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“Hilfe, mein Chef mobbt mich!” – Ist es Mobbing oder der fundamentale Attributionsfehler?

Laut ver.di sind in Deutschland rund 1,8 Millionen Erwerbstätige von Mobbing betroffen. Dabei sind in über 50% der Fälle Vorgesetzte dafür verantwortlich oder maßgeblich daran beteiligt (ver.di o.J.). Doch handelt es sich tatsächlich immer um Mobbing, wenn jemand dieses Wort in den Mund nimmt?

Mobbing findet heutzutage nicht nur in der Schule statt, sondern immer häufiger auch am Arbeitsplatz. Sei es ein herablassender Kommentar oder eine immer weiter anhaltende Ausgrenzung. Doch ob sich ein Mensch von seinem Umfeld gemobbt fühlt oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab. So nehmen Menschen Worte von anderen unterschiedlich wahr und schreiben dem Verhalten anderer unterschiedliche Ursachen zu. Einige sehen einen “negativen” Kommentar als direkten Angriff, während andere dies ganz anders wahrnehmen. Wie die Suche nach Ursachen für das Mobbing innerlich abläuft und wie gesammelte Vorerfahrungen mit dem Mobbenden diese beeinflussen, erfahrt ihr in diesem Beitrag.

Zur besseren Verständlichkeit werfen wir einen Blick auf Sabine. Sabine ist Mitarbeiterin bei einem Versicherungsmakler. Seit einiger Zeit kommt Sabine nicht mehr gerne zur Arbeit. Der Grund dafür ist ihr direkter Vorgesetzter, Wolfgang. Sie hat das Gefühl, von ihm nicht ernst genommen zu werden und gezielt aus den Vertriebskampagnen ausgeschlossen zu werden. Es kommt sogar vor, dass er sauer wird und gemeine Kommentare ablässt, was sich Sabine aber nicht traut anzusprechen. Den Kolleg:innen fällt das nicht mal mehr auf, solche Äußerungen sind für sie nichts Neues. 

Wird Sabine von Wolfgang gemobbt? Oder meint Wolfgang das alles gar nicht böse?

 

Mobbing am Arbeitsplatz

Mobbing ist ein ernstzunehmendes Problem innerhalb von Organisationen. Viel zu häufig ist es die Ursache für Kündigungen oder Burnouts. Doch was genau ist eigentlich Mobbing?

Entscheidend ist die Dauer des Mobbings. Erst wenn Anfeindungen verschiedener Art über einen längeren Zeitraum immer wieder stattfinden, spricht man von Mobbing (Steensman und Dijke, 2006). Doch häufig sind Aussagen oder Verhaltensweisen nicht eindeutig einzuschätzen. Ob eine Aussage als Mobbing verstanden wird, hängt davon ab, ob wir ihr eine böse Absicht unterstellen. Somit hängt Sabines Einschätzung, ob Wolfgang sie mobbt davon ab, welche Ursache sie seinem Verhalten zuschreibt.

 

Attribution und wie wir uns Selbst an der Nase herumführen

Wenn Sabine sich Gedanken darüber macht, welche Absichten Wolfgang mit seinem Verhalten ihr gegenüber verfolgt, nennt man das Attribution. Ganz allgemein bezeichnet es die Suche nach Ursachen für eine Handlung oder ein Ereignis. Unser Verstand spielt uns aber auch in Sachen Attribution gerne mal etwas vor. Es gibt einige Denkfehler, die uns zu falschen Ergebnissen führen. Einer ist der fundamentale Attributionsfehler. Dabei kommen wir fälschlicherweise zu dem Schluss, die Ursache eines Verhaltens liege in dem/der Akteur:in selbst. Also in seinen/ihren Werten und Eigenschaften. Äußere, also situative Faktoren, lassen wir dabei unberücksichtigt (Reeder, 2013). Beispielsweise ist Sabine sich sicher, dass Wolfgang sie nicht mag und ein unfreundlicher Mensch ist, weil er sie nicht gegrüßt hat, obwohl er lediglich heiser war oder sie sein Winken nicht gesehen hat.

Speziell hinsichtlich Mobbing ist die sog. Selbstwertdienliche Verzerrung interessant. Dabei handelt es sich um die Tendenz, positiven Ereignissen (gute Leistung) eher internale Faktoren zuzuschreiben (gute Kenntnisse/Anstrengungen) und negativen Ereignissen eher externale Faktoren (Situation, Zufall, Kolleg:innen). Eine Studie von Steensman und Dijke (2006), die sich mit dem Attributionsverhalten von Mobbing-Opfern beschäftigt, stützt sich auf eben diese Verzerrung, um ihre Ergebnisse zu begründen. Denn entgegen ihrer Annahmen haben Mobbing-Opfer überwiegend situationsbedingte Faktoren des jeweiligen Kontextes  als Ursache für das Mobbing gesehen.

