Simple Social Psychology

human behavior and experience in social context

Andere Länder, andere Sitten: Seien wir gemeinsam fortgeschritten

Wie der kulturelle Hintergrund Einfluss auf die Emotionale Intelligenz und die Zusammenarbeit im Team nehmen kann.

▶︎ von Svea Beyer, Silan Bilgili und Sophie Wierzbowski

Sind Ihnen schon einmal Unterschiede zwischen Kulturen aufgefallen, außer Essgewohnheiten oder das Freizeitverhalten, wenn man im Urlaub ist? Tatsächlich existieren tiefgründigere Kulturunterschiede, die das Verhalten von Menschen sowohl privat als auch im Arbeitskontext stark beeinflussen. Wenn man den Hintergrund dieser Unterschiede versteht, kann man mit dem Verhalten besser umgehen, da man erkennt, wo gewisse Verhaltensmuster ihren Ursprung haben.

Globalisierung – eine dynamische und unaufhaltsame Entwicklung, die Grenzen verschwimmen und die Welt schrumpfen lässt. Unternehmen entwickeln sich zu multinationalen Organisationen, Teams werden immer internationaler und das Verständnis von Kulturen spielt eine immer größere Rolle für den Unternehmenserfolg. Unternehmen sind gefordert, kulturelle Unterschiede zu identifizieren und die daraus entstehende Vielfalt zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Dies kann sowohl helfen, Konflikte langfristig zu vermeiden als auch Synergieeffekte zu nutzen, die sich aus der Vielfalt ergeben. Dies ist eng verbunden mit der Emotionalen Intelligenz, die dafür verantwortlich ist, Emotionen richtig wahrzunehmen, um Handlungshintergründe zu erkennen. Die Wechselbeziehung zwischen diesen Themen wird in diesem Blogbeitrag behandelt, wobei sich vorab eine Frage stellt: Welche Eigenschaften einer Kultur haben einen Einfluss auf den Umgang mit Emotionen? Ziel ist es, am Ende des Blogbeitrags eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Kann man Kultur eigentlich definieren?

Der niederländische Forscher Geert Hofstede (2001) hat einen Versuch gewagt: Eine Kultur bestehe aus den grundlegenden Normen und Werten einer Gesellschaft, wodurch sich Gesellschaften bzw. Gruppen voneinander unterscheiden lassen. Er erforschte diese Unterschiede und entwickelte daraus ein System mit den fünf folgenden Kulturdimensionen.

 „Kollektivismus“: Individualismus vs. Kollektivismus

Auf der individualistischen Seite sind Bindungen zwischen den Individuen eher oberflächlich, jeder Mensch sorgt für sich und die unmittelbare Familie. Kulturen, bei denen Menschen von Geburt an in Gruppen integriert sind (wie bspw. Großfamilien) und ihnen bedingungslose Loyalität bieten, sind auf der kollektivistischen Seite zu verorten.

Machtdistanz“: Stark vs. Schwach

Sie wird definiert als die Akzeptanz der ungleichen Verteilung von Macht durch Organisationsmitglieder, die weniger Macht besitzen. Daraus folgt, dass sowohl die Gefolgschaft als auch die führenden Personen einer Gesellschaft gleichermaßen für die Machtungleichheit verantwortlich sind.

Unsicherheitsvermeidung“:  Stark vs. Schwach

Diese Dimension beschreibt das Ausmaß, in dem sich die Mitglieder einer Kultur in unstrukturierten, mehrdeutigen Situationen wohl oder unwohl fühlen. Dementsprechend besitzen sie eine schwache oder starke Ausprägung der Unsicherheitsvermeidung.

Maskulinität“: Maskulinität vs. Feminität

Der Pol der gesellschaftlichen Maskulinität wird durch Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen und Wettbewerbsorientierung charakterisiert. Der feminine Pol wird durch Bescheidenheit und Fürsorglichkeit beschrieben.

Langzeitorientierung“: Langzeitorientierung vs. Kurzzeitorientierung

Diese Dimension beschreibt das Ausmaß, in dem Gesellschaften auf kurzfristigen Erfolg oder langfristige Lösungen ausgerichtet sind. Mit dem Pol der Langzeitorientierung verbundene Werte sind Durchhaltevermögen, Bescheidenheit sowie Schamgefühl.

 

Menschen einer Kultur lassen sich zwischen den Extrem-Polen dieser Dimensionen einordnen, wie beispielsweise in dieser Darstellung:

Außerdem ist eine hohe Ausprägung in Richtung eines Pols kein Indikator für eine hohe Ausprägung auf einer anderen Dimension. Dadurch entsteht dann ein Gesamtbild der Kultur, welches je nach Land sehr individuell ist. Beispielsweise können Land A und Land B individualistisch sein. Land A könnte dann eine hohe Machtdistanz haben, während Land B eine niedrige besitzt.

