von Karsten Hölscher
Die Erstsemester-Veranstaltung „Praktische Informatik 1“ im Fachbereich 3 (Mathematik und Informatik) wird zunehmend von Studierenden verschiedener Studiengänge besucht. Um der Heterogenität der Teilnehmenden hinsichtlich ihrer Vorkenntnisse und Perspektiven gerecht zu werden, ist eine Umgestaltung weg von einer reinen Informatik-Veranstaltung wünschenswert. Das im Folgenden beschriebene Projekt „PI-1 reloaded“ stellt den Versuch einer vorsichtigen Reform mit Fokus auf eine Binnendifferenzierung der Teilnehmenden dar.
Probleme
Die Hörerinnen und Hörer der Grundlagenveranstaltung „Praktische Informatik 1“, die aus verschienenen Studiengängen kommen, besuchen die Veranstaltung mit unterschiedlichen Zielen und Perspektiven. Für die ursprüngliche Zielgruppe, die Studierenden des Studiengangs Informatik, bildet die Veranstaltung das Fundament für das weitere Studium. Die vermittelten Konzepte und die verwendete Programmiersprache werden in folgenden Lehrveranstaltungen und den studentischen Projekten eingesetzt. Diese Tatsache ist den Studierenden der Informatik bewusst und dementsprechend erwarten sie eine fundierte, eingehende und anspruchsvolle Ausbildung auch und gerade im Hinblick auf technische Details. Für Studierende der anderen Studiengänge ist nicht klar definierbar, in welchem Ausmaß die vermittelten Konzepte direkt im weiteren Studium oder der späteren Tätigkeit zum Einsatz kommen. Für sie ist der Umgang mit technischen Details sowohl in den Vorlesungen als auch in den begleitenden Übungszetteln oft mühsam und wenig motivierend.
Aber nicht nur die unterschiedlichen Perspektiven, sondern auch die unterschiedlichen Vorkennisse sind herausfordernd. Der gemeinsame Nenner ist zwar die allgemeine Hochschulreife, diese ist jedoch speziell im Hinblick auf Informatik wenig einheitlich, da dieses Fach längst nicht an allen Schulen als Leistungskurs oder Abiturfach angeboten wird. Hinsichtlich ihrer Vorkenntnisse ist bei den Studierenden auf der einen Seite das Extrem zu finden, dass einige bereits als Selbstständige oder Angestellte professionell im Bereich Software-Entwicklung tätig sind, d. h. bereits über fundierte Vorkenntnisse verfügen. Das andere Extrem besteht in einer nicht geringen Anzahl von Studierenden, die keinerlei Vorkenntnisse in Programmierung bzw. sogar im Umgang mit Computersystemen allgemein haben. Aus dieser Heterogenität der Studierenden ergibt sich, dass ein Teil sich unterfordert und ein nicht geringer Anteil überfordert fühlt.
Der Anteil an weiblichen Studierenden hat durch die breite Fächerung von Studiengängen zwar zugenommen, ist aber immer noch knapp unter zwanzig Prozent. Dies hat zur Folge, dass ein großer Teil der weiblichen Studierenden sich selbst als Minderheit wahrnimmt und ein geringeres Selbstvertrauen in der Gruppenarbeit bei gemischten Gruppen zeigt. Die Motivation, sich in der Gruppenarbeit einzubringen und das Interesse an der Veranstaltung allgemein leiden darunter.
Aufgrund der Heterogenität der Teilnehmenden ergeben sich auch Probleme im Hinblick auf die Arbeitsteilung in der Gruppenarbeit. Die erfahrenen Studierenden programmieren zügig die Lösung zum Übungsblatt und den anderen Gruppenbeteiligten werden nur noch die Dokumentation und das Testprotokoll überlassen. Diese erwerben dann so gut wie keine Programmiererfahrung. Ähnliche Effekte werden aber auch bei einer homogeneren Gruppenzusammensetzung beobachtet. Die unbestätigte Vermutung ist, dass die Studierenden in identischen Gruppenzusammensetzungen an verschiedenen Modulen teilnehmen und sich dann aus Effizienzgründen die Arbeit pro Modul aufteilen. Die Person, die die besten Programmierkenntnisse hat, programmiert dann direkt nach Erscheinen des Übungsblattes die Lösung, um die Hauptarbeit für die Veranstaltung „Praktische Informatik 1“ für die Woche schon mal erledigt zu haben.
