1.
Eine der zentralsten theoretischen Erkenntnisse aus der Ringvorlesung war für mich, dass Heterogenität kein Problem ist, das durch Veränderung der Schülerinnen gelöst werden muss. Heterogenität in der Schule gibt vielmehr Anlass zur pädagogischen Reflexion und zur Veränderung der Praxis von Lehrkräften (vgl. Trautmann/Wischer 2011: 17). Dass Heterogenität zwar von den Lernenden ausgeht und Lehrkräfte teilweise vor Herausforderungen stellt, aber nicht durch die Schülerinnen und Schüler gelöst werden muss, ist eine bereichernde Sichtweise für mich, die ich auch in anderen Themenfeldern wiederfinde. Die „Verursacher“ des Problems sind nicht für dessen Lösung zuständig. So auch bei Rassismus: oftmals werden rassistische Äußerungen unbewusst getätigt, die Betroffenen sind dann diejenigen, die aktiv werden müssen und das Problem ansprechen oder gar lösen sollen. Hier sehe ich strukturelle Parallelen. Lerngruppen müssen nicht homogen gemacht werden, unsere Einstellung und Sensibilität gegenüber Heterogenität und vor allem gesellschaftliche Strukturen müssen sich verändern, damit Lehrkräfte Ressourcen, Wissen und Möglichkeit haben, mit Heterogenität in der Schule umzugehen.
Bezogen auf mein Unterrichtsfach Deutsch nehme ich beispielsweise für mich mit, bei der Auswahl von Texten, Büchern und Unterrichtsmaterialien auf Geschlechterdiversität und Antidiskriminierung zu achten. Es ist erschreckend und erstaunlich wie unreflektiert manche Lehrmaterialien sind.
Ähnlich wie viele meiner Kommiliton*innen war auch für mich die Erkenntnis neu, dass ein Vorwissen für eine erfolgreiche Schullaufbahn der Schülerinnen und Schüler mehr Relevanz besitzt, als die Intelligenz (Wild / Wild 2009: 35 und Helmke 2009: 248). Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit für eine Diagnostik der heterogenen Kompetenzverteilung, denn Lernende müssen Anknüpfungspunkte im adaptiven Unterricht finden, um ihr Vorwissen nutzen zu können.
Für meinen Kunst-Unterricht könnte das bedeuten, neue Themenbereiche oder Unterrichtseinheiten mit einem gemeinsamen Erstellen einer assoziativen ABC-Liste zu beginnen. Die Lernenden können so ihr Vorwissen aktivieren und sich im Unterrichtsgespräch darüber austauschen. Die Liste könnte später in der Sicherungsphase wieder aufgegriffen werden, auch ein Vorher-nachher-Vergleich wäre möglich um eine Entwicklung zu reflektieren. Die Assoziationen zum Thema könnten zudem auch die Grundlage für Gruppenarbeiten zu verschiedenen Interessenschwerpunkten bieten und so ein direktes Anknüpfen an bestehendes heterogenes Vorwissen der Lernenden ermöglichen. Diese Methode ist nicht unbedingt fach-spezifisch und lässt sich auch im Deutsch-Unterricht anwenden.
Fachspezifisch für den Kunst-Unterricht könnte auch eine Themen-Landkarte zur Feststellung des Vorwissens genutzt werden. Die Lernenden sitzen im Kreis, in der Mitte ist ein großes Blatt Papier. Auch hier nennen Schülerinnen und Schüler ihre ersten Assoziationen zum Thema, die Lehrkraft schreibt diese Assoziationen auf, sortiert sie thematisch und visualisiert so eine Landkarte mit unterschiedlichen Verortung der Aspekte.
Zwei Literaturquellen die ich begleitend zur Vorlesung gelesen habe und mir besonders relevant erschienen, möchte ich hier nennen:
bell hooks, 2010, Teaching Critical Thinking
(eine Autorin und Lehrerin, die jede Person lesen sollte, die Menschen in ihrer Entwicklung begleitet)
Boaventura de Sousa Santos, 2018, The End of the Cognitive Empire
(wichtige Reflexion der eurozentrischen Sicht auf Erkenntnis und Wissen, bezieht Pädagogik in größeren politischen Kontext ein).
Und zum Schluss möchte ich folgenden Text aus den Vorlesungen nennen, der mir besonders gefallen hat:
Yasemin Karakasoglu, Dita Vogel, 2020, Transnationale Mobilität als Herausforderung einer Theorie der (deutschen) Schule
(Migration als transnationale Mobilität verstehen macht das Demokratische Paradox noch sichtbarer).
2.
Ich war auf einer integrativen Gesamtschule mit jahrgangsübergreifenden Klassen, Werkstattunterricht und Freiarbeit. Heterogenität war immanente Struktur meiner Lernumgebung.
Sie wurde weitestgehend positiv gewertet und als pädagogische Bereicherung gesehen. Durch das jahrgangsübergreifende Lernen gab es immer unterschiedliche Lernstände und unterschiedliches Vorwissen, wobei meist alle von einem Austausch durch kooperatives Lernen profitieren konnten.
Wir hatten Methodentage um individuelle Lernstrategien kennenzulernen und Werkstattarbeit über größere Zeiträume, meist zwei Monate eigenständiges Lernen. Es gab viel Projektarbeit, Morgenkreis, eigenverantwortliches Lernen und räumliche sowie zeitliche Strukturen, die uns so viel Freiheit wie möglich einräumten. In meiner Schule lernten auch Kinder mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung inklusiv. Die Schule war eine Privatschule mit Solidaritätsprinzip. Das Schulgeld richtete sich nach dem Einkommen der Erziehungsberechtigten. Ich und meine Geschwister sind dort hin gekommen, weil mein Vater dort Lehrer war.