 

Wie Moral unsere Attribution beeinflusst

Noch bevor wir attribuieren findet eine Beurteilung der beobachteten Situation statt. Ob wir etwas als richtig, falsch, nett oder böse erachten, hängt von unseren moralischen Wertvorstellungen ab. Im Bruchteil einer Sekunde merken wir, ob das beobachtete Verhalten im Einklang mit unseren Wertvorstellungen steht oder diesen widerstrebt. Erachten wir das Verhalten nicht als moralisch fragwürdig, schreiben wir ihm keine böse Absicht zu. Wenn wir allerdings ein Verhalten, z.B. eine Aussage, als nicht nett oder fies wahrnehmen, gehen wir häufig davon aus, dass diesem Verhalten eine bestimmte Absicht zugrunde liegt (Zedlacher, Salin, 2021). Dabei stellen wir uns bspw. die Frage: „Konnte der oder die Agierende frei handeln, oder wurde das Verhalten durch bestimmte Rahmenbedingungen vorgegeben?“ Im Beruf könnte es z.B. sein, dass aus Sicherheitsgründen eine Ermahnung, sich an gewisse Vorschriften zu halten, unbedingt notwendig ist. Interessant ist auch ein Blick auf unser Rollenverständnis. In der zitierten Studie hat sich herausgestellt, dass wir Führungskräfte generell moralisch strenger beurteilen, als Mitarbeiter:innen ohne leitende Funktion. Zusätzlich fällt unser Urteil eher auf langfristige Eigenschaften, sobald wir empfinden, dass die Führungskraft ihre Rolle nicht gut ausfüllt. Wenn also Sabines Erwartungen an Wolfgang als Führungskraft in vorherigen Situationen enttäuscht wurden, kann das dazu führen, dass sie ihn allgemein als schlechten Chef sieht. Diese empfundene Rollenverletzung führt dann dazu, dass Sabine die Ursache in Wolfgangs Verhalten eher in Eigenschaften wie Ungeduld und Unfreundlichkeit sucht, als in Faktoren der Situation, oder seiner aktuellen Laune. Es ist somit auch von Bedeutung, was für Vorerfahrungen wir mit der Person, deren Verhalten wir einschätzen, bereits gesammelt haben.

 

Der Einfluss von Vorerfahrungen mit dem Täter

Häufig lassen sich Aussagen oder Verhaltensweisen moralisch nicht eindeutig zuordnen. Hier spielen eine Reihe weiterer Faktoren eine Rolle, wie bspw. die Vorerfahrungen, die wir mit der beobachteten Person gemacht haben. Laut des Kovariationsprinzips von Kelley (1973) sind vor allem drei Aspekte entscheidend. Erstens geht es um die Konsistenz des gezeigten Verhaltens: „Reagiert Wolfgang auch in anderen Situationen so?“. Wenn das Verhalten auch in anderen Situationen gezeigt wird, dann ist es für diese Person offensichtlich ein übliches Verhalten und wirkt daher beim Schließen auf eine bestimmte Absicht mindernd (Zedlacher, Salin, 2021). Ganz nach dem Motto: „Der macht das halt immer so.“. Zweitens ist die Distinktheit für das Ergebnis unserer Attribution ausschlaggebend. Hierbei stellt sich die Frage, ob das gezeigte Verhalten ausschließlich gegenüber Sabine gezeigt wird oder auch gegenüber anderen Personen. Drittens ist der Konsens mit anderen Personen entscheidend. Nehmen andere das Verhalten ähnlich wahr, dann herrscht hoher Konsens über die Wahrnehmung des Verhaltens vor. Je nach Ausprägung dieser drei Aspekte schließen wir eher auf innere oder auf äußere Ursachen für das beobachtete Verhalten.

 

Was wir daraus lernen können

Ob es sich bei Sabine um Mobbing handelt oder um den fundamentalen Attributionsfehler lässt sich nicht generalisierbar beantworten. Denn viele unterschiedliche Aspekte sorgen dafür, ob wir Verhalten als Mobbing wahrnehmen oder nicht. Sei es nun aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen, einem anderen Rollenverständnis oder der Vorerfahrung mit einem Menschen. Dabei ist es theoretisch auch egal, wenn unsere Wahrnehmung durch eine Verzerrung (wie dem fundamentalen Attributionsfehler) von der Wirklichkeit abweicht. Letztendlich führt die Wahrnehmung zu Gefühlen, die sich negativ auf Sabines Psyche und ihre Arbeitsleistung auswirken und sollten allein deswegen thematisiert werden. Doch auch Sabine kann und sollte hinterfragen, ob sie die Situationen mit Wolfgang bei der Arbeit eventuell zu kritisch wahrgenommen hat. Denn jeder – auch der/die Chef:in – kann mal einen schlechten Tag haben oder eben einfach falsch verstanden werden. Zu wissen, dass es vorkommen kann, dass wir bestimmten Verhaltensweisen eine falsche Ursache zuschreiben und somit eine Person falsch einschätzen, kann neue Perspektiven eröffnen. Probier es doch selbst mal aus!

 

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