Ein weiteres Jahr ist (fast) vorüber und ein weiteres mal muss man nur einmal in die (sozialen) Medien gucken, um alle über Reflektion und gute Vorsätze reden zu hören. Anfangen tut alles mit den jährlichen „Wrap-ups“. Zunächst war mir dieses Phänomen nur von Spotify bekannt. Dort teilen alle ihre meistgehörten Künstler*innen und Songs. Aber bitte nur, wenn sie nicht zu basic, aber auch nicht zu extravagant ist. Dann wird man entweder als langweilig oder als komisch abgestempelt. Nachdem ich gerade einen Blick in meine Mails geworfen habe, musste ich feststellen, dass mir jetzt auch Steam und sogar der einzige Onlineshop, auf der ich mehr oder weniger regelmäßig Klamotten kaufe, mir jeweils einen Rückblick anbieten möchten.
Zudem ist kurz vor Sylvester wohl eine Zeit, in der sehr viele Menschen über das vergangene Jahr nachdenken, ihre Erlebnisse revuepassieren lassen und sich überlegen, was man im nächsten Jahr anders machen möchte. Ich bin persönlich ein großer Fan von Selbstreflektion, aber als ich gestern Abend mal wieder nicht schlafen konnte ging mir durch den Kopf, wie bescheuert es eigentlich ist, dass (nur) am Jahresende zu machen. Generell das ganze Konzept Sylvester… Ich frage mich, warum wir das eigentlich feiern. Nicht falsch verstehen, Sylvester ist tatsächlich der einzige Feiertag, den ich aktiv feiere. Aber neben Selbstreflektion bin ich auch ein großer Fan davon Dinge, die man mag, kritisch zu hinterfragen.
Also: Warum Sylvester? Erst mal könnte jeder andere Tag genau so der Begin eines neuen Jahres sein. Warum also der erste Januar? Mich persönlich verwirrt es bis heute, dass man früher die Jahreszeiten so gelernt hat: 1. Frühling, 2. Sommer, 3. Herbst, 4. Winter. Dabei startet das Jahr nicht mit Frühling, sondern im Winter? Es ist nicht einmal so, dass man die Wintersonnenwende als Neustart wählt (ein, wie ich finde sträflich vernachlässigter Feiertag). Das würde für mich immerhin einen gewissen Sinn ergeben, aber so…? Außerdem: Was genau feiern wir eigentlich? Das genau eine von uns bestimmte Zeiteinheit vorbei ist? Dass wir alle ein Jahr älter sind? Angesichts der in westlichen Gesellschaften Verbreiteten Ansicht, dass Schönheit=Jugend bedeutet und man das Altern mit allen Mitteln vertuschen will (anti-aging Produkte, Botox, etc.) erscheint mir das äußerst widersprüchlich. Feiern wir, dass wir ein Jahr weniger Zeit haben? Oder vielleicht (auch wegen der Pandemie), dass endlich alle schlimmen Sachen vorbei sind, und man einen frischen Neustart begrüßt, nach dem alles besser werden kann? Dabei ist das doch irrsinnig. Sylvester ist ein ganz normaler Tag. Die Sonne wird auf und sie wird untergehen. Es wird sich nichts verändern. Viren, Krisen und Kriege interessieren sich nicht für diesen von Menschen festgelegten angeblichen „Neuanfang“.
Ich bin stattdessen dafür, einfach mal zwischendurch zu reflektieren. Nicht immer auf saubere „Neubeginne“ warten, um etwas zu verändern. Es macht keinen Unterschied, ob ich mir an irgendeinem Dienstag die Haare färbe oder an Neujahr. Ob ich dann beschließe mehr Sport zu machen, wenn ich das Gefühl habe mich besser um meinen Körper kümmern zu müssen oder bis Neujahr warte. Ob ich mir vornehme mehr an meinem Selbstwertgefühl zu arbeiten, wenn ich damit zu kämpfen habe oder mir das als Vorsatz für das neue Jahr machen. Man muss nicht auf ein neues Jahr, auf einen neuen Monat oder die nächste Woche warte, um etwas zu verändern. Ich habe mir noch nie Neujahrsvorsetze gemacht. Ich reflektiere lieber regelmäßig, schreibe in ein Journal und rede mit meinen Mitmenschen.
Gestern habe ich mir tatsächlich einen neuen Vorsatz gesetzt (das morgen Sylvester ist, ist nur Zufall, ganz ehrlich!!). Ich möchte weniger nach artifiziell konstruierten Zeitstrukturen leben und mehr nach meiner Intuition. Da ich leider immer noch in einer Gesellschaft leben, wird das wohl nicht im Großen Umsetzbar sein. Ich kann nicht die Uni oder den Zug dahin verpassen, nur weil ich das Konzept von strikten Zeitplänen absurd finde. So funktioniert das leider nicht. Aber z.B. warte ich mittlerweile nicht mehr auf Weinachten, um meinen Mitmenschen mitzuteilen, wie viel sie mir bedeuten. Statt diesen religiösen Feiertag als Atheist zu feiern, schenke ich meinen Liebsten einfach zwischendurch Kleinigkeiten, wenn ich an sie denke und schreibe ihnen einfach, wie lieb ich sie habe. Und genauso möchte ich mir keinen Stress wegen Neujahr mehr machen. Ich muss mir keine lange Liste an Vorsätzen machen und große Erwartungen an das neue Jahr haben. Es ist einfach nur ein Tag der kommt und geht. Die Welt ist danach immer noch die gleiche.
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