Beitrag zur 2. Ringvorlesung „Umgang mit Heterogenität in der Schule“ SoSe 2017: Soziokulturelle Heterogenität-Erziehungswissenschaftiche Perspektiven
14. April 2017 at 14:31 | In Allgemein | 2 CommentsSchlagwörter: rv02
1) Versuchen Sie Maßnahmen, Projekte oder Initiativen, die sie im schulischen Umfeld zum Umgang mit soziokultureller Heterogenität kennen gelernt haben (in Praktika, Arbeit, eigener Schulzeit o.ä.), zu charakterisieren, entsprechend dem theoretischen Vergleichsmodell aus der Vorlesung (Ausländerpädagogik/Interkulturelle Bildung/Antirassistische Pädagogik/Diversity Education). Begründen Sie die Einordnung und bewerten sie die jeweilige Wirkung.
Ab den 70/80er Jahren gab es zunächst das Konzept der Ausländerpädagogik, das sich auf die durch den Migrationsprozess veränderten Anforderungen in den Bildungseinrichtungen einstellte. Um die schulischen Leistungen der ausländischen Schüler zu verbessern, bildeten sich zahlreiche Initiativgruppen, die die Schüler während ihres Integrations- und Sozialisationsprozesses betreuten und ihre Lernschwierigkeiten mindern sollten. Im Jahr 1971 beschloss die Kulturminister-Konferenz (KMK) Vorbereitungsklassen einzurichten und den muttersprachlichen Unterricht einzuführen, der in erster Linie dazu dienen sollte die Verbindung zur Sprache und Kultur der Heimat, die einen wichtigen Teil der Identität der Schüler ausmachte, zu wahren. Zudem sollte die „Rückkehrfähigkeit“ gewährleistet bleiben. Schwerwiegende Identitätsstörungen, aufgrund von „kultureller Zerissenheit“, die ausländische Schüler in ihrer Sozialisiations- und Bildungsfähigkeit einschränkte, begründete die Notwendigkeit des ausländerpädagogischen Handelns.
Ab den 90er Jahren gewann zunehmend die antirassistische Bildung an Bedeutung, die sich nicht nur an ausländische Schüler richtete, um den Abbau von Diskriminierung in einer multikulturellen Gesellschaft zu erreichen. Zu den Schlüsselqualifikationen, die sich Schüler aneignen sollten, zählten das Aushalten von und Umgehen mit Spannungen/Ängsten und das aufgeschlossene, vorurteilslose Kennenlernen anderer Kulturen. Sowohl die persönliche, als auch die institutionelle Diskriminierung sollte vermieden werden.
Ab dem Jahr 2000 begann die Wirkung und Weiterentwicklung des Konzepts „Diversity Education“, das seine Ziele in Anlehnung an die interkulturelle/antirassisitische Pädagogik setzte und daraus ein Gesellschaftsmodell konzipierte. Die intersektionale Perspektive sollte das Stellen genauer Diagnosen und die Erfassung der richtigen Adressaten/innen sicherstellen. In der Praxis sollte Beziehungsarbeit mit und die Förderung von ausländischen Schülern stattfinden ohne Fokussierung auf Differenzen. Die seit den Anfang 2000er Jahren aufgekommene „Leitkulturdebatte“ wurde thematisiert und in der Vorlesung durch eine Karikatur verbildlicht, wobei die eigentliche Frage klar wurde: Gibt es überhaupt so etwas wie eine Leitkultur in Deutschland?
Auch der „PISA-Schock im Jahr 2000 wurde angesprochen und begründete die Handlungserfordernisse, die notwendig seien, um die Integrationspolitik insbesondere im Bereich der Bildung in Deutschland in die Nähe des fortgeschrittenen Standes anderer europäischer Länder zu bringen. Zu den Maßnahmen gehörten die Förderung des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts als Stütze zum Erlernen von Deutsch und die verbesserte Zusammenarbeit mit Eltern nicht-deutscher Schüler. Darüber hinaus kam der Begriff der reflexiven interkulturellen Bildung auf, die Antirassismus und Antidiskriminierung integriert. Der Kulturbegriff wurde differenzierter und die Fantasie der Gleichstellung von Kultur und Nation wurde ausgespart. Interkulturelle Kompetenz sei demnach bestimmt von erfolgreicher Selbstreflexion und dem Kennen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen bestimmter Bilder.
