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RV 07 Doing it wrong, doesn’t make it wrong. Inklusive Pädagogik und ihre Umsetzung

1. Reflektieren Sie die Konsequenzen der Aussonderung von Schüler_innen mit Förderbedarf?

Der oben gezeigte Comic (auch in der Vorlesung zu sehen) zeigt die Art der Aussonderung, welcher Schüler*innen mit festgestelltem Förderbedarf ausgesetzt sind –  sie sitzen zwar rein physisch mit den anderen Schüler*innen in der Klasse, werden aber häufig separiert; der Sonderpädagoge der Klasse wird als Aufpasser eingesetzt, manchmal bekommen sie Parallelunterricht oder Therapie parallel zum Klassengeschehen. Es kann schnell passieren, dass Schüler*innen mit Förderbedarf als „Extra-Belastung“ angesehen werden, da das Labeln durch den Förderschwerpunkt die Kinder als jemanden outet, der einer umfangreicheren Förderung bedarf, auch trotz Co-Teaching. So stellen Baglieri et al. fest:

„In addition, the essentially static baseline from which we begin to imagine instruction too often creates a situation in which working with diverse students appears to be extra work for the general educator in the inclusive setting. Conventional wisdom suggests that this kind of work is best left up to those specifically “trained” to teach these students (i.e., the special educator). Problematic is the division of labor that can emerge in the co-teaching relationship —most often recommended for inclusion—that positions the consideration of particular students as marginal to the “regular” work of teaching. In turn, a synthetic, detrimental division is created between special and general educators just as it is between special and general education students. Thus, the supposed solution to the problem leads to newer and more intractable problems, which are well captured in research on co-teaching arrangements.“   (Baglieri et al 2010: 272)

Dies ist aber meiner Meinung nur deshalb der Fall, da die Klasse nicht von vornherein als heterogene Gruppe angesehen wird, in der jede*r Schüler*in, unabhängig vom Förderbedarf, einzeln betrachtet wird. Wäre dies der Fall, würde diese Sichtweise nicht so stark hervortreten – es liegt also am System Schule sich dahingehend zu ändern, dass Lehrkräfte die Mittel und Zeit an die Hand bekommen, um effizient und zieldifferent für alle Schüler*innen unterrichten zu können. Außerdem kann das Labeln durch den Förderschwerpunkt auch bei den Schüler*innen selber zu Problemen führen. Beispielsweise kann das Selbstwertgefühl darunter leiden, oder andere Klassenkameraden grenzen den/die Schüler*in aufgrund des Förderbedarfs aus.

2. Welche Informationen sind in der Diagnose „Förderschwerpunkt Wahrnehmung&Entwicklung“ bzw. „Förderschwerpunkt Lernen“ enthalten? Welche Informationen benötigen Sie von einer Schüler_in um Ihren Unterricht ggf. anzupassen?

Die Diagnose „FS W&E“ besagt, dass eine Beeinträchtigung in der Wahrnehmung und Entwicklung festgestellt wurde – auf welche Art die Schüler*innen eingeschränkt sind, geht daraus nicht hervor.
Die Diagnose „FS Lernen“ besagt, dass der/die Schüler*in Schwierigkeiten im Bereich des Lernens hat – ob ein Schüler langsam lernt oder Probleme mit der Aufmerksamkeit hat und welche Ausprägungen und Ursachen bestehen, geht aus der Diagnose nicht hervor.

Problematisch erscheint mir hierbei auch, dass bei diesen Förderschwerpunkten  auch der IQ-Wert zur Zuweisung der entsprechenden Bedarfe ermittelt wird (Ministerium für Bildung Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern 2015: 16-18.) Den IQ-Wert zu kennen, hilft einer Lehrkraft nicht weiter, um ihr weiteres pädagogisches Handeln zu planen.
Genau hierin liegt nämlich die Krux: Für eine adäquate Unterrichtsgestaltung ist die Zuweisung des Förderschwerpunkts zweitrangig, wenn nicht sogar obsolet, da zur Unterrichtsgestaltung die individuellen Ausprägungen und Auswirkungen von Bedeutung sind. Folgende Fragen können bei der Anpassung des Unterrichts eine Rolle spielen:

  • Wie viel Zeit braucht der/die Schüler*in ihm Aufgaben zu lösen?
  • Wie reagiert der/die Schülerin auf Lob/Kritik?
  • Ist eigenständiges Arbeiten nötig und braucht der/die Schüler*in hierbei Unterstützung?
  • Wie viel Struktur braucht das Kind, um eigenständig arbeiten zu können?
  • Welche Modalitäten helfen dem Kind besonders gut?
  • Welche Stärken kann ich mir als Lehrkraft zunutze machen?
  • Wie agiert das Kind im Klassenverband?
  • Gibt es körperliche Beeinträchtigungen (z.B. Hörminderung), welche berücksichtigt werden müssen?