Das alles war für mich eine ideale Lernumgebung, ich bin gerne dort zur Schule gegangen und konnte viele Kompetenzen und wirklich nützliches Handwerkszeug für mein Leben mitnehmen. Allerdings fiel mir auch zu Schulzeiten schon auf, dass einige Schülerinnen und Schüler dabei auf der Strecke blieben. Die große Freiheit sich das Lernen selbst zu organisieren, bot nicht genügend Halt und ohne unterstützenden Rahmen führte das dazu, dass manche einfach gar nichts gemacht haben. Eine Mitschülerin wechselte deswegen die Schule und konnte mit Frontalunterricht, klaren Aufgabenstellungen und homogenen Leistungskontrollen sehr viel besser umgehen. Diese Negativaspekte des freien Lernens und der Binnendifferenzierung im Unterricht konnte ich in der BAUMHET Vorlesung nochmal besser verstehen. Gerade der Vortrag von Lea Fischer und Dr. Tim Giesler mit dem Thema „Englischunterricht und Inklusion: Herausforderungen im Spannungsfeld von Individualisierung und Gemeinsamkeit“ griff viele meiner eigenen Beobachtungen dieses Spannungsfeldes auf und bestätigte meine eigene Erfahrung. Hier lernte ich, dass ein aktives Handeln der Lehrkraft zu einem bestimmten Zeitpunkt des Lernprozesses entscheidend ist, nämlich „Die Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij 1987, S.85). Lernende sollten in binnendifferenziertem Unterricht also nicht gänzlich allein gelassen werden, sondern von Lehrkräften in ihrer Entwicklung begleitet werden.
Zudem war der Besuch einer Privatschule auch relativ realitätsfern von dem Leben anderer Kinder und Jugendlicher in meinem außerschulischen Freundeskreis. Das Reflektieren der eigenen Privilegien wurde in der Schule nie thematisiert. Einige meiner Mitschülerinnen und Mitschüler entwickelten ein vollkommen abgehobenes Verhalten, eine Mitschülerin von mir meinte nach unserem Abschluss, dass die Konsequenz unserer Bildungsprivilegien wäre, anderen weniger privilegierten Menschen zu helfen. Die Überheblichkeit dabei hatte sie gar nicht erkannt.
3.
Ich möchte mein Wissen gerne in den Bereichen Mehrsprachigkeit und Migration vertiefen. Hier fehlt mir auch noch Allgemeinwissen zu verschiedenen Religionen, das ich als notwendig für einen inklusiven Unterricht sehe. Für meine berufliche Praxis möchte ich mir beispielsweise einen Kalender mit Festen unterschiedlicher Religionen zulegen, um adäquat auf die Realität von Schülerinnen und Schülern reagieren zu können. Ich selbst bin nicht gläubig und merke mittlerweile oft, dass mir viel Wissen dazu fehlt, auch zum christlichen Glauben. Zum Beispiel, was man an Pfingsten feiert.
Ich hatte in diesem Jahr viel dazu gelesen, dass Lehrkräfte muslimischen Kindern während des Ramadan das Fasten verbieten und habe mich dann tiefer mit dem Thema auseinandergesetzt. Auch im Kontext von Antisemitismus wäre eine schöne Maßnahme für eine diskriminierungsarme Schule jüdische Feste zu thematisieren oder den Klassenraum dementsprechend zu schmücken.
Mich würden auch Themen interessieren, die strukturelle oder politische Aspekte vom Umgang mit Heterogenität aufgreifen: zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, Unterrichtsbegleitkraft, Schulassistenz oder die Kommunikation mit dem Jugendamt. Während der Vorlesung habe ich gemerkt, dass ich von vielen Strukturen noch keine Ahnung habe. Ich weiß weder, wie verschiedene Akteurinnen und Akteure heißen, kenne die Abkürzungen nicht und kenne Formalitäten in der Diagnostik nicht.
Vielleicht wären auch Informationen zu Kindern mit Autismus, ADHS, Legasthenie oder LRS hilfreich für einen differenzierten Umgang mit Heterogenität in der Schule. Besonders spannend fand ich auch die kurzen Informationen in der Vorlesung von Prof. Dr. Frank J. Müller, in der verschiedene Unterrichtsmaterialien und Methoden vorgestellt wurden, die sich an verschiedene Lernniveaus anpassen lassen und konkret Heterogenität anerkennen (wie zum Beispiel das Buch „Pünktchen und Anton“ in drei verschiedenen Lesestufen). Ich hoffe, dass solche praxisbezogenen Beispiele noch weiter ausgeführt, eventuell auch theoretisch eingeordnet werden.
Literatur:
Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation
und Verbesserung des Unterrichts. Seelze‐Velber: Klett‐Kallmeyer.
hooks, b. (2010). Teaching Critical Thinking: Practical Wisdom. London: Routledge.
Karakasoglu, Y., & Vogel, D. (2020). Transnationale Mobilität als Herausforderung einer Theorie der (deutschen) Schule. Theoretische Überlegungen zu institutionellen Wandlungsnotwendigkeiten. https://doi.org/10.26092/elib/325
de Sousa Santos, B. (2018). The End of the Cognitive Empire: The Coming of Age of Epistemologies of the South. Duke University Press. http://www.jstor.org/stable/j.ctv125jqvn
Trautmann, M., & Wischer, B. (2011). Heterogenität in der Schule: Eine kritische Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92893-7
Vygotskij, L. (1987): Ausgewählte Schriften. Band 2. Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein.
Wild, E. M., & Wild, E. (2009). Pädagogische Psychologie (Lehrbuch mit Online-Materialien). Springer.