JA
Den Beutelsbacher Konsens als „Neutralitätsgebot“ zu deuten, ist eine Fehlinterpretation.
Der in den 70er Jahren verfasste Konsens beinhaltet drei Elemente: Überwältigungsverbot (keine Indoktrination), Kontroversitätsgebot und die Befähigung der Schüler, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren (Wehling 1977: 179f.).
In Bezug auf das Überwältigungsverbot gehen viele Lehrkräfte davon aus, sie müssten eine neutrale Position im Unterricht einnehmen und dürften ihre Meinung nicht äußern. Haker & Otterspeer argumentieren dagegen, dass Neutralität Bildungsprozesse verunmöglicht. Neutrale Lehrkräfte wären ein schlechtes Vorbild und würden dazu führen, dass auch Schüler*innen sich neutral verhalten, da Bildungsprozesse auf Mimesis aufbauen (Haker & Otterspeer 2021: 219f.). Eine Distanziertheit schadet dem Erfolg von (politischer) Bildung.
Hinzu kommt, dass ein Ausbleiben von Äußerungen seitens der Lehrkraft eine prekäre Entscheidung darstellt. Wenn kritische Äußerungen gemacht werden, dann muss diesen auch im Unterricht widersprochen werden! Es stellt sich zudem auch die Frage, ob das Ausbleiben von Äußerungen tatsächlich neutral ist.
Ich möchte dieses Phänomen abschließend noch mit folgendem Gedankengang verbinden:
Schweigen ist ein Privileg.
Ein Privileg einer weißen Bevölkerung, deren Verantwortung es eigentlich wäre, ihre Stimme zu nutzen, um für Menschen zu sprechen, die nicht gehört oder gefragt werden.


Eine Unterrichtseinheit im Fach „Kunst“, die für eine Anwendung des Beutelsbacher Konsens relevant wäre, könnte sich mit der Inszenierung und Wirkungsmacht von Bildern beschäftigen. Ich würde eine Gegenüberstellung eines aktuellen Familienporträts der Trumps und eines historischen Gemäldes der englischen Königsfamilie vorschlagen. Die Ähnlichkeiten im Bildaufbau und der Wahl der Farben, Motive und Formensprache geben Aufschluss über noch heute gültige Codes der Darstellung von Macht und Reichtum. Ziel wäre es, die Schülerinnen zu befähigen, den Kontext dieser aktuellen Bilder zu erschließen, denen sie unter anderem auch auf Social Media begegnen könnten. Zu beachten wäre hierbei die Einhaltung des Kontroversitätsgebotes, indem ein offener Diskurs darüber stattfinden sollte, welchen Nutzen diese Bilder haben, aber auch welche Gefahren sich aus einem unreflektierten Betrachten ergeben könnten. Eine für Schülerinnen tägliche Manipulation durch Medien (z. B. in der Werbung) und eine daraus resultierende Notwendigkeit zur Vermittlung von Medienkompetenz sehe ich als Erfüllung der dritten Handlungsanweisung des Beutelsbacher Konsenses.
Um bezüglich Verschwörungstheorien auf dem Laufenden zu bleiben, empfiehlt es sich, selbst auf sozialen Netzwerken aktiv zu sein. Ein Blick in eine Kommentarspalte informiert (leider) verlässlich über aktuelle Verschwörungserzählungen. Auch ein Abonnieren von Kanälen wie @keine.erinnerungskultur (Aufklärungsarbeit über den Holocaust von Susanne Siegert) oder @professor_schwurbelstein (Kanal des Autors Paul-Eduard Rück von Professor Schwurbelstein und die Aluhüte des Grauens) sorgt dafür, aktuelles Geschehen verfolgen zu können.
Ansatzpunkte für Gegenargumente finden Lehrkräfte (und andere) mit Hilfe des Beratungskompasses-Verschwörungsdenken des „Bundesministeriums für Innern und für Heimat“ online, telefonisch und in Beratungsstellen vor Ort. Verschwörungsmythen lassen sich durch sachliche Argumente nicht entkräften, da wissenschaftliche Quellen oft als Teil der Verschwörung angesehen werden (Cheema 2021: 52). Die Autorin arbeitet in ihrem Artikel in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte: Verschwörungstheorien der Bundeszentrale für politische Bildung drei Handlungsstrategien für Lehrkräfte heraus.
Zu Beginn empfiehlt sie, auf der Beziehungsebene zu bleiben. So wird ein Zugang zu Schüler*innen geschaffen, der einen Diskurs und ein Umdenken ermöglicht. Gleichzeitig sollte klar auch anderen Beteiligten der Situation eine kritisch distanzierte Haltung vorgelebt werden. Auf dieser persönlichen Ebene kann eine Annäherung an die Motivation der betroffenen Person vorgenommen werden. Saba-Nur Cheema empfiehlt uns folgende Fragen:
„Woher hast du diese Information?“
„Warum glaubst du, dass das stimmt?“
„Worin hilft dir dieser Glaube?“
Wichtig hierbei ist es, die Kinder und Jugendlichen in ihren Ansichten ernst zu nehmen und ihre Sozialisationserfahrungen mit einzubeziehen.
