Hört ihr mich?
Von Lisa Stange
Montag der 10.01.2025
Ich habe mich am Samstag mit Sarah getroffen. Ich glaube, ich habe in diesen sechs Stunden alle möglichen Emotionen durchlebt. Ich habe geweint, war nervös, unsicher, stolz auf sie und habe vollen Herzens gelacht. Sarah hat einen Platz in meinem Herzen, an den niemals jemand herankommen wird. Wir sind am gleichen Tag geboren und unsere Eltern waren schon bevor es uns gab Freunde, unsere Eltern sind gehörlos.
Irgendwie habe ich Angst, diesen Text zu schreiben, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst, dass die Gehörlosengemeinschaft verurteilt wird. Ich weiß es ist nicht die Schuld der Gruppe, wie sie sozialisiert wurden, abgekapselt vom Rest der Gesellschaft, aber wenn keiner ein Licht drauf wirft, ändert sich nichts. Eigentlich wäre das auch egal, denn die Gehörlosen und ihre Sprache sterben aus.
Ich erinnere mich, Sarah und ich alleine verloren im Krankenhaus auf der Suche nach ihrer Mutter. Andrea heiratet in einer Woche und gestern hat ihr zukünftiger Ehemann ihr einen Teller ins Gesicht geworfen. “Ich OP” ist die Nachricht, die wir nun entziffern müssen, wir wissen, dass sie in einem Raum mit “OP” an der Tür sitzt, aber wir sind nicht älter als 10 und verlaufen uns im Krankenhaus.
Sarah erzählt mir, dass sie vor ungefähr zwei Jahren erfuhr, dass sie bereits in der 30. Woche schwanger ist. Sie hatte schon ein Kind und war überfordert. Erst war sie sich sicher, dass sie es zur Adoption aufgeben möchte, sie saß schon im Büro und war bereit zu unterschreiben. Dann entschied sie sich doch um. Sie schrieb einen Brief an ihre Eltern: “Mir geht’s nicht gut”, “Ich bin überfordert”, “Ich weiß nicht wohin mit mir”, “Ich gebe es zur Adoption frei”. Ihre Mutter freute sich, dass es ein Mädchen wird, den Rest hatte sie nicht verstanden. “Und wenn ich ihr heute sagen würde ‚ich wollte (mein Kind) zur Adoption freigeben‘ würde sie mich anschauen und fragen ‚wann, warum?’”
Als ich dreizehn war, verstand ich zum ersten Mal das Ausmaß meiner Depression. Ich hatte schon immer Sozialarbeiterinnen Zuhause. Früher verstand ich nicht genau warum, heute weiß ich, Kadidja hat mir mein Leben gerettet. Für mich war schon immer klar, dass es keine Option ist, meine Eltern nach Hilfe zu fragen. Ich habe versucht, meinen Bruder um Hilfe zu bitten, aber er war auch erst 17. Als ich Kadidja erzählte, dass ich mich selbst verletze und dringend Hilfe brauche, hat sie keinen Moment gezögert. Sie war es, die meinen Eltern von meinen Problemen erzählte und sie hat für mich einen Therapieplatz gefunden. Meine Eltern wissen bis heute nicht ganz, was Therapie ist und wieso sich jemand selbst verletzen würde. Wie erklärt man seinen gehörlosen Eltern sein Leid? Wenn es an Vokabeln fehlt und sie, selbst wenn ich die Gebärden kennen würde, es nicht verstehen können.
Kadidja stellte mit mir Anträge: Bafög, Kindergeld, Krankenkasse, Arbeitslosengeld. Sie schrieb mit mir Bewerbungen, begleitete mich zu meinem ersten Info-Termin an der Erwachsenenschule und ist damals extra mit mir verschiedene Wege zur Therapie-Praxis gelaufen, um sicherzustellen, dass ich weiß wie ich dorthin komme. Kadidja brachte meine Eltern dazu, mir Geld für Klamotten zu geben, wenn ich in die alten nicht mehr rein passte. Kadidja organisierte mir ein Fahrrad und bewegte meine Eltern dazu, mir Bücher zu kaufen.
Sarah erzählt mir, dass sie in der Grundschule oft ein, zwei Tage nicht zur Schule ging, um für ihre Mutter zu dolmetschen. Wenn sie dann einen Freitag fehlte, um ihre Mutter zum Gynäkologen zu begleiten, wurde sie Nachmittags auf dem Spielplatz von anderen Schüler:innen schräg angeschaut, die gingen davon aus, dass sie geschwänzt hätte. Letztes Jahr bekam ihre Mutter die Diagnose Gebärmutterhalskrebs, sie wohnt inzwischen nicht mehr in Bremen. Ihre Mutter hätte nicht bei einem einzigen Termin Sarahs Hilfe gebraucht, sagt sie traurig und sauer: „Wieso konnte sie das früher nicht?”
Dann frag ich sie, ob sie mal versucht hat, ihrer Mutter zu sagen wie einsam sie ist, obwohl ich mir die Antwort eigentlich schon denken kann, denn ich weiß, aus welchen Gründen ich es nicht getan habe.
Ihre Mutter hat es nicht alleine zu Arztterminen geschafft sagt sie, und ein “alles ist okay” vom Hausarzt wurde oft nicht verstanden, wie hätte sie dann jemals auf die Idee kommen können, dass ihre Mutter ihre Einsamkeit verstehen würde?
Sarah und ich haben zu viel gemeinsam, wir verstehen was es bedeutet, mit gehörlosen Eltern groß zu werden. Es ist nicht nur eine andere Sprache, gehörlose Menschen sind einfach anders. In diesen zwei Welten existieren zu müssen, hat uns viel genommen. Sarah war jahrelang in Gruppenhäusern untergebracht, ihre Mutter wollte sich nicht von Sarahs Stiefvater scheiden lassen. Ich hingegen bin zuhause geblieben, mein Bett war meine Welt. Und irgendwie studiere ich jetzt, und irgendwie lässt mich das Schuldgefühl nicht los.
Wie sollen wir unseren Eltern denn irgendetwas übel nehmen? Sie leben in einer Welt, die sie nicht haben will. Sie sind so, wie sie sind, weil sie allein gelassen wurden, von der ganzen Welt. Sie sind so wie sie sind, weil ihre Angehörigen sie schon ihr ganzes Leben bevormunden und alles für sie erledigen. Meine Mutter ist eine Frau, eine gehörlose Frau, eine gehörlose Frau, die ganz klar als Ausländerin gelesen wird. Die Welt ist nicht für sie gemacht, die Gesellschaft bindet sie nicht ein. Das verstehe ich, das macht mich sauer, wie soll ich denn dann sauer darauf sein, dass sie von mir erwartet, das zu tun, was alle vor mir schon für sie taten? Alles für sie zu erledigen.
Die Welt ist nicht für meine Eltern gemacht und ich verstehe warum.
In meiner Kindheit fehlte viel, und ich verstehe warum.
Dann fühle ich mich ihnen näher denn je und Verständnis wird mächtiger als Selbstgerechtigkeit, Und irgendwie macht das noch einsamer. Denn wer versteht mich, außer Sarah?
Und ich bin frustriert, unglaublich frustriert. Wie kann es angehen, dass ich jetzt in der Universität sitze und von meinen gehörlosen Eltern erzähle, von meinem Kindheitsleid. Ich habe es doch geschafft, mein Abitur nachgeholt, ich studiere. Das Leid, von dem ich erzähle, ist nicht meins. Klar, ich lebe mit den Konsequenzen der strukturellen Benachteiligung meiner Eltern, aber ich bin entkommen. Sarah nicht, zumindest nicht auf die Art und Weise, wie du und ich uns “entkommen” ausmalen. Sie sollte doch diesen Text schreiben, sie sollte gehört werden, sie hat mehr zu sagen. Ich repräsentiere nicht die Gehörlosengemeinschaft, ich repräsentiere nicht die Herausforderungen von Codas.1 Ich repräsentiere was es bedeutet, sich aus den Fängen des “Coda-sein” zu befreien, ich repräsentiere ein Entkommen. Aber Sarah wird diesen Text nicht schreiben, sie wird wahrscheinlich nie studieren, meine Eltern erst Recht nicht. Ich bin also das nächst Beste, ich bin die einzige, die für sie diesen Text schreiben kann.
Was ein scheiß System.
Ich werde nicht fragen, warum ich jetzt studiere und Sarah nicht.
Ich werde mich hier nicht darüber aufregen, wie unglaublich unfair es ist, dass ich hier sitze und mich bilde und Sarah mit 22 als Hausfrau Zuhause mit ihren zwei Kindern sitzt.
Ich weiß, dass ich auf meine Erfolge stolz sein darf, auch wenn es sich so anfühlt, als würde ich meine schwierige Kindheit und die Leute, für die ich eigentlich kämpfe, betrügen.
Ich weiß, dass ich mich nicht schuldig dafür fühlen muss, aber ich tue es trotzdem, denn Sarah fehlte es nie an Potential oder Wille. Ich hatte Glück, sie nicht.
Ich bin unglaublich stolz auf Sarah, sie ist eine hervorragende Mutter, hat ihre Nächstenliebe nie verloren und vielleicht ist das Leben, welches sie führt, auch genau das, was sie sich immer erträumt hat. Vielleicht hätte sie auch ein Recht darauf gehabt, ihr Leben selbstbestimmter zu führen, aber das ist nur ein Tagebucheintrag und was weiß ich schon.
Ich wiederhole mich: Was ein beschissen unfaires System.
1 Children of deaf adults.