Lass uns auf eine Forschungsreise gehen…

Auch Gunkel et al. fragten sich, ob die Kulturzugehörigkeit und der Umgang mit Emotionen zusammenhängen. Sie nahmen sich 2014 vor, den Einfluss der Kulturdimensionen auf Emotionale Intelligenz  zu untersuchen, die unter anderem in den Bereichen Führung, Zusammenarbeit und organisationale Effektivität bedeutende Vorteile erzeugt.

In diesem Zusammenhang befragten sie 2067 Wirtschaftsstudent:innen aus neun Ländern, die sich unterschiedlichen kulturellen Clustern zuordnen lassen. Die Ergebnisse der Forschung sind sehr interessant: Sie zeigen, dass Kollektivismus, Unsicherheitsvermeidung und Langzeitorientierung die Emotionale Intelligenz positiv beeinflussen.

Kollektivismus

Die Ergebnisse zeigen, dass kollektivistisch orientierte Personen ihre eigenen Emotionen besser verstehen und ausdrücken können. Das liegt daran, dass sie die Fähigkeit besitzen, die Bedeutung einer Situation durch Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Doch nicht nur die eigenen, sondern auch die Emotionen anderer können kollektivistische Kulturen besser bewerten. Individualistischen Menschen fällt es hingegen eher schwer, negative Emotionen wie Traurigkeit zu erkennen. Solche Emotionen werden in einer kollektivistischen Gesellschaft wiederum eher zugunsten der Gruppe unterdrückt, was ein hohes Maß an Emotionsregulation erfordert. Außerdem sind Personen aus kollektivistischen Kulturen vermutlich in der Lage, ihre eigenen Emotionen so zu lenken, dass neben ihnen auch die gesamte Gruppe profitieren kann.

Unsicherheitsvermeidung

In Gesellschaften mit hoher Unsicherheitsvermeidung ist es der Forschung zufolge normal, Emotionen offen zu zeigen, weshalb diese als ausdrucksstarke Kulturen angesehen werden können. Das Verständnis für die eigenen Emotionen und die Regulation dieser stehen für Personen mit einer hohen Unsicherheitsvermeidung im Vordergrund. Neben den eigenen Emotionen beobachten die Menschen die Emotionen anderer genau und interpretieren das Verhalten. Dies trägt zum einen dazu bei, zukünftig die unbeliebten Ungewissheiten zu vermeiden. Zum anderen können Missverständnisse und unangenehme Situationen vermieden werden, indem die Menschen das eigene Verhalten anpassen.

Langzeitorientierung

Langzeitorientierte Personen zeigen Emotionen im Allgemeinen eher nicht so offen wie Personen aus kurzzeitorientierten Kulturen. Das hat aber nicht unbedingt einen Einfluss auf die Wahrnehmung der eigenen Emotionen. Der Grund für dieses Verhalten liegt auf der Hand: In langzeitorientierten Kulturen steht der Aufbau von Beziehungen im Vordergrund. Um potenzielle langfristige Beziehungen nicht zu verletzen, kann es notwendig sein, die eigenen Emotionen zu kontrollieren. Zudem spielt die Beobachtung der Gefühle des Gegenübers und in diesem Zuge auch das Verständnis für das Verhalten eine wichtige Rolle. Langzeitorientierte Personen sind also bereit, die nötige Zeit und Mühe in das Verständnis von Emotionen zu investieren.

An dieser Stelle fragen Sie sich wahrscheinlich: Was ist denn mit den anderen beiden Dimensionen? Gibt es dazu keine Ergebnisse? Jein. Das Ergebnis ist, dass es keinen relevanten Zusammenhang zwischen Emotionaler Intelligenz und den Dimensionen Maskulinität und Machtdistanz gibt, der uns auf der Suche nach der Antwort auf unsere Frage unterstützt.

Um auf die Frage vom Anfang zurückzukommen…

Kollektivismus, Unsicherheitsvermeidung und besonders Langzeitorientierung sind die Ausprägungen der Dimensionen, die den Umgang mit Emotionen positiv beeinflussen. Daraus können wir schließen, dass die Kultur einen Einfluss darauf nimmt, welche Emotionen gezeigt werden und wem diese offenbart werden. Dies hat jedenfalls die Studie bewiesen. Doch wie können Führungskräfte und Teammitglieder sich diese Erkenntnis im Arbeitsalltag zunutze machen? Erwiesenermaßen arbeiten Teams aus emotional intelligenten Beschäftigten besser zusammen und erbringen höhere Leistungen. Deshalb ist es wichtig, sich der Emotionalen Intelligenz von Teammitgliedern und dem Ursprