Mobilität

„Es war etwa 10 Uhr, als wir unser Logis in Pera verließen. Wir gingen durch die Hauptstraße dieses Orts und die steilen Gassen [264r] durch Galata hinab, an der linken Seite des runden Thurms von Galata, von welchem man eine unvergleichliche Aussicht genießen muss, indem er an der höchsten Stelle dieser Stadt steht. Ueberall am Ufer des Hafens liegen beständig eine Menge Gondeln bereit, welche die Communication zwischen der Hauptstadt und den Nebenstädten unterhalten und statt einer Brücke über den Hafen diente, welche hier nicht wohl möglich und wegen der Schifffahrt nicht einmal rathsam wäre.“

(Seetzen 2012: p. 53)

Ulrich Jasper Seetzen bewegt sich im damaligen Konstantinopel hauptsächlich zu Fuß oder mit Gondeln fort. Bei dem im Zitat erwähnten Hafen handelt es sich um das Goldene Horn, über das 1837 die erste Brücke gebaut wurde.

Im Vergleich zu Seetzen nutzten wir während unserer Exkursion die verschiedensten Fortbewegungsmittel: Busse, Metro, Tram, Fähren und ein kleines Boot, Flugzeuge zur An- und Abreise, unsere Füße und vom Pierre Loti Tepesi hinunter den Lift (also den Berg in Eyüp, auf dem sich ein Friedhof und auch das Cafe Pierre Loti befindet.) Wir fuhren auch durch den Tünel, also mit der ältesten Untergrundbahn Istanbuls, die nur zwei Stationen hat.

Nach Gondeln, in denen wir über das Wasser setzen konnten, hielten wir vergeblich Ausschau.

Allerdings entdeckten wir auf dem Weg nach Eyüp von der Fähre aus ein paar gondelähnliche Boote, die neu sein mussten. Wir fragten nach: Sie werden hauptsächlich, und noch nicht lange, für Spazierfahrten entlang des Goldenen Horns genutzt, nicht um damit große Entfernungen zu überwinden.

Eine der Strecken, die wir mit der Fähre zurückgelegten, könnte auch Seetzen genommen haben. Er beschreibt:

„Wir hatten dem russischen Kanzler Froding versprochen, nach Büyükdäräh zu kommen, um die Empfehlungsschreiben abzuholen, indem er heute dort seyn werde. Wir fuhren um 8 Uhr von der Frankenskelle in Galata ab. Wir mietheten den Kaikschi für 3 Piaster, wofür er uns auch wieder zurück fahren mußte. Bey Beschiktasch hatten sich einige türkische Kriegsschiffe stationirt. Hinter Beschiktasch zeichnete sich vorzüglich ein Hügel durch seine malerische Schönheit aus. Seine Seiten waren mit Cypressen und Platanen bewachsen. Zwischen ihnen ragt ein artiges Mausoleum hervor etc.

In Ortaköy hat der Kapedan Pascha sein Land Saraï, welches sich indeß von außen durch nichts auszeichnet. […] – In der Bucht von Kurutschesme lagen viele Schiffe, welche auf einen günstigen Wind warteten. Ihre aus gespannten weißen Segel machten mit den dahinter stehenden Häusern, Hügeln und Baumgruppen ein sehr buntes Gemisch. Hinter diesesm Orte zeichnet sich ein Berg durch seine hervorragenden Felsen aus.

[G194r] Ein schwacher südlicher Wind verschafte uns das angenehme Schauspiel, viele Schiffe neben, vor und hinter und fahren zu sehen, welche alle ihre Segel auf gespannt hatten um kein Lüftchen unbenutzt zu lassen. Sie segelten nach dem schwarzen Meere. Es waren viele große dreymastige darunter. Bald segelten sie dicht neben einander; bald schwamm dieses, bald ienes den Vorsprung, ie nachdem eines dem andern den Wind abschnitt. Sie fuhren oft in einer nur geringen Entfernung vom Ufer hin, indem der Canal an vielen Stellen dicht am Ufer sehr tief ist.“

(Seetzen 2012: p. S. 342-343)

Auch wir fuhren die Strecke nach Sariyer, wovon Büyükdere ein Bezirk ist.

Die von Seetzen beschriebenen Segelboote sahen wir kaum, dafür einige große Tanker, Motorboote und hauptsächlich Fähren, die alle erdenklichen Orte entlang des Goldenen Horns und des Bosporus ansteuern.

 

Eine etwas abenteuerlichere Überfahrt über den Bosporus von der europäischen auf die asiatische Seite nahmen wir in einer kleinen „Nussschale“, die durch die Wellen ordentlich ins Schaukeln kam. Diese Überfahrt könnte am ehestens mit den Gondeln und Gondoliers vergleichbar sein, da sie durch Privatboote möglich gemacht werden und eher auf Vertrauensbasis beruhen. Eine Person steht hierfür am Hafen und sammelt rufend Menschen für die Überfahrten. Allerdings ließ der Kapitän auf dem Boot nicht mit sich verhandeln.

„Die hiesigen Gondoliers sind die Fiaker: oder die Lohnkutscher von Wien und andern großen Städten; auch ihre Zudringlichkeit haben sie mit den Wiener Lohnkutschern gemein. Kaum sehen sie Jemand sich dem Ufer nähern: so hört man schon von allen Seiten das Geschrey: Sultanum! Kapitan! Efendi! – ie nachdem sie ihn für einen Herrn im Allgemeinen (Sultanum heißt nämlich ein Herr, und wird hier häufig statt Monsieur gebraucht.), für einen Schiffskapitain oder für einen Gelehrten halten. Man steigt nun entweder in irgend eine von diesen Gondeln oder accodirt zuvor mit ihnen, da sie sonst gewöhnlich hernach ein paar Para mehr von Fremden fordern, als die Einheimischen bezahlen. Von Galata nach Konstantinopel grade über den Hafen hinüber zahlt die Person in der Regel nur 2 Para. Dies ist ungemein billig, und läßt sich nur aus der starken Concurrenz der Gondoliers erklären, wovon Jeder gern etwas verdienen will. Unter ihnen trifft man Leute von allen Religionen und Nationen an. Ich weiß noch nicht, ob sie auch unter besonderer Aufsicht stehen? Ob sie z. B. angehalten werden, ihre Passagiers höflich zu behandeln; nur bestimmte oder billige Frachten von ihnen zu fordern, ihre Gondeln in [264v] guten festen Zustande zu erhalten u.s.w.?“

(Seetzen 2012: p. 53)

Um die Mobilität und das Getümmel vom heutigen Istanbul zu verdeutlichen, habe ich meine Erfahrungen in einem Ausschnitt aus einer Teilnehmenden Beobachtung beschrieben:

„Wir steigen an der Station Eminönü aus der T1. Die Sonne scheint, es ist laut und viele Menschen steigen mit uns aus oder warten darauf in die Tram steigen zu können. Die Überdachung an der Station spendet leichten Schatten, allerdings ist es durch den nicht sehr breiten Bahnsteig und die Pfeiler, die die Überdachung stützen relativ beengend. Dieses Gefühl hält sich, wir stehen mit einer großen Ansammlung Menschen an der Ampel. Die Menge geht nur nicht hinüber, da auch die Straße mit dicht an dicht fahrenden Autos nicht überquerbar ist, ohne sich in Gefahr des Überfahren werdens zu begeben. Gehupe ist zu hören, das Geräusch fahrender Autos und Geknatter von Mopeds. Im Hintergrund schwappt das Wasser an die Hafenkante und die Fähren hupen ebenfalls gelegentlich. Auf der anderen Seite der Straße angekommen, versuchen wir zur Haltestelle für die Fähre nach Üsküdar/auf die Adalar (die Prinzeninseln) zu kommen. Auch hier ist das Gedränge unter den Menschen groß. Einige eilen hektisch zu den Drehkreuzen, um zur Fähre zu gelangen, andere sitzen auf wenigen großen Blöcken in der Nähe der Wasserkante, mit Plastiktüten zwischen den Beinen und Wasserflaschen in der Hand. Das Wasser des Hafens selbst ist kaum zu sehen, Angler stehen dicht nebeneinander hinter einem flachen Zaun, mit Eimern neben sich. Es sind hauptsächlich Männer, deshalb fällt mir eine Frau zwischen ihnen auf. Sie hat hellbraun gefärbtes Haar und ist völlig normal gekleidet. Ich finde, sie passt mit ihrem Äußeren nicht zwischen die anderen und ich frage mich, was ihre Beweggründe sind, hier zu angeln.

