Rücksicht genommen. Als er dann tatsächlich eine ganze Note besser geworden ist, war das ein kollektives Erfolgserlebnis.

Die meisten Differenzierungen haben jedoch eher, wie von Greiner beschrieben, dazu geführt, dass sich SuS abgewertet und beschämt gefühlt haben und ihre Leistungen am liebsten vor den anderen versteckt hätten. Da wir bereits eine sehr sozial hilfsbereite Klasse an einem Gymnasium waren, stelle ich mir dieses Problem in anderen Klassen als noch deutlich gravierender vor. In diesem Fällen war zudem zu beobachten, dass die Lehrkräfte zwar die Differenz deutlich gemacht haben, jedoch im weiteren Unterricht wenig bis gar nicht darauf eingegangen sind.

Dementsprechend denke ich, dass dem Differenzstärkungsdilemma auf zwei Weisen begegnet werden muss: erstens muss abgeschätzt werden, wie groß die Wahrscheinlichkeit für eine abwertende Reaktion der MitschülerInnen ist. Zweitens muss die Lehrkraft sehr sensibel vorgehen, damit die SuS den Vergleich als Chance wahrnehmen, nicht als Strafe, und den SuS immer wieder unterstützen. Auch kann an dieser Stelle vermittelt werden, dass SuS, die vergleichsweise gute Leistungen erbringen, auch profitieren können, indem sie schwächeren SuS Sachverhalte erklären.

Autonomiedilemma: Das allgemeine Ziel gesteigerter Lernerautonomie setzt bereits erhöhte Selbstregulationsfähigkeiten voraus – Autonomie beim Lernen zu ermöglichen, stärkt (nur) die (leistungs-)starken Schüler und befestigt den berühmten Matthäus-Effekt (›Wer hat, dem wird gegeben‹) beim Lernen. Inklusiver Unterricht antwortet darauf, indem er zwei Settings für unterschiedliche Lernziele installiert: »academic task structures« (Abels 2016, S. 331) und »social partizipation structures« (ebd.).

Das Autonomiedilemma zeigt sich nun auch besonders in der Corona-Krise und der resultierenden Fernlehre. Diejenigen SuS, die bereits vorher in der Schule gut mitkamen und selbstständig gearbeitet haben, kommen auch zu Hause mit dem Stoff gut zurecht. Diejenigen, die nicht gut selbstständig arbeiten können, bleiben jetzt in der Fernlehre noch weiter zurück, da die Unterstützung durch eine präsente Lehrkraft ausfällt.

Dieses Dilemma ist deshalb meiner Meinung nach eines der wichtigsten, da sich dieses Schema natürlich auch nach der Schulzeit noch fortsetzt. Eine wichtige Aufgabe seitens der Schule ist es daher, Lernerautonomie nicht vorauszusetzen, sondern dies als eine zu erlernende Fähigkeit anzusehen und in diesem Zusammenhang Strategien und Möglichkeiten mit den SuS auszuarbeiten, wie autonomes Lernen funktioniert.

›Als ob‹-Dilemma: Die ethnographische Unterrichtsforschung hat paradoxale Interaktionspraxen im inklusiven schulischen Alltag aufgezeigt, die eine Doppelbotschaft an (leistungsschwächere) Schüler übermitteln: Förderungsbedürftige Schüler werden – gemessen an ihrem Lernniveau – zu besonderen Leistungen ermutigt, aber ihre Leistungen werden weder klassenöffentlich ernstgenommen noch gewürdigt werden (Prengel 2017, S. 15).

Bei diesem Dilemma halte ich es für besonders wichtig, dass transparent kommuniziert wird, welche Leistungen wie bewertet werden. So gibt es z.B. oft die Möglichkeit für SuS, weiterführende Aufgaben als „Extraufgaben“ zu lösen, welche dann von einer Lehrkraft besondere Anerkennung erhalten, im Gegensatz zu den „normalen“ Aufgaben, die in diesem Beispiel dann nicht weiter gewürdigt werden. Dies wäre der Gegensatz zu dem von Greiner genannten Beispiel, in dem Förderschüler für besondere Leistungen keine Anerkennung erhalten. Generell sollten alle erbrachten Leistungen Anerkennung durch die Lehrkraft erfahren, sodass sich die SuS in ihrer Arbeit wertgeschätzt fühlen

2. Die Vermittlung und Reflexion der deutschen Sprache ist nicht nur Aufgabe des Deutschunterrichts, sondern fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip. Wo sehen Sie in Ihrem (ggf. zweiten) Fach Möglichkeiten, um

a) Vielsprachigkeit als Ressource zu nutzen,

Im Fach Chemie sehe ich nicht sehr viele Möglichkeiten, Vielsprachigkeit zu nutzen. Ein Ansatzpunkt könnte hier das bessere Verständnis von Chemikaliennamen sein, die oft aus dem Lateinischen oder Englischem stammen oder angelehnt sind, was jedoch auch durch eine kurze Erklärung auch verständlich gemacht werden kann. Zudem könnten besonders in der Oberstufe englischsprachige SuS profitieren, welche sich eingehend mit den Themen beschäftigen möchten, da ein Großteil der Fachartikel auf Englisch geschrieben ist.

Das Fach Religion ist in dieser Hinsicht schon wesentlich interessanter, da hier unterschiedliche Religionen behandelt werden, die natürlich nicht dem deutschen Sprachraum entspringen. Hier könnte man mit Hilfe vielsprachiger SuS auch kleine Beispiele einer Originalschrift oder Inschriften thematisieren, welche durch einen SuS, der diese übersetzen bzw. verstehen und erklären kann, dem Rest der Klasse zugänglicher gemacht werden.

b) gendersensibel Unterrichtsgegenstände auszuwählen und Aufgaben zu konstruieren. (ACHTUNG! Ein * genügt dafür nicht!)

Chemie ist ein naturwissenschaftliches Fach. Wie bei den meisten Naturwissenschaften (mit Ausnahme von Biologie) besteht hier oft das Vorurteil, dass Jungen hier begabter seien als Mädchen. Dies führt meiner Erfahrung nach dazu, dass Schülerinnen sich oft weniger für diese Fächer interessieren, da sie der Meinung sind, hier im Vergleich mit den Mitschülern schlechtere Leistungen zu erbringen, egal wie sehr sie sich anstrengen. Ich denke, es ist sehr wichtig, früh zu vermitteln, dass auch ein Fach für Chemie für Schülerinnen interessant und verständlich sein kann. Chemie spielt in beinahe allen Bereichen des Alltags eine Rolle, von Putzmitteln über Kosmetika bis hin zu Raketentreibstoff gibt es eine Fülle von Anwendungsbereichen. Gendersensible Aufgaben zu konstruieren besteht meiner Meinung nach nicht darin, etwas zu finden, was alle SuS gleichermaßen anspricht, sondern eine große Vielfalt an Experimenten und Anwendungsbereichen zu zeigen, sodass sich jede/r repräsentiert fühlt. So gibt es ruhige, aber schön anzusehende Experimente wie den chemischen Garten, bei dem aus anorganischen Verbindungen hübsche Gebilde im Reagenzglas wachsen. Andere Experimente sind laut, rauchen oder explodieren sogar (kontrolliert). Auf keinen Fall darf von vorneherein von der Lehrkraft angenommen werden, welcher Schülertyp sich für welche Art der Chemie interessiert.