3. Wie können Sie in Ihrem Unterricht die Zugänglichkeit und Anschaulichkeit von Medien/Materialien verbessern? Welche Verbündeten können sie dazu gewinnen?

Im Unterricht ist es wichtig, die Kinder auf vielen verschiedenen „Wahrnehmungskanälen“ zu erreichen. Hierzu ist es sinnvoll, mehrere Sinne anzusprechen – also visuell, auditiv, wenn möglich auch taktil-kinästhetisch. Dabei kann man den diversen Lerntypen besser gerecht werden und extra Unterstützung anbieten, denn einige lernen besser durch Schauen, andere durch Kommunizieren usw. Zudem ist es sinnvoll, verschiedene Schwierigkeitsgrade bereit zu stellen, wie in den Vorlesungsfolien am Beispiel des Buches „Pünktchen und Anton“ deutlich wurde. Außerdem können öffentliche Portale mit kostenlosem Material eingesetzt werden.
Auch ist es möglich, Mitschüler*innen in Aufgaben miteinzubeziehen – dadurch kann gleichzeitig auch das Gemeinschaftsgefühl der Klasse gesteigert werden. Aus Problemen, Interaktionen, persönlichen Themen der Schüler*innen in der Klasse können Themen für Projektwochen und Aufgabenstellungen entwickelt werden, wie beispielsweise im Interview bei Christine Carstens mit ihrer „Wolfsrudel“-Klasse/Foxpack (vgl. path2in Christina Carstens).
Weiterhin kann man sich mit anderen Lehrkräften oder ehemaligen Kommilitonen austauschen.

4. Wählen Sie eines der Lernvideos auf path2in.uni-bremen.de aus, schauen Sie es sich an und schreiben Sie kurz eine begründete Empfehlung für Ihre Kommiliton_innen, warum es sich ggf. lohnt sich das Video anzusehen.

Das Interview mit Ines Boban & Dr. Andreas Hinz zum Thema „4. Diagnostik“ ist einen Klick wert. Hinz berichtet realitätsnah und ohne Euphemismen über das Problem beim Dauer-Diagnostizieren und Labeln von Kindern. Auch wird berichtet, wie Schule ohne Förderschwerpunkte funktionieren kann. Das Ganze wird beispielhaft an einer Schule in Brunswick, Kanada, diskutiert. Dort kommen alle Kinder der Umgebung auf diese Schule, spezielle Einrichtungen gibt es nicht. Meiner Meinung nach stärkt dieses Video das Weiterdenken der Inklusion – oftmals kritisieren wir das bestehende System, wissen aber nicht immer, wie wir alternativ weiter verfahren sollen. Hier wird ein interessanter, präventiv gedachter Ansatz präsentiert, der zeigt, dass Inklusion auch ohne die Kopplung von Ressourcen an Förderbedarfe funktionieren kann, ganz ohne naiv oder utopisch zu sein. In dem Video wird erläutert, wie es möglich ist, dass in Brunswick Besprechungen von mehreren Schülern in 40 Minuten effektiv möglich sind – wohingegen in Deutschland diese Zeit für die Besprechung eines/einer einzelnen Schülers/Schülerin aufgebracht wird.

Weitere Quellen:

1. Ministerium für Bildung Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (Hg.) (2015): Standards der Diagnostik für die Schulen Mecklenburg-Vorpommern (2015), S.16-18 aufgerufen von https://www.bildung-mv.de/export/sites/bildungsserver/downloads/Handbuch-Diagnostischer-Dienst-Update08122015.pdf am 03.06.2020

2. Interview mit Christina Carstens, aufgerufen unter https://path2in.uni-bremen.de/themen/inklusive-paedagogik-in-der-sekundarstufe/ am 03.06.2020

3. Interview mit Ines Boban und Dr.Andreas Hinz, aufgerufen unter https://path2in.uni-bremen.de/themen/diagnostik/ am 03.06.2020

4. Baglieri, Susan/ Valle, Jan W., Connor/ David J./ Gallagher, Deborah J. (2010):  Disability Studies in Education : The Need for a Plurality of Perspectives on Disability S.272