Aktuelle Herausforderungen im Jahr 2017 sind homogenisierende Vorkurse, sprich eine optimale Beschulung von zugewanderten Kindern und der anerkennende interreligiöse Dialog, der zur Prävention religiös begründeter Radikalisierung dienen soll. Auch das Anbieten anderweitiger Persönlichkeitsbildung und der Entwicklung von Individualität soll die Verbreitung gewalttätiger Gruppen eindämmen.
Persönliche Erfahrungen in Bezug auf den Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität in Schulen konnte ich erst ab dem Jahr 2000 machen, in dem ich eingeschult wurde. Ich selbst komme ursprünglich aus Russland und bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem viele Mitschüler/innen die gleiche Herkunft hatten. Da ich bereits im Kindergarten Deutsch gelernt habe, hatte ich in der Schule keine Sprachbarriere zu überwinden. Bei meinem drei Jahre älteren Bruder, und meinen noch älteren Cousinen und Cousins sah dies jedoch ein wenig anders aus. Meine Eltern bekamen kein Angebot mich und meinen Bruder zu einem muttersprachlichen Ergänzungsunterricht anzumelden, sondern bekamen sowohl von Pädagogen im Kindergarten, als auch in der Schule den Rat zu Hause Deutsch zu sprechen. Da meine Eltern jedoch in Russland aufgewachsen sind und dort studiert haben, fühlten sie sich der deutschen Sprache nicht mächtig genug, um sich mit ihren eigenen Kindern und im familiären Zusammenleben offen und klar genug ausdrücken zu können, sodass sie weiterhin russisch sprachen und mein Bruder und ich zweisprachig aufwuchsen. Bis heute spreche ich mit meinen Eltern größtenteils russisch und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür mich zu einer bikulturellen Persönlichkeit geformt zu haben. Ich persönlich empfinde es als Diskriminierung innerhalb des engsten Familienkreises, wenn Eltern ihre Kinder nicht an ihrer eigenen Muttersprache und der Herkunftskultur teilhaben lassen und sich im Nachhinein über die starken Differenzen und daraus resultierenden Konflikte ärgern, die entstehen, wenn sie ihre Kinder in eine, ihnen selbst teilweise fremde Kultur, „abschieben“, während sie selbst immer von ihrer Herkunft geprägt sein werden. Die Debatte über Konflikte, die während des Integrationsprozesses innerhalb einer ausländischen Familie entstehen, erachte ich als Bedeutungsvoll, da dies oftmals der Entstehungspunkt der „kulturellen Zerissenheit“ ist, die Kinder in ihrer Sozialisations- und Bildungsfähigkeit stark einschränken kann.
Durch das zweisprachige Aufwachsen können natürlich vor allem im Kindesalter Missverständnisse entstehen, für die man sich als Kind zunächst schämt oder unverstanden fühlt. Selbstreflexion und erneute Kommunikation sind deshalb wichtige Voraussetzungen für die Identitätsentwicklung in einer vielfältigen Umwelt. Ein Beispiel für ein lustiges Missverständnis in der Grundschule war der Kunstunterricht, in dem mein Bruder einen Esel grau ausmalen sollte. Da er die die deutschen Vokabeln für verschiedene Farben noch nicht genau auseinanderhalten konnte und aus der ländlichen Umgebung des Nordkaukasus, in der er die ersten Jahre seines Lebens verbrachte, nur braune Esel kannte, griff er überzeugt zum braunen Buntstift. Als die Lehrerin versuchte ihm zu erklären, dass dies kein grau sei, verstand weder er sie noch sie ihn.
Das Umsetzen der Ziele der „Diversity Education“ habe ich persönlich in meinem Umfeld leider kaum entdeckt. Die Verbesserung der Zusammenarbeit mit Eltern nicht-deutscher Schüler habe ich vor allem bei der Elternsprecherwahl nicht beobachten können. Positiv in Erinnerung habe ich dennoch die Bestrebung zum Abbau hekunftsbasierter Diskriminierung, die jedoch stark abhängig von der handelnden Lehrkraft war. Während eine Lehrerin sofort aktiv reagiert hat, als sie mitbekam, wie ein Mitschüler mich auf rassisitische Weise beschimpfte, hatte eine andere Lehrerin ein großes Problem damit, als wir während der Pause mit einer Freundin, die ursprünglich aus Polen kam, interessiert nach Gemeinsamkeiten in den slavischen Sprachen suchten, sodass sie ein ausdrückliches Verbot dafür aussprach unter ihrer Aufsicht eine andere Sprache als deutsch zu sprechen. Als ich ca. 10 Jahre später in einem anderen Stadtteil mein Abitur machte, wusste ich die Aufgeschlossenheit und das Interesse der Lehrer/innen und Mitschüler/innen gegenüber anderen Sprachen und Kulturen sehr zu schätzen. Eine Ausnahme, die außerhalb des schulischen Unterrichts auftrat, war die Erfahrung eines Mitschülers, der während der Pause in Begleitung weiterer Mitschüler in einen nahegelegenen Kiosk ging, wo er mit einem Verwandten auf Arabisch telefonierte und dafür von der Besitzerin Hausverbot erhielt. Dass er sein Abitur mit einer Gesamtnote von 1,0 abgeschlossen hat und kein „Störenfried“ der tugendhaften „Leitgesellschaft“ war, erachte ich hierbei als weniger wichtige Tatsache, als, dass die Frau öffentlich und überzeugt rassistisch handelte.