Wir warten auf einige aus unserer Gruppe. Schatten ist rar und wir stellen uns nahe der Drehkreuze, die man passieren muss, um auf die Fähre zu gelangen, unter schattenspendende „Bushaltestellen“ (ich finde, so sehen sie aus, auch wenn kein Bus an ihnen hält). Es ist auch hier wieder relativ beengend zwischen den Pfeilern, die das Dach halten und der Wand der Fährstation, sowie den vielen Menschen, die dicht an uns vorbeieilen, da an dieser Stelle der Bürgersteig recht schmal ist und nicht viel Platz bis zur Straße lässt. Zur Beengtheit hinzu kommt hier neuer Lärm. Um die Drehkreuze zu passieren, haben die meisten Menschen die Istanbulkart. Sie wird mit Geld an Automaten aufgeladen und ist für alle öffentlichen Verkehrsmittel nutzbar. Pro Fahrt werden ca. 2,80 Lira abgebucht, außer man steigt um, dann ist jede weitere Fahrt günstiger. Umgerechnet auf Euro und verglichen mit den Preisen der BSAG in Bremen dennoch wirklich nicht viel.

Zurück zum Lärm: Bei jedem Passieren der Drehkreuze (indem man die Istanbulkart auf die entsprechende Fläche an der Seite des Drehkreuzes legt) gibt der Automat ein lautes Geräusch von sich. Und da die Drehkreuze hoch frequentiert sind, piept es permanent.

Innerhalb der Station müssen wir kurz auf die Fähre warten. In roten leuchtenden Buchstaben wird angezeigt, wann die nächste Abfahrt der jeweiligen Fähre ist. Der Wartebereich füllt sich zusehend mit Menschen. Auch hier ist das Piepen der Drehkreuze zu hören und die vielen Menschen bringen mit ihren Stimmen eine unglaubliche Lautstärke in den kahlen Raum. Mir ist in dem Moment alles etwas zu viel, ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren und drehe die Musik auf volle Lautstärke, um den Lautstärkepegel etwas zu übertönen und nur eine klare Melodie zu hören.

 

Auf der Fähre selbst wird mir der Unterschied zu den anderen Fähren bewusst. Die Fähre zu den Inseln, an einem Samstag, ist ganz eindeutig das Transportmittel zu einem Ausflugsziel. Viele Familien, überhaupt viele Menschen, die fröhlich plappern und ein wenig aufgeregt zu sein scheinen. Sie haben große (Strand-) Taschen dabei und sehen zum Teil herausgeputzt aus.

Im Vergleich: die anderen Fahrten mit den Fähren waren stiller (inkl. weniger Menschen) und fühlten sich mehr als Mittel zum Zweck an, nämlich der Überquerung des Bosporus oder des Goldenen Horns, um zur Arbeit zu kommen, oder andere alltägliche Wege zu gehen/fahren. Es waren auch nicht so viele Gruppen zu beobachten.

Wir haben einige zusammenhängende Plätze ergattert und genießen den Wind, der uns um die Nase weht. Auch Möwen fliegen mit. Auf einmal beugen sich alle über die Rehling und rufen, sie hätten einen Delfin in einiger Entfernung gesehen. Ich versuche auch noch, etwas zu erspähen, aber bin zum einen wohl zu spät dran und zum anderen ist die blaue Fläche, auf der ich versuche eine kleine Rückenflosse zu erkennen, einfach zu weit.“

(Tülin Fidan, Gedächtnisprotokoll 16.09.2017)

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