Auch die Tutorinnen und Tutoren müssen die unterschiedlichen Vorkenntnisse berücksichtigen. Sie werden direkt und unmittelbar mit Über- bzw. Unterforderung und dementsprechender Unzufriedenheit konfrontiert. Dies führt zu wachsender Frustration im Laufe des Semesters und damit zwangsläufig zu einer verringerten Motivation, was sich wiederum negativ auf die Lehrtätigkeit auswirkt und damit die Unzufriedenheit der Studierenden weiter in die Höhe treibt.
Da es sich bei „Praktische Informatik 1“ um eine Grundlagenveranstaltung handelt, werden derzeit im Wesentlichen grundlegende Konzepte vermittelt. Für die Studierenden ist dabei ein Bezug zur späteren Berufspraxis oder zur universitären Forschung kaum bis gar nicht zu erkennen.
In der Veranstaltung wird der gesamte Stoff frontal in der Vorlesung oder den Tutorien vermittelt. Forschendes Lernen ist aber in Folgeveranstaltungen und insbesondere den studentischen Projekten wesentlicher Bestandteil. Die Veranstaltung „Praktische Informatik 1“ bot in der bisher durchgeführten Art und Weise kaum bis gar keine Vorbereitung hinsichtlich der Selbstaneignung von Wissen.
Um den hier identifizierten Herausforderungen und Problemen zu begegnen, wurde das Projekt „PI-1 reloaded“ initiiert und im Rahmen der Ausschreibung des Rektorats vom 6. Oktober 2011 zum Themenkomplex „MINT-Studium an der Universität Bremen – Unterstützung für die Neugestaltung der Studieneingangsphase im MINT-Bereich“ gefördert.
Die im Folgenden vorgestellten Maßnahmen wurden zunächst intensiv vorbereitet und dann in der Veranstaltung im Wintersemester 2013/2014 praktisch angewendet.
Maßnahmen und Ziele
Unabhängig vom Projekt „PI-1 reloaded“ hat sich das Fachgespräch als nicht ausreichend zur Beurteilung der individuellen Programmierfertigkeiten herausgestellt. Aus diesem Grund wurde zeitgleich mit dem Projekt das Fachgespräch durch eine Programmierklausur ersetzt, in der die Studierenden kleine Programmieraufgaben direkt am Rechner lösen müssen.
Um dem Problem der Über- bzw. Unterforderung entgegenzuwirken, wurde sowohl in den Übungsblättern als auch in der Vorlesung eine Binnendifferenzierung versucht. Die Veranstaltung wurde dazu inhaltlich so konzipiert, dass die Vorlesungstermine unterteilt wurden in Basisvorlesungen und Wahlvorlesungen. In den Terminen der Basisvorlesung wurde der Stoff behandelt, der laut Curriculum allen Hörerinnen und Hörern vermittelt werden soll. In unregelmäßigen Abständen gab es an den normalen Veranstaltungsterminen Wahlvorlesungen. Hier wurden zwei zeitgleich stattfindende Vorlesungen mit verschiedenen Inhalten angeboten. Die Studierenden konnten dabei jedes Mal entscheiden, welche dieser Vorlesungen sie besuchen. Die fortgeschrittene Vorlesung („advanced track“) richtete sich an Studierende mit deutlichen Vorkenntnissen (oder schneller Auffassungsgabe) und betrachtete den Stoff der Basisvorlesung technisch detaillierter und beleuchtete insbesondere weiterführende Aspekte. Die andere Vorlesung („main track“) vertiefte den Stoff der Basisvorlesung z. B. anhand von ausführlichen Beispielen. Video-Aufzeichnungen beider Wahlvorlesungen durch das ZMML gaben Studierenden die Möglichkeit, den Stoff direkt in der entsprechenden Wahlvorlesung zu vertiefen und bei Interesse die weiterführenden Aspekte der anderen Wahlvorlesung in selbstbestimmtem Tempo nachzuvollziehen.
Nach etwa einem Drittel des Semesters wurde in einer Woche den Studierenden die Wahl zwischen einem fortgeschrittenen und einem vertiefenden Übungsblatt ermöglicht. Nach der verbindlichen Entscheidung für eine der beiden Varianten wurden zufällig neue Arbeitsgruppen innerhalb ihrer Tutorien zusammengestellt. Diese geänderte Gruppenzusammensetzung sollte neben der Binnendifferenzierung auch die starren Strukturen der bisherigen Gruppenarbeit aufbrechen. Hier bestand die Hoffnung, dass Studierende, die bisher wenig bis gar nicht programmiert hatten, durch ihre neue Gruppenzusammensetzung zum Programmieren ermuntert werden.
