Das zirkulierende Universalarchiv
von Maximilian Heitzer
Das zirkulierende Universalarchiv – Protokoll aus einem Dialog zwischen Olan Ghetzu und Sera R. Gaullo
Übersetzung nach Letz Jhurtfin Mayaer, L-Epoche: 1965-2065, Wdt. (Unvollständigkeit vorbehalten), N53°06’28.1″ E8°51’23.3″, 23.06.3615
Un’ wat ist dat?
Eine Art Bewässerungsgerät für titanierten Gips. Triptolon.
Und dat?
Ein zirkulationssensibles Micro-Solarpanel der Firma GoneSun, Baujahr 2154.
Aha. Un’ dat hier?
Ein Presslufthammer, 1997.
Un’ –
Lieber Menschheitsminister. Ich möchte dich ungern in deiner Neugier stoppen, aber wollen wir in die oberen Ebenen? Deine Memory wartet.
Ja, ja, sicher. Weiste Ser… Ser…
Sera Retnewjik Gaullo. Sera reicht vollkommen.
Serja, ja, jenau. Mit Namen hab ich et nich so. Mich kannste Olan nennen. Ach, wat erzähl’ ich da. Weiste Serja, die 80 Jährchen in’er Schlafkapsel verliefen eigentlich janz reibungslos. Nur dat mit den Erinnerungen rekonstruieren is’ nich’ so janz jut verlaufen. Die ham da ‘n Fehler jemacht, weiste. Schnell, schnell, husch, husch, weil meine Vorjängerin unbedingt die Ausgrabungen auf Zentralerde mitmachen will. 150 Jahre, 3765 soll et loss jehn. Die muss pennen jehn. Darum muss ich nu’ einspringen un’ die Ministeriumsperiode zu machen. Bei so viel hin und her, da passiert sowat schon mal. Un’ wenn ich schonn ma’ hier bin, um mejn Kopp frisch zu mache, dann wollt’ ich mir dat nich’ allet nur in’ne Birne hochladen, sondern auch ma’ kieken wat frühjer die Menschen so jemeckt haben.
Dich interessiert das wirklich, was? So tausende Jahre alte Dinge erzählen ihre Geschichte am besten, wenn sie vor dir liegen. Aber jetzt steigen wir erst mal in die Schnellbahn. Bitte sehr.
Poa, wachte, mejne Jelenke. Puh. Ja. So.
Sitzt du bequem? Dann geht’s jetzt los.
Supa! Wie tief sin’ wa denn hier?
Ungefähr 2500 Meter.
So tief!? Menschenskinder, dat is’ ja doll. Aber hier kieck ich no’mal vorbej. Dat Forschen find’ ich doll! Un’ wo jeht et jetz’ hin?
Erstmal kurz unter die Erdoberfläche zu den Serverräumen. Da bekommst du auch deinen Memory-Upload. Und dann besuchen wir die Ahnya-Gruppe, die bereitet gerade was zum Thema Glücklichsein vor. Später gehen wir auch noch was essen.
Sin’ wa denn nich’ schonn alle jücklich? Ha!
Keine Frage. Aber wie unsere vor-vor-vor-vor-VOR-…-Generation das überhaupt geschafft hat; das ist ein ganz spannendes, historisches und gesamtweltliches, Thema. Ahnya haben das ganz toll aufbereitet. Damals war es nämlich so –
Ach damals, damals. Hör doch auf mit damals. Damals war nix, rein ja nix besser. Dat weiß ich noch, un’ dat meckt mich fuchsteufelswild! Vor 500 Jahren ham se sich noch die Köppe einjeschlagen.
Aber nicht alles war nur schrecklich damals.
Ach ne!? Von wejen.
Ja, ja. Mir fällt gerade ein: Kennst du eigentlich die Geschichte von Hier?
Irgen’wat flimmert da im Hinterstübchen. Hm, nä. Erzähl’ ma. Ham ja wat Zeit, wa?
Also, vor ca. 1585 Jahren hat sich eine Gruppe Forscher:innen zusammengefunden die das hier alles gegründet haben –
Wie, wat jetz’? So’n Klotz ham die hier hinjestellt?
Nein, nein. Es fing alles ganz klein an. Damals gab es noch nicht die Technologie geschweige denn die gesellschaftliche Infrastruktur, würden wir heute sagen. Zunächst war es ein kleiner Raum, so ein Büro, im Keller der Universität. Erst einige Zeit später hat man sich hier räumlich erweitert und vernetzt. Aber ungefähr hier hat es angefangen, in Brem’, glaub ich, so hieß der Ort. Wie dem auch sei. Also diese Forscher:innen haben sich zusammengefunden. Es waren zunächst ein paar Ethnolog:innen, Kunstwissenschaftler:innen, Naturwissenschaftler:innen und Soziolog:innen. Die wollten gemeinsam was schaffen, mhm, so eine Art “lebendiges Archiv” –
Archiv? So wat wie’n Museum!? So’n oller Tempel wo man rumlüppt und nur kieckt? Sabbeln verboten! Haha!
Naja, als so was fing es an. Aber die Idee war von Anfang an eine andere. Es war so, dass sich diese Leute mit Räumen und Orten auseinander gesetzt haben. Erstmal ganz abstrakt, theoretisch. Also, was macht einen Ort aus, was sollte einen Ort nicht ausmachen, wie muss ein Ort beschaffen sein, damit Mensch Mensch sein kann, Geschichte schaffen kann, und sich mit seinem Tun identifizieren kann. Kurzum: wie können Menschen sich dort individuell einbringen, mitreden, mitgestalten und lernen. Alles unter dem Zeichen von demokratischer Beteiligung, Erkenntnisgewinn und passgenauer Erkenntnisvermittlung. Es sollten Verbindungen geschaffen werden, zwischen Dingen, zwischen Kultur im weitesten Sinn, und den Menschen die sie schaffen. Eine dekonstruktiv-transformative ent-Entfremdung sozusagen. Eine junge Mitarbeiterin schrieb mal, dass an diesen Orten Geschichten gesammelt und Geschichten erzählt werden sollen. Das hat sie von einem ihrer Dozenten gelernt. Uberg, oder Oberg, oder so, mit Namen von damals habe ich es nicht so, Verzeihung.
Jeschichten.. ach wat. Jemand hat sich dann da hinjestellt und wat erzählt oder wie?
Auch, ja, aber das war nur ein Teil. Es ging erst mal darum Informationen zu sammeln in Form von allerhand Alltäglichkeiten und Besonderheiten. Es sollte ein Universalarchiv erstellt werden. Kunst, Schriften, Bilder, Werkzeuge, Hörstücke, Alltagspraktiken undsoweiter sollten archiviert, kartiert, beschrieben und gleichzeitig lebendig gemacht werden.
Lebendig?
Wie ich schon sagte, es waren unterschiedliche Fachbereiche beteiligt und jede Person brachte ihre eigenen Interessen und Schwerpunkte mit. Aber alle einte die Idee, dass es ganz viele individuelle Lebenswelten gibt, Individuen und ihre Gesellschaften in reziproker Beziehungen stehen, und jeder Mensch irgendwie irgendwas beiträgt. Und trotz der Vielfältigkeit und Fremdheit: alles ging vom Menschen und seiner Beziehung zu seiner Umwelt aus. Bedeutungen. Und darin sahen sie die Verbindung in grundsätzlich allen Dingen. Und diese Beziehungen wollten sie eben mit den Methoden und Kenntnissen ihres Fachbereichs herausfinden und diskutieren.
Verbindung und Beziehung!? Klingt für mich nach Quacksalberei, oder nich!?
Mit Mystik und derartigen Dingen haben die sich auch Beschäftigt, aber nur inhaltlich. Die haben qualitativ und quantitativ gearbeitet, nach damaligen Standards natürlich. Dafür brauchten sie auch Unmengen an Informationen. Darum haben die auch alles mögliche gesammelt.
Un’ wat zum Bleistift?
So ein Kerl, Mäcksilian, oder so ähnlich, hat sich zum Beispiel viel mit Klängen beschäftigt. Der hat sich erst mal für alles interessiert, was man so hören kann. Stille fand der auch ganz interessant. Wie schafft Klang einen Raum oder der Raum die Klänge? Oder: wie ordnet Klang? Er hat versucht Klangwelten zu erfassen und diese ethnophonografisch zu untersuchen. Das haben auch schon andere gemacht. Schäääfer, Feld-td, Holzschleiter, so ähnlich hießen die. Letzterer hat auch den Begriff Ethnophonographie geprägt. Dieser Mäcksmilli hat Interviews geführt, auch mal Ars Acustica und Hörspiele und Radio-Features produziert. Kunstradioaufzeichnungen hat der auch archiviert und vermittelt, weil die sonst alle weggeschmissen worden wären. Er hat für verschiedene Zwecke, verschiedene Formen gesucht, um die informativen Erkenntnisse und Eigenheiten bestmöglich wiederzugeben.
