Ich habe mich für den Artikel „Welche Rahmenbedingungen braucht ein inklusives Bildungssystem? Das Beispiel Italien/Südtirol“ von Rosa Anna Ferdigg entschieden (2/2010), da meiner Meinung nach, das (gute) Gelingen von Inklusion nur dann möglich ist, wenn auch die Rahmenbedingungen stimmen. Der Artikel von Ferdigg untersucht folgende vier Faktoren, die für ein inklusives Bildungssystem maßgeblich entscheidend sind:
- Gesetzlicher Rahmen
- Personelle und finanzielle Ressourcen
- Unterstützungssystem
- Angemessene strukturelle Voraussetzungen
Als Fallbeispiel dient Italien, Südtirol, da das Bildungssystem dort bereits seit mehr als 30 Jahren inklusiv ist und als Paradebeispiel für gelingende Integration im Bildungssystem gelten kann.
Zu Punkt 1: Gesetzlicher Rahmen
In Südtirol ist das Recht auf Bildung und gemeinsame Beschulung gesetzlich geregelt und einklagbar. Die Verfahren zur Feststellung der Behinderung, die dafür verantwortlichen Institutionen und deren Zuständigkeiten und Aufgaben sind gesetzlich vorgegeben und werden ausschließlich von Fachkräften vorgenommen (d.h., dass Lehrkräfte keine diagnostischen Abklärungen übernehmen).
Die Diagnose der Beeinträchtigung, die Beschreibung der Kompetenzen des Kindes, aber auch die Schwierigkeiten für die relevanten Bereiche werden festgehalten und geben ein gesetzliches Anrecht auf notwendige therapeutische Angebote und/oder spezifische pädagogisch-didaktische Maßnahmen (Differenzierung und Individualisierung der Lernwege, differenzierte Bewertungskriterien). Auch bei Beeinträchtigungen und Störungsbildern mit weitreichenden Auswirkungen besteht per Gesetz ein Anrecht auf vorgesehene Unterstützungs- und Individualisierungsmaßnahmen. Die vorgesehenen Maßnahmen für die Bildung und Förderung der Kinder werden dann in einem Individuellen Erziehungsplan schriftlich dokumentiert. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen die individuellen Ressourcen, Probleme und Bedürfnisse der Kinder und die Wechselwirkung mit dem Umfeld. Das heißt, das der Individuelle Erziehungsplan nicht losgelöst von den Lernsituationen der gesamten Gruppe bzw. Klasse steht, sondern er muss eng in diese (Lernsituationen) eingebunden sein. So wird der Individuelle Erziehungsplan in Zusammenarbeit mit den betroffenen Kindern selbst – entsprechend ihrem Alter – den Eltern, den Lehrern, dem Klassenrat, den Bezugspersonen der Kinder und den Fachkräften der Dienste erstellt. Eine Kopie dieses Individuellen Erziehungsplanes wird den Eltern, den Lehrern und den Fachkräften ausgehändigt. Das Original wird gemeinsam mit den anderen persönlichen Dokumenten in der Schule aufbewahrt, bis das Kind die Institution verlässt. So wird beim Übergang von einer Schulform (z.B. von der Grundschule in die Sek I, und von der Sek I in die Sek II) in die nächste, der Individuelle Erziehungsplan ausgehändigt und aktualisiert. Im Rahmen dieser Aktualisierung kann auch die Erstdiagnose geändert werden, wenn dies aufgrund der durchgemachten Entwicklungen des Kindes für notwendig erachtet wird, um sich dann an den aktuellen Bedürfnissen des Kindes zu orientieren.
Zu Punkt 2: Personelle und finanzielle Ressourcen
Zur Unterstützung der Inklusion können den Schulen zusätzliche Personalressourcen zugewiesen werden:
Integrationslehrperson
Die Integrationslehrpersonen haben eine Hochschulausbildung als Grundschul- oder Sekundarstufenlehrer und eine zusätzliche zweijährige universitäre Spezialisierung im Bereich Integration. Die Integrationslehrperson wird einer oder mehreren Klassen zugewiesen, in der SchülerInnen mit einer diagnostizierten Beeinträchtigung eingeschrieben sind. In diesen Klassen ist die Integrationslehrperson vollwertiges Mitglied des Klassenrates und nimmt auch mit Stimmrecht an den Bewertungskonferenzen für alle SchülerInnen teil. In den ihr zugewiesenen Klassen übernimmt sie die didaktische und pädagogische Aufgaben im Team mit dem KlassenlehrerIn. Die Integrationslehrperson spielt auch als Experte eine wichtige Rolle bei der Erstellung und Überprüfung des Individuellen Lehrplans sowie bei der Planung und Überprüfung der Differenzierungsmaßnahmen.
MitarbeiterIn für Integration
Der MitarbeiterIn für Integration wird vor allem dort eingesetzt, wo aufgrund schwerwiegender Diagnosen Hilfe bei der Verrichtung von Alltagshandlungen (Fortbewegung, Essen, etc.) Unterstützung notwendig ist. Der MitarbeiterIn für Integration hilft bei der Erstellung des individuellen Erziehungsplanes, des Entwicklungsprofils, trägt zur Bestimmung von Stärken, der Festlegung von Zielen und methodischen Strategien bei und nimmt mit beratender Funktion an den Sitzungen der Kollegialorgane teil.