Ich konzentrierte mich weiterhin auf das Erlernen von weiteren Fremdsprachen und war sehr glücklich über die Möglichkeit mithilfe von Auslandsaufenthalten, Schüleraustauschen und Klassenfahrten die Welt in all ihrer Vielfältigkeit kennenzulernen und reflektiert zu beobachten.
2)Welche Beobachtungsaufgabe für kommende Praktika könnte man aus dieser durch Theorie geleiteten Reflexion ableiten?
- Inwieweit ist insbesondere Religions-, Politik-, und Geschichtsunterricht breit gefächert? Wer fühlt sich durch die behandelten Themen angesprochen und ist daran interessiert sich aktiv am Unterricht zu beteiligen?
- Wie stark sind die Differenzen der Ausdrucksfähigkeit zwischen deutschen Schüler/innen und Schüler/innen mit Migrationshintergrund? Worauf kann die Beobachtung zurückzuführen sein? Variiert der Sprachgebrauch zwischen der Pausen- und der Unterrichtszeit?
- Gibt es sogennannte „Grüppchenbildungen“ im Klassenverband, die offensichtlich von der Herkunft der Schüler/innen bestimmt sind?
3) Sehen Sie durch die Reflexion dieser Maßnahmen und Projekte Ansatzpunkte für mögliche Programme zur grundsätzlichen Weiterentwicklung von Schule und/oder Unterricht?
Die theoretisch ausgearbeiteten Maßnahmen scheinen mir sehr sinnvoll und im Falle einer genauen Umsetzung sehr effektiv zu sein. Wie so oft besteht jedoch eine Differenz zwischen Theorie und Praxis. Um eine grundsätzliche Weiterentwicklung von Schule und/oder Unterricht zu gewährleisten, empfinde ich weiterhin die Zusammenarbeit mit Eltern nicht-deutscher Schüler als essentiell ohne dabei den Fokus auf Differenzen in den Vordergrund zu stellen. Das Angebot des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts sollte in keinem Fall abgeschafft werden, um die erfolgreiche Kommunikation innerhalb der Familie aufrechtzuerhalten. Dies gilt insbesondere, wenn beide Elternteile berufstätig sind und die Zeit für ausführliche Gespräche mit den Kindern knapp ist. Die Identitätsbildung empfinde ich als eines der wichtigsten Stichwörter im Rahmen eines erfolgreichen Integrationsprozesses. Die Herkunft eines Kindes mit Migrationshintergrund sollte weder vergessen bzw. verleumdet werden, noch zum ausschlaggebenden Mittelpunkt der Persönlichkeit gemacht werden. Eltern mit Migrationshintergund sollten über außerschulische Aktivitäten für ihre Kinder informiert und dazu motiviert werden, sie dabei zu unterstützen ihre Fähigkeiten und Talente beispielsweise in Sport, Musik oder Kunst zu entwickeln. Der Großteil des Integrationsprozesses findet meiner Meinung nach nicht in der Schule, sondern in der für das Kind passend gestalteten Freizeit statt. Um in der Schule das Gefühl „anders“ oder sogar „benachteiligt“ zu sein nicht aufkommen zu lassen, sollte die Bestrebung der Eltern darin liegen ihren Kindern sowohl viele Möglichkeiten zum Kontakt mit der Außenwelt zu geben, als auch das Familienleben mit der gewohnten Sprache und Kultur authentisch zu lassen.
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Hallo Jana,
vielen Dank für deinen ausführlichen Rückblick auf die Vorlesung der letzten Woche und die Einblicke in deine Erfahrungen mit Soziokultureller Heterogenität.
