Gessner et al. (2016) weisen auf die Gefahr hin, den Beutelsbacher Konsens fälschlicherweise als ‚Neutralitätsgebot‘ zu verstehen (Stichwort „Neutralität und politische Lethargie als Gefahr für politisches Leben“ auf Folie 13). Erläutern Sie, weshalb es sich hierbei um eine Fehlinterpretation handelt.
Die Interpretation des Beutelsbacher Konsens als vermeintliches Neutralitätsgebot läuft einem grundlegenden Prinzip der politischen Bildung zuwider: die politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland soll Bürger*innen zum „vernünftigen und selbstständigen Denken“ anregen und befähigen. (Reheis 2014, 22, vgl. Besand 2017, 109) Wenn Lehrende in der politischen Bildung eine vermeintlich totale Neutralität anstreben, dann laufen sie Gefahr, kontroverse Themen nicht oder nur oberflächlich zu behandeln. (vgl. Besand 2017, 109) Gerade die Diskussion ist aber ein elementarer Bestandteil der politischen Bildung, die den Schüler*innen einen angemessenen Umgang mit politisch umstrittenen Fragestellungen vermitteln soll. (vgl. Besand 2017, 109ff, Reheis 2014, 64ff.)
Auch verlangt der Staat ein Durchbrechen der Neutralität, die Verfassung bindet die staatliche Gewalt und als solche auch die Angehörigen der Staatsinstitution Schule an den Schutz der Grundrechte. (Grotz/Schroeder 2021, 32f.) Diskriminierende Aussagen verlangen eine Positionierung der Lehrkräfte. (Niendorf/Reitz 2019, 2)
Arbeiten Sie die Bedeutung des Beutelsbacher Konsens für ein Thema heraus, das in einem von Ihnen studierten Unterrichtsfach verortet ist. Was gibt es bei der Durchführung einer Unterrichtseinheit zu diesem Thema unter Berücksichtigung des Beutelsbacher Konsens zu beachten?
Die Literaturdidaktik im Fach Deutsch sieht als eines ihrer Ziele auch die Werteerziehung als Teil der Demokratieerziehung. (vgl. Dawidowski 2015, 185) Neben der methodischen Erziehung zur Literatur soll auch eine Erziehung durch Literatur stattfinden. (vgl. Dawidowski 2015, 189) Wenn in einem im Unterricht behandelten Werk für die Demokratieerziehung relevanten politische Themen verhandelt werden, sollten die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens beachtet werden. Bei der Diskussion des Werks muss darauf geachtet werden, dass die Lehrkraft die Schüer*innen nicht überrumpelt und ihnen die Möglichkeit nimmt, ihre eigene Meinung zu bilden. (vgl. Massing 2015, 146) Auch pragmatisch betrachtet ergeben sich Probleme. In rezeptionsästhetischer Betrachtungsweise erscheint auch der Leser als wichtige Figur der Erschließung literarischer Texte, nähme sich die Lehrkraft hinaus und erschiene nur als transparenter Vermittler, wäre ein angemessener Literaturunterricht nicht möglich. (vgl. Dawidowksi 2015, 196)
Lesen Sie sich den taz-Artikel „Unterricht im Schützengraben“ durch. Erläutern Sie, warum es für den Unterricht wichtig ist, sich kritisch mit den verschiedenen Parteiprogrammen auseinanderzusetzen.
Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland soll Schüler*innen zur Mündigkeit erziehen. (vgl. Reheis 2014, 22) Die Parteien, die als maßgebliche Institution der politischen Willensbildung in der Verfassung verankert sind (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG), sind von zentraler Bedeutung für die Politik in der Bundesregierung, somit auch für den politischen Unterricht. Wenn die Vorstellung der Wahlprogramme <neutral> verlaufen würde, käme dies einer Wahlveranstaltung für die jeweilige Partei gleich, diese findet jedoch bereits außerhalb der Institution Schule statt. Der mündige Bürger soll jedoch in der Lage sein, das ihm präsentierte Angebot nicht nur aufzunehmen, sondern auch Schlüsse daraus zu ziehen. Diese Methode muss jedoch trainiert werden, was im luftleeren Raum schwer möglich scheint. Unterricht sollte sich an der Realität der Schüler*innen orientieren dürfen.
Besand, Anja, Mit welcher Haltung machen wir unsere Arbeit? Drei Beobachtungen und vier Fragen an die politische Bildung „nach“ Pegida, in: Frech, Siegfried/Richter, Dagmar, Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen, Schwalbach 2015, S.104-113
Dawidowski, Christian, Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung, Paderborn 2015
Grotz, Florian/Schroeder, Wolfgang, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2021
Massing, Peter, Konfliktfähigkeit– Eine zentrale Voraussetzung für politische Handlungskompetenz, in: Frech, Siegfried/Richter, Dagmar, Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen, Schwalbach 2015, S. 146-161
Niendorf, M., & Reitz, S. (2019). Schweigen ist nicht neutral: menschenrechtliche Anforderungen an Neutralität und
Kontroversität in der Schule. (Information / Deutsches Institut für Menschenrechte, Nr. 25). Berlin: Deutsches Institut
für Menschenrechte. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-62785-2
Reheis, Fritz, Politische Bildung. Eine kritische Einführung, Wiesbaden 2014
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