Du kannst mir doch nich’ vertelle, dat der Macks-Typ dat allet in seinem kleenen Büro da jemekt hät!?
Der wollte immer raus ins Feld, so zu sagen. Lehnstuhl-Ethnologe wollte der nie werden. Den hat auch so vieles interessiert –
Lehnstuhl-wat? So’n Bücherwurm oder wie?
Der hat gern gelesen. Und fand auch viele spannende Theorien in seinen Büchern. Die wollte er aber nicht so stehen lassen sondern mit anderen Menschen diskutieren und in der Welt auf die Probe stellen. Da gibt es eine nette Anekdote: Einen Abend brütete Mäckmilan über seinen Stapeln von Büchern und Zetteln und hing an einem Absatz, immer und immer wieder fest. Er musste den hunderte Male lesen und hat ihn nicht verstanden. Nach dem hundertundersten Mal fiel er seufzend in die Lehne seines durchgesessenen Stuhls zurück und KNACK der Stuhl ist zerbrochen. Und in dem hohlen Holz fand er einen Zettel auf dem Stand: „Bitte nicht anlehnen. Ausstellungsstück.“ Darauf hin war er nur noch am laufen.
Haha! Wat ‘n Kappes! Und sonst, außer dem Klangkram?
Später, als auch ökonomische Mittel zur Verfügung standen und mehrere Forscher:innen aus anderen Fachgebieten dazukamen, wurden allerlei Dinge angeschafft: Kunstwerke, Geschirr, Kleidung, Filme, alles. Zeitgenössische und ganz alte. Dafür mussten dann auch größere Räume her. Und dann, und das war, zumindest für diese Zeit das besondere: die haben ein weltweites zirkulierendes Museum inszeniert. Dauerhaft! Die Idee war auch nicht neu. Dschonn Cache, ne, Cage, hat sowas mal als Art Kunstwerk geschaffen. Also viele Museen haben ausgewürfelt welche Exponate jedes dieser Häuser mit einem anderen tauscht. Die haben es tatsächlich geschafft einen dauerhaften und vor allem fairen Austausch von Exponaten weltweit hinzubekommen. Und viele der Dinge die ausgestellt und geteilt wurden konnten auf einmal in einem ganz anderen Licht erforscht und diskutiert werden. Und es kamen dann auch aus allen Ecken des Erdballs Menschen zusammen die ihre Sichtweise, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse eingebracht haben. Und das war auch der Knackpunkt: einer möglichst breiten Masse die Geschichten verständlich zu erzählen. Dabei war es wichtig wer etwas erzählt, und auch, was nicht erzählt wurde.
Sowat wie hier jetz’!
Anfangs hat es natürlich noch nicht reibungslos geklappt. Die viral-neuronalen Netzwerke, wie wir sie heute kennen, waren lange nicht so leistungsfähig und zuverlässig, um die ganzen Informationen und Erkenntnisse miteinander zu verknüpfen. „Künstliche-Intelligenz“ hieß es damals noch. Als sie versucht haben diese Technologie für ihre Zwecke zu nutzen, kam auch viel Quatsch dabei raus. Daten- und Wissensmengen brauchen viel Platz und eine gute Struktur. Und vor allem ein ständiges Team, dass sie pflegt, berichtigt und bestmöglich zur Verfügung stellt. Aber im großen und ganzen, ja, ein Erbe, was nun 1585 Jahre alt ist. Unser zirkulierendes Universalarchiv, eine gesamte Menschheitsgeschichte in all’ ihren Realitäten und Verknüpfungen.
Donnerwetter. Ich muss dat auf jeden Fall besser wissen. Dat lädtste mir mal schön als erstes in’ne Birne.
Wie du möchtest, Olan. Wir sind auch schon da. Einmal aussteigen, bitte.
Poch. Wieder meine Knochen, ey. Sach mal, pff, und die janze Jeschichte hier, dat wurde allet aufjezeichnet?
Weißt du, am Anfang der Tagebücher zum Archiv steht ein Satz, an den halten wir uns heute noch.
Ach, un’ wat?
„Am Ende des Tages schreiben die Ethnolog:innen“.
Abbildung: Elektrischer Abbruchhammer SAH 1500-HK von Schwarzbach (16 kg). Wikimedia Commons, Public Domain, 2011. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:AbbruchhammerSAH1500-HK.jpg (29.06.2025)