praktisch unsichtbar

Ich liege im Regal. Verborgen in einer Schublade, in der niemals Ordnung herrschte und auch niemals herrschen wird, umgeben von anderen wie mir, vergessen und doch zu wertvoll um zu verschwinden. Ein Zollstock, ein Cutter Messer, ein paar lose Schrauben, zahllose Ersatzbatterien und unzählige weitere Gegenstände. Nur ein schmaler Strahl Licht dringt durch die Spalte zwischen Regalboden und Schublade und trifft einen Teil meines kobaltblauen Kunststoffkörpers, der bereits von einer dünnen Schicht Staub überzogen ist. Schon lange ist es her, dass ich diesen Ort das letzte Mal verlassen habe und doch denke ich gerne an den Tag zurück, an dem ich das Gefühl hatte, wichtig zu sein.

 

Es war vor einigen Monaten, als die Schublade geöffnet wurde und eine Hand hineingriff. Sie tastete kurz ziellos die diversen Gegenstände ab und schloss sich dann um mich. Mit einem erfreuten „Ha!“ bejubelte die junge Frau, die mich nun in den Händen hielt, dies und holte mich aus dem Dunklen an das Tageslicht. Mit mir in der Hand lief sie nun aus der Wohnungstür, dann einige Etagen eines schmalen Treppenflurs hinunter zur Haustür und hindurch bis sie auf der zugeparkten Straße vor einem unscheinbaren weißen Bulli stehen blieb. Leicht außer Atem aber mit einem freudigen Lächeln hielt sie mich dem jungen Mann, der in der offenen Tür des Wagens saß, unter die Nase.

„Was ist das?“ fragte er und schaute die Frau fragend an.

„Eine Quetschzange! Oder Abisolierzange? Ist ja auch egal, auf jeden Fall können wir das zum Abisolieren der Kabel am Herd benutzen.“ Sie deutete hinter den Mann auf eine noch in Plastikfolie gewickelte Kochplatte, die auf einer kleinen Küchenzeile lag und die Wand daneben, aus der ein paar Kabel ragten.

Jetzt erst bemerkte ich, dass der unscheinbare Bulli von innen gar nicht so unscheinbar war. Er war umgebaut worden zu einem kleinen Camper, oder zumindest war damit angefangen worden, denn nicht nur der Herd schien noch nicht angeschlossen zu sein, diverse Teile lagen verstreut in dem kleinen Raum herum.

Der Mann nahm mich entgegen und legte seine Hand um meinen zangenartigen Körper. Seine Finger fanden die extra für einen angenehmen Griff geformten Griffmulden auf dem Hebel und er zog sie ein paar Mal zusammen, so als würde er versuchen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie er mich zu benutzen habe. Ein letztes Mal zog er mich zusammen und drückte dann auf den roten Knopf am Ende des Griffs, der meinen Mechanismus einrasten ließ. Mit dem Daumen strich er über das ebenfalls rote Logo, das mittig auf meinem Körper angebracht ist. „WEICON Super No. 5“ steht dort, eingeprägt in den glatten Kunststoff.

Nachdem er mich genug betrachtet zu haben schien, löste der Mann den Knopf wieder und schob ein schmales Kabel zwischen die Metallzähne oben und unten an meiner Vorderseite. Er schob das Kabel bis es vor meine roten Kunststoffnase, dann zog er meine Hebel zusammen und die scharfen Metallzähne trennten die Gummiisolierung des Kabels sauber ab.

Offensichtlich begeistert von meinem Werk betrachtete er das nun freigelegte Stück Draht. „Das klappt ja super!“

Einige Stunden arbeiteten wir nun so weiter, wie eine gut geölte Maschine, in perfektem Einklang. Ab und zu lachten die beiden, tauschten Nichtigkeiten aus, sprachen über die Reise, die sie als nächstes mit dem Bulli geplant hatten und reichten mich dabei stetig hin und her.

 

Stimmen, die von außerhalb des Regals zu mir durchdringen reißen mich aus den Erinnerungen. Es sind die beiden.

Als die Dämmerung an diesem Abend vor ein paar Monaten eingebrochen war, hatten sie ihre Arbeit beendet, den Bulli verschlossen und mich wieder mit in die Wohnung hinaufgenommen, wo die Frau mich zurücklegte und allein ließ, vergessen in dem Moment, in dem sie die Schublade geschlossen hatte.

Nun laufen sie dort draußen herum, Tag für Tag, und verschwenden wahrscheinlich keinen Gedanken an mich. Aber das ist nicht schlimm, denn ich weiß, eines Tages, vielleicht schon sehr bald, wird ihnen wieder einfallen, dass ich da bin und dann werden sie wieder glücklich sein, mich zu haben.

 


One thought on “praktisch unsichtbar

  1. Thees Antworten

    Hey Lillian,
    ich schreib jetzt einfach mal auf, was ich dir schon gesagt habe haha.

    Ich finde deine Geschichte echt toll und schön geschrieben. Besonders gefallen hat mir, wie du dein Gegenstand aus der „ich“ Perspektive beschreibst.

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