Als zweite Strategie nennt die Autorin das Wahrnehmen der konkreten Motivation. Ist jemand wirklich überzeugt von der Ideologie oder möchte jemand eventuell provozieren? Abhängig hiervon sollte die pädagogische Intervention unterschiedlich ausfallen, entscheidend ist aber, dass es eine Intervention gibt.
Die dritte Handlungsstrategie ist die Vermittlung von Medienkompetenz, die Cheema mit der Verbreitung von Verschwörungsmythen über soziale Netzwerke begründet. Sie nennt das Nutzen von sozialen Medien durch die Lehrkraft als Vorteil, um politische Bildung nicht nur offline umzusetzen.
Konkrete Empfehlungen sind hier: Adelkratie (eine Videoreihe der Bundeszentrale für politische Bildung) und die Spiele-App Hidden Chores der Bildungsstätte Anne Frank.
Zuletzt möchte ich mich der Autorin anschließen und als Verantwortliche für die Aufklärung von Verschwörungstheorien die Politik benennen, denn Schule allein wird dieser Aufgabe nicht gewachsen sein.
Literaturverzeichnis:
Cheema, Saba-Nur (2021): Verschwörungserzählungen und politische Bildung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte: Verschwörungstheorien. Ausgabe 35–36/2021, S. 52–53.
Haker, Christoph; Otterspeer, Lukas (2021): Bedingte Autonomie, nicht Neutralität – „Neutrale Schulen Hamburg“ (AfD) und ihre Kritik. In: Johannes Drerup, Miguel Zulaica y Mugica und Douglas Yacek (Hg.): Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen? Demokratische Bildung und die Kontroverse über Kontroversitätsgebote. Stuttgart: Kohlhammer, S. 219–220.
Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart, S. 173–184.
Der Beitrag zeigt nachvollziehbar, dass der Beutelsbacher Konsens nicht mit einem Neutralitätsgebot gleichzusetzen ist, sondern vielmehr die reflektierte Meinungsäußerung der Lehrkraft zulässt. Besonders gelungen ist der Hinweis auf die Gefahr politischer Lethargie durch eine falsch verstandene Neutralität. Kritisch anmerken möchte ich jedoch die Formulierung, Schweigen sei ein Privileg der weißen Bevölkerung – denn Verantwortung für gesellschaftliches Engagement tragen alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit. Wie auch im Blogbeitrag erwähnt wurde, lässt sich ergänzen, dass es nicht nur kein Neutralitätsgebot gibt, sondern auch eine Grenze des Kontroversitätsgebots: Wenn beispielsweise zentrale demokratische Grundwerte wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit oder das Demokratieprinzip infrage gestellt werden, ist es Aufgabe der Lehrkraft, klar Position zu beziehen (Gloe & Oeftering, 2022, o. S.).
Dein Beispiel zur Inszenierung und Wirkungsmacht von Bildern im Kunstunterricht finde ich sehr passend, um Machtmechanismen sichtbar zu machen. Besonders gelungen finde ich, dass du damit einen Rahmen schaffst, in dem Medienkompetenz gefördert und das kritische Reflektieren über solche Darstellungen gestärkt werden kann. Auch die Verbindung zur Lebenswelt der Schüler*innen erscheint mir dabei besonders wichtig, um politische Bildung wirksam zu gestalten.
Im Umgang mit Verschwörungstheorien sind die Beziehungsebene und der Aufbau von Medienkompetenz aus meiner Sicht ebenso zentrale Elemente. Wie Firsova-Eckert (2024, S. 18–25) beschreibt, nutzen Jugendliche Soziale Medien intensiv als Informationsquelle, was angesichts der dort verbreiteten Fake News und Verschwörungserzählungen problematisch ist. Gerade weil solche Inhalte nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, sondern auch demokratische Prozesse untergraben und teilweise Hass und Gewalt legitimieren können, ist es umso wichtiger, dass politische Bildung Jugendliche befähigt, diese kritisch zu hinterfragen und einzuordnen. Hierzu braucht es nicht nur gut vorbereitete Unterrichtseinheiten, sondern auch Lehrkräfte, die sich in digitalen Räumen sicher bewegen und entsprechende Kompetenzen kontinuierlich weiterentwickeln.
Quellen:
Firsova-Eckert, E. (2024). Antisemitische Verschwörungstheorien in Erwachsenenbildungseinrichtungen in Europa.. In: Firsova-Eckert, E., Lange, D. (eds) Innovationen in der politischen (Weiter-)Bildung. Bürgerbewusstsein. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-46115-7_3
Gloe, M., & Oeftering, T. (2022). Der Beutelsbacher Konsens. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/lernen/inklusiv-politisch-bilden/505269/der-beutelsbacher-konsens/