Ich selbst bin einsprachig aufgewachsen und beneide Kinder, die bilingual aufwachsen. Dennoch sind mir die Probleme, die damit verbunden sein können bekannt.
Bilingual aufzuwachsen sollte immer eine Bereicherung für den eigenen Unterricht sein. Dabei sollte immer reflektiert werden wer sich von den Themen angesprochen fühlt.
Genauso wie du es in einer deiner Beispielbeobachtungsfragen ebenfalls formuliert hast.
Dabei spielt das Alter, indem die Kinder die zweite Sprache erlernen ebenfalls eine große Rolle. Es ist ein Fakt, dass Kinder, die erst im Grundschulalter eine neue Sprache lernen mehr Schwierigkeiten haben als Kinder, die bereits von Beginn an bilingual erzogen werden.
Durch die herrschende Zuwanderungswelle gibt es immer mehr Kinder in der Grundschule, die Deutsch als Zweitsprache lernen müssen.
Die Lehrerin, die euch aufgrund eurer Sprach diskriminiert hat finde ich unmöglich. Was die Schüler*innen in den Pausen für eine Sprache sprechen sollte für die Lehrer*innen nur dann ein Problem sein wenn es klar wird, dass es sich um Mobbing oder wirklich massiven Schimpfwörtern handelt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt den du angesprochen hast sind die Eltern. Viele Kulturen haben ein anderes Verständnis von Bildung, umso wichtiger ist es die Eltern im Kontext Schule mit einzubeziehen. Viele Lehrer*innen fühlen sich mit Eltern, die kein oder nur kaum Deutsch sprechen überfordert. Gerade wenn die Eltern nicht den Anschein machen selbst Deutsch zu lernen fehlt die Motivation sich mit den Eltern auseinanderzusetzen. In meinem letzten Praktikum konnten die Eltern eines Kindes auch kein Deutsch sprechen oder richtig verstehen, weshalb sie ihren Sohn immer mit zu amtlichen Terminen als Übersetzer mitgenommen haben. Freizeitaktivitäten fehlen gerade oft in solchen Familien. Daraus ergibt sich meist, dass diese Kinder die größten Schwierigkeiten im Fach Deutsch haben.
LG Laura
Laura — 17. April 2017 #
Hallo Laura,
ich freue mich, dass du meinen Beitrag mit so großem Interesse gelesen und deine eigenen Gedanken und Erfahrungen zu dem Thema soziokulturelle Heterogenität geteilt hast. Ich denke, dass durch die von dir genannten Aspekte die Bedeutsamkeit der richtigen Balance insbesondere bei dem Punkt Sprache klarer wurde. Dass Eltern genauso wie ihre Kinder bestrebt sein sollten die deutsche Sprache zu erlernen kann ich demnach nur befürworten. Jeder Familienangehörige sollte in der Lage sein selbstständig für sich zu sorgen und alltägliche Dinge zu erledigen, die das Beherrschen der deutschen Sprache voraussetzen, jedoch sollte eine pädagogische Instanz nicht zu tief in das Privatleben der Schüler*innen greifen und die Verordnung eines bestimmten Sprachgebrauchs sollte unbedingt gemieden werden. Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch selbst ein Gefühl dafür entwickeln können sollte welche Sprache er/sie wie gut und in welcher Lebenssituation gebrauchen kann und wie das Sprachwissen optimal erweitert und weiterentwickelt werden kann. Das Beispiel des durch eine Grundschullehrerin verordneten Verbots habe ich gerade aus dem Grund gewählt, weil es sich in der vorgefallenen Situation weder um Mobbing noch um die Verwendung vom Schimpfwörtern handelte. Die Lehrerin empfand lediglich den Fakt, dass sie die Unterhaltung als außenstehende Person nicht mitverfolgen konnte als so unangenehm und unhöflich ihr gegenüber, dass sie sich ihre autoritäre Position zu Nutzen machte und ein solches Verbot aussprach. In einer globalisierten Welt empfinde ich diese Art der Reaktion jedoch als stark übertrieben und als einen problematischen Ausdruck der eigenen Unsicherheit. Beim Reisen durch Länder deren Amtssprache man nicht beherrscht würde eine solche misstrauische Haltung sicherlich zu massiven Spannungen führen und ein aufgeschlossenes Erleben der Umwelt stark beeintächtigen.
Jana — 18. April 2017 #