SozialpädagogIn
Der SozialpädagogIn hat eine Hochschulausbildung im Bereich Sozialpädagogik oder Sozialarbeit. Der Aufgabenbereich ist weitläufig und kann sowohl die ganze Schulgemeinschaft als auch das Elternhaus und außerschulische Partner involvieren. Der SozialpädagogIn sucht nach pädagogisch sinnvollen Lösungen auch in schwierigen Erziehungssituationen, insbesondere für SchülerInnen in sozial schwierigen Situationen.
Finanzielle Mittel für die Anschaffung von speziellen Lehr- und Hilfsmitteln
Zusätzlich werden den Schulen nach einem festgelegten Schlüssel finanzielle Mittel zum Einkauf von speziellen Lehr- und Hilfsmitteln zur Verfügung gestellt.
Zu Punkt 3: Unterstützungssystem
Das Unterstützungssystem für Schulen sieht interne und externe Angebote in Form von Experten, Arbeitsgruppen, Beratungs- und Fachstellen vor. Dienste des Schulamtes und des Pädagogischen Institutes sehen z.B. folgende Angebote vor:
- Integrationsberatung
- Schulberatung
- Gesundheitsförderung
- Unterrichtsentwicklung
- Schulentwicklung
- Supervision&Coaching
Dienste der Sanitätseinheit und des Sozialwesens folgende:
- Psychologischer Dienst
- Rehabiliationsdienste
- Kinder- und Jugendpsychiatrie
- Fachstelle für Hörgeschädigte
- Fachdienst für Sehgeschädigte
- Sozialdienst
Zu Punkt 4: Angemessene strukturelle Voraussetzungen
Hierfür ist in Südtirol grundsätzlich der Schulträger zuständig. Die Aufgaben des Trägers sind:
- Abbau von architektonischen Barrieren in den Gemeindegebäuden
- Ankauf und Einbau von Hilfsmitteln für den Zugang und Besuch der Einrichtungen in Bezug auf Material und Vorrichtungen (z.B. Hebevorrichtungen) und die Zuständigkeit und Wartung dieser Hilfsmittel
- Zurverfügungstellung eines Planes der außerschulischen, im jeweiligen Gebiet vorhandenen Ressourcen (kulturelle, sportliche, erzieherische und Freizeiteinrichtungen)
Der Artikel von Ferdigg bietet einige konkrete Anregungen dafür, wie Integration im Bildungssystem durch entsprechende Rahmenbedingungen gelingen kann. Von besonderem Nutzen sind meiner Meinung nach die Erstellung eines individuellen Lehrplans in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, der nicht als ein statisches Dokument anzusehen ist, sondern die jeweiligen Entwicklungen des Kindes berücksichtigt und beim Übergang von einer Schulform in die nächste als Ausgangspunkt dient. Dies gewährleistet eine kontinuierliche und an den Bedürfnissen des Kindes angepasste Förderung während seiner gesamten Schullaufbahn. Sehr wünschenswert ist auch die Verfügungstellung einer Integrationslehrperson. Dadurch, dass die Integrationslehrperson eine zusätzliche universitäre Ausbildung zu Fragen der Integration absolviert hat und dem jeweiligen KlassenlehrerIn als im Klassenverbund volleingegliederter Partner ist, der bei der Erstellung von individuellen Prüfungen und Differenzierungsmaßnahmen dem LehrerIn als Fachmann zur Seite steht, kann der KlassenlehrerIn diesen an ihn/sie gestellten Forderungen gerecht werden und die „Last“ der zu lösenden Herausforderungen wird auf 4, und nicht lediglich auf 2 Schultern verteilt. Dies bedeutet eine enorme Entlastung des Klassenlehrers, und erlaubt ihm, all seinen SchülerInnen mit ihren individuellen Bedürfnissen während des Unterrichts, aber auch bei der Überprüfung von Fertigkeiten, gerecht zu werden. Ein weiterer Punkt, den es hervorzuheben gilt, ist die Vernetzung und Kooperation mit außerschulischen Institutionen/Partnern. Da, wenn Integration gesamtgesellschaftlich gelingen soll, nicht rein auf die Institution Schule beschränkt werden kann, ist ein inklusionsorientiertes Umfeld unabdingbar, d.h., es muss in der Gesellschaft insgesamt eine inklusionsfreundliche Haltung geben. Eine solche Haltung kann nur durch die Vernetzung und Kooperation mit allen sich in der Gesellschaft befindenden Institutionen und Einrichtungen untereinander, gefördert werden. So sollte die jeweilige Schule, die in ihrem Stadtteil vorhandenen Einrichtungen (Organisationen, kulturelle, sportliche, erzieherische und Freizeiteinrichtungen) in ihre Arbeit mit einbeziehen.