Posted on Juni 7, 2020
Es ist Corona-Zeit und auch die Seminare zur Aufstellungsleitung finden online statt. Wir werden in zwei Erfahrungen geworfen, die sich beide als ausgesprochen positiv darstellen: 2 Tage energievoll eine Gruppe online durch ein Seminar führen und Aufstellungen online durchführen. Bislang war ich fasziniert von den Möglichkeiten der Raumsprache: Wie sich die Wahrnehmung eines Systems ändert, wenn es im Raum aufgestellt wird und wir es dreidimensional darstellen! Hier nutzen wir ein Raumgefühl, welches wir im Alltag beständig haben und vielleicht weniger wahrnehmen: Mit unseren Körpern können wir nicht anders, als uns dreidimensional im Raum bewegen. Helfen wir einem System, sich im Raum darzustellen und sich selbst zu sehen, passiert etwas, was Otto Scharmer als grundlegend für Transformation von Bewusstsein ansieht: You cannot transform consciousness unless you make a system see and sense itself!
In Aufstellungen verkörpern wir Systembilder im Raum und bringen das System durch repräsentierende Wahrnehmung zum Sprechen. Für viele ist in diesem Prozess für eine starke repräsentierende Wahrnehmung die physische Anwesenheit der anderen Elemente wichtig – zumindest bislang! Am 5./6. Juni 2020 haben wir unser zweites Online Seminar zur Fortbildung in Aufstellungsleitung gemacht – diesmal kompakt zum Thema Spiral Dynamics und Theorie U. Der virtuelle Raum, den wir nutzen, ist schwieriger zu erfassen. Wir sitzen vor unseren Rechnern und sehen auf die Kamerabilder von Menschen, die irgendwo anders im physischen Raum sitzen – in unserem Seminar im Raum zwischen der Schweiz und Norddeutschland. Tatsächlich ist es erst einmal kein Raum, sondern ein 2D Bild – unserer Bildschirm. Anders als im physischen Raum sehe ich mich selbst auch in diesem 2D Raum – bei ZOOM immer gleich oben links an zweiter Stelle. Ich bin Teil der virtuellen Gemeinschaft und zugleich sitze ich allein vor meinem Rechner. Die Nähe-Distanz-Wahrnehmung ist anders und es ist erstaunlich, dass es doch gelingt, sehr schnell Nähe zu Menschen aufzubauen, die ich vorher noch nicht gesehen habe und die gerade 700 km entfernt vor ihrem Rechner sitzen – von mir nur 30 cm entfernt. Ich mache die Erfahrung, dass es doch nicht den ganzen Menschen in seiner Körperlichkeit vor mir braucht, um diesen erfahren und kennenlernen zu können. Der virtuelle Raum lässt auch viele Informationen eines Menschen durch, der nah und fern zugleich vor mir ist. Warum das gelingt und eine Gruppe ähnlich wie in einem Präsenzseminar nur wenig Zeit braucht, um in ein intensives persönliches Miteinander zu kommen, kann ich noch nicht ausdrücken.
Ich habe dazu eine Vermutung: In Aufstellungen stellen wir fest, dass mithilfe von repräsentierender Wahrnehmung Informationen über Phänomene und Systeme gelesen werden können, die sich nicht im Raum befinden – teilweise sind sie im Vergangenheitsraum, teilweise an einem ganz anderen physischen Ort. Und doch können wir sie wahrnehmen. Warum sollen wir nicht auch Menschen am Bildschirm umfassender wahrnehmen können als nur durch ihr Kopfbild?
In dem Seminar haben wir uns mit den Unterscheidungen von Spiral Dynamics und Theorie U beschäftigt. Wir modellieren in beiden Konzepten so etwas wie virtuelle Räume – in Spiral Dynamics die verschiedenen Meme als wolkenartige Phänomene, die Gesellschaft durchziehen ohne sich zu durchmischen; in Theorie U die Phasen in und wieder aus dem U-Raum heraus. Bislang haben wir in Aufstellungen diese Unterscheidungen auch im Raum visualisiert, um körperlich im Bewegen durch die Räume deren Qualitäten zu erfahren und zu erfassen. In der online Variante haben wir lernen können, dass diese Bewegung durch die Räume auch bewegungslos am Schreibtisch möglich ist und ähnliche Erfahrungen ermöglicht.
Dieser Blog trägt den Titel: Komplexität lieben lernen. Nun taucht eine erste Ahnung auf – Corona sei Dank – , dass die Visualisierung von Komplexität im Raum nur ein erster Schritt war, um Vielfalt und Unberechenbarkeit zulassen und annehmen zu können – You cannot transform consciousness unless you make a system see and sense itself. Schon sind wir im zweiten Schritt und wir erfahren, dass es den physischen Raum nicht unbedingt braucht – der virtuelle Raum, der in unserem herkömmlichen 3D Denken eigentlich kein Raum ist, weil er sich als 2D Variante auf dem Bildschirm zeigt, erzeugt ähnliche Wahrnehmung über das Unsichtbare in Systemen. Wenn wir noch 2D Bilder zu Hilfe nehmen, ist das vielleicht nur ein Übergangsphänomen, ein Handlauf, um nicht zu schnell frei im raumlosen Informationsraum zu stehen.
Ich habe dazu folgende Vision: Wenn Menschen in Unternehmen Entscheidungen treffen, dann werden sie im Abwägungsprozess immer wieder Embedding-Phasen machen und sich mithilfe von repräsentierender Wahrnehmung die Wirkungen ihrer Entscheidungen auf die Umsysteme, auf Mensch und Natur in den Raum holen. Am Anfang werden sie die physische Aufstellung dazu brauchen, im weiteren Verlauf nur noch meditatives Hineinfühlen vom Sitzungsstuhl aus. Komplexität lieben lernen heißt für mich nämlich, sich selbst und sein System (z.B. ein Unternehmen) als ein Ganzes und zugleich als Teil eines größeren Ganzen (z.B. einer Region, einer Branche, eines Marktes) wahrnehmen zu können. Embedding-Phase bedeutet dann, sein System in ein größeres System so einzubetten, dass sowohl Teil als auch Ganzes gut leben können.