Der Aufbau der Übungsblätter wurde umgestellt von einzelnen, isolierten und unzusammenhängenden Aufgabenstellungen hin zu einem zusammenhängenden Projekt, das Woche für Woche weiter ausgebaut wurde. Hier wurde ein am Ende lauffähiger Multi-User-Dungeon-Spielserver entwickelt, an dem sich mehrere Spielerinnen und Spieler über eine Netzwerkverbindung einwählen und dort eine virtuelle Welt erkunden und manipulieren können. Direkt nach Ablauf der Abgabefrist wurde über Stud.IP ein Lösungsvorschlag bereitgestellt. Die Studierenden konnten dann in der Folgewoche auf diesem Lösungsvorschlag aufbauen, falls sie ihren eigenen Programmcode für nicht gut genug hielten. Bei fortgeschrittenen Inhalten in den Übungsblättern, die nicht explizit in der Vorlesung behandelt wurden, wurde durch Fußnoten auf die entsprechenden Quellen aufmerksam gemacht, um die Studierenden allmählich auf forschendes Lernen vorzubereiten.
Hintergrund Die Veranstaltung „Praktische Informatik 1“, die von ca. 450 Studierenden besucht wird, soll den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Grundlagen der imperativen und objekt-orientierten Programmierung und praktische Programmierfähigkeiten mit der Programmiersprache Java vermitteln. Darüber hinaus werden Grundlagenkenntnisse mit dem professionellen Textsatzsystem LaTeX und Versionskontrollsystemen wie Subversion oder Git erworben. Die Veranstaltung besteht aus zwei Vorlesungsterminen pro Woche und einem Tutorium, das als vierstündiges Praktikum in den Rechnerräumen des Fachbereichs Mathematik und Informatik durchgeführt wird. Die Veranstaltung bildet die inhaltlichen Voraussetzungen für das Software-Projekt und für die Veranstaltung „Praktische Informatik 2“. Die Studierenden bearbeiten wöchentlich in Dreiergruppen ein benotetes Übungsblatt. Die in den Übungsblättern erreichten Noten dienen als Grundlage für ein Fachgespräch am Veranstaltungsende, in dem die Individualität der Leistung überprüft wird. Die Veranstaltung „Praktische Informatik 1“ richtet sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr nur an Studierende des Studiengangs Informatik, sondern mittlerweile auch an Hörerinnen und Hörer aus diversen Studiengängen. Abbildung 1 veranschaulicht die konkrete Verteilung der Teilnehmenden aus dem Wintersemester 2013/2014. |
Aufgrund der Gruppenarbeit war ein individuelles und objektives Feedback für die Studierenden vor dem abschließenden Fachgespräch früher nicht möglich. Aus diesem Grund wurde eine Probeprogrammierklausur Anfang Dezember im eAssessment-Center der Universität Bremen geschrieben, welche für die Endnote wie ein Übungsblatt gewichtet wurde. Zusätzlich konnten die Studierenden dadurch die Umgebung und Bedingungen für die zu bestehende Programmierklausur am Ende der Vorlesungszeit kennenlernen.
Um die Tutorinnen und Tutoren auf die Betreuung der Tutorien vorzubereiten, wurde im Vorfeld der Veranstaltung eine verpflichtende Tutorenschulung durch die Studierwerkstatt der Universität Bremen durchgeführt, die speziell auf die Problematik des Umgangs mit heterogenen Studierendengruppen ausgerichtet war.
Der Stoff der ersten Vorlesungswochen wurde in einigen Ilias-Testmodulen aufbereitet und abgefragt. Durch speziell aufbereitete Ilias-Testmodule konnten Studierende, die den Anschluss verpasst oder ein negatives Feedback in der Probeprogrammierklausur erhalten haben, die Vorlesungen nachbereiten und Multiple-Choice-Fragen zum Stoff beantworten Um den Studierenden zu vermitteln, wie die Inhalte der Vorlesung in der Späteren Berufspraxis zum Einsatz kommen, wurden Vertreter aus der Forschung und der Industrie eingeladen, kurze Gastvorträge in den Vorlesungen zu halten und dort speziell über den Einsatz der Programmiersprache Java zu berichten. Aus dem Umfeld der universitären Forschung stellten Vertreter der AG Rechnernetze (Professor Drechsler) relevante Bereiche ihrer Forschungsfelder vor. Aus der Industrie konnten Vertreter der Firmen encoway GmbH und CTS (Computer Ticket Service) EVENTIM AG & Co. KGaA für Vorträge gewonnen werden.
Ergebnisse
Alle Projekte, die gemäß der obigen Ausschreibung gefördert wurden, wurden gemeinsam unter der Leitung von Professor Uwe Engel vom EMPAS Bremen evaluiert. Darüber hinaus wurden die Studierenden der Veranstaltung „Praktische Informatik 1“ gebeten, an einer Online-Evaluation auf Stud.IP teilzunehmen. Einige Studierende haben zusätzlich freiwillig ein persönliches Feedback bei den Tutorinnen und Tutoren oder direkt beim Veranstalter hinterlassen. Die gelegentliche Aufteilung der Vorlesungen in die Wahlvorlesungen erhielt ein überwiegend positives Echo. Dieses Prinzip ist daher in der folgenden Veranstaltung im Wintersemester 2014/2015, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Artikels gerade beendet ist, beibehalten und auch dort überwiegend positiv aufgenommen worden – insbesondere von Studierenden, die am „advanced track“ teilgenommen haben. Hier ist zu überlegen, ob eine solche Aufteilung in der Zukunft häufiger vorgenommen werden kann.
Weniger gut bewertet wurde die Aufteilung der Übungsblätter und die damit einhergehende Neubildung von Gruppen. Hier zeigt sich, dass die Studierenden bereits nach wenigen Wochen nur sehr ungern aus den etablierten Strukturen gerissen werden und den Nutzen der Maßnahme nicht erkennen konnten. Aufgrund der negativen Rückmeldungen und aufgrund der Tatsache, dass diese Maßnahme mit einem nicht geringen organisatorischen Aufwand seitens der Veranstalter verbunden ist, wird sie zunächst nicht weiter fortgeführt.
In Zukunft werden die aufbauenden Übungsblätter, die sich einem zusammenhängenden Projekt widmen, nicht mehr wöchentlich ausgegeben. Die Idee des zusammenhängenden Projektes wurde grundsätzlich positiv bewertet, es fehlte aber die Zeit, bis zum folgenden Übungsblatt die Musterlösung und die eigene Lösung zu vergleichen.
Die unbekannten Inhalte der Übungsblätter, die auf forschendes Lernen hin zielten, wurden gemischt aufgenommen. Einige Rückmeldungen waren positiv, aber nicht wenige auch sehr negativ. Ungeachtet dessen sollte diese Maßnahme in geringem Ausmaß fortgeführt werden.
Die Tutorenschulung mit speziellem Fokus auf heterogene Studierendengruppen wurde von den Tutorinnen und Tutoren überwiegend positiv bewertet. Diese Maßnahme hat sich also bewährt und sollte in Zukunft regelmäßig stattfinden.
Die Ilias-Testmodule wurden von nur ca. 100 Studierenden überhaupt angesehen. Nur etwa 30 haben dabei mindestens eins dieser Module komplett bearbeitet. Die Rückmeldungen legen nahe, dass dies dem Zeitaufwand geschuldet war. Daher muss abgewogen werden, ob der Aufwand zur Aufbereitung der Testmodule auch zukünftig betrieben werden soll. Allerdings stellt das Bachelor-Projekt „PIE-LOOP“ im Studiengang Informatik, das im Sommersemester 2015 abgeschlossen wurde, eine auf „Praktische Informatik 1“ zugeschnittenen Plattform bereit, auf der direkt Programmieraufgaben gelöst werden können, was bei Ilias bisher nicht möglich war und als großer Nachteil identifiziert wurde.
Die Vorträge aus Industrie und Forschung wurden mehrheitlich negativ bewertet. Die meisten Studierenden empfanden die Vorträge als nutzlos und aufgrund mangelnden Fachwissens unangemessen für eine Grundlagenveranstaltung im ersten Semester. Die Idee dieser Vorträge wird daher zunächst nicht weiter verfolgt.
Als objektive Kriterien für den Erfolg der Maßnahmen können die Bestehensquote und die Notenverteilung herangezogen werden. Beides hat sich gegenüber den Vorjahren allerdings kaum verändert. Da es in den Vorjahren aber keine Programmierklausur gab, sind die Ergebnisse ohnehin nur eingeschränkt vergleichbar.
Über den Autor:
Karsten Hölscher ist Universitätslektor am Fachbereich 3.
Bildnachweis:
- Autorenfoto: Karsten Hölscher (privat)
- Abb. 1: Karsten Hölscher
- Abb. 2/3: Karsten Hölscher mit Bildern von openclipart.com