Meine Haare fallen in weichen Wellen über meine Schultern, auf meiner Haut spüre ich die Wärme meiner Decke. Draußen ist es bereits wieder dunkel, obwohl es heute wohl gar nicht erst richtig hell geworden ist. Der cremefarbene Lampenschirm verteilt das warme Licht der Leselampe gleichmäßig im Zimmer und der Geruch des frisch aufgebrühten Tees erfüllt den Raum.
Früher wollte ich immer stark sein. Das ist wohl wenig verwunderlich, wenn man mit einem großen Bruder aufwächst, der einen immer in allem besiegt hat. In der Mittelstufe habe ich quasi nur schwarz getragen, habe mich unantastbar gefühlt. Ich habe mich von niemandem richtig verstanden gefühlt, keiner kam wirklich an mich ran. Das abzubauen ist wohl ein lebenslanger Prozess. Aber wenn ich eins während meines Abis gelernt habe, dann ist das Stärke in Sanftheit (engl. „softness“) zu finden. Ich finde es mittlerweile absurd, dass in der westlichen Gesellschaft so ein starker Fokus auf Stärke und Disziplin liegt. „No pain, no gain“. Warum sollte ich Schmerzen ertragen, um etwas zu gewinnen? Warum sollte ich leide, um zu meinem Ziel zu gelangen? Generell: Warum ist überhaupt das Ziel der einzig relevante Faktor? Ist es denn nicht viel wichtiger, warum ich etwas tue, wie ich etwas tue, mit wem ich etwas tue? Ich hatte lange das Gefühl, nur etwas erreicht zu haben, wenn ich dafür gelitten habe. Gerade während meines Abis habe mir oft erst etwas zu essen gemacht, wenn ich mit der einen Aufgabe fertig war. Egal wie stark mein Hunger war. Ich habe mir erst erlaubt eine Pause zu machen, wenn ich einen Großteil der Arbeit (oder am besten gleich alles) erledigt hatte. „No pain, no gain“. Und ja, ich habe ein sehr gutes Abi geschrieben. Aber nicht wegen, sondern trotz dieser Mentalität. Die hat mich nämlich nicht ans Ziel, sondern ins Burnout gebracht.
Um da wieder rauszukommen habe ich meine Prioritäten überdacht. Ja, Schule war mir sehr wichtig, ebenso, wie es jetzt die Uni ist. Aber meine absolute Priorität ist meine Gesundheit. Physisch wie psychisch. Und vor allem habe ich meine Arbeitsweise überarbeitet. Ich arbeite nicht mehr in jeder freien Minute, fühle mich nicht mehr schuldig, wenn ich mir freie Zeit nehme. Es hilft mir sehr, wenn ich mir regelmäßig Zeit nehme etwas von Hand zu schaffen. Sei es beim Zeichnen, Backen oder Häkeln. So verliere ich nicht den Bezug zur Realität, wenn ich so viel intellektuelle Arbeit für die Uni leisten muss. Dabei ist mir wichtig, dass Self-Care nicht der eigenen Produktivitätssteigerung dient. Ja, ich kann langfristig besser und mehr schaffen, wenn ich mir Pausen nehme und mich um meine Gesundheit kümmere. Aber Produktivität ist keins meiner persönlichen Ziele. Mein Ziel ist mein Leben mit allen Sinnen zu erleben. Details wahrzunehmen, mich selbst und andere zu lieben. Das mag für viele abgetakelt und kitschig klingen. Und vielleicht ist es das. Aber vielleicht wäre die Welt ein kleines bisschen besser, wenn jeder sich ab und zu Zeit nimmt die Regentropfen am Fenster zu beobachten oder beim Versuch etwas Neues auszuprobieren zu scheitern und es erneut zu versuchen. Statt sich über etwas oder jemanden aufzuregen, innehalten und versuchen Verständnis aufzubringen. Den Duft von frisch gebackenem Gebäck einzuatmen und sich am Lachen seiner Liebsten zu erfreuen. Vielleicht wäre die Welt ein kleines bisschen besser, wenn wir Stärke ein bisschen weniger und Sanftmut ein bisschen mehr Wert zusprechen würden.
Ich habe eine Playlist, die „Falling back in love with life“ heißt. Manchmal höre ich sie für Wochen oder sogar Monate nicht. Aber jedes Mal, wenn ich wieder anfange sie regelmäßig höre halte ich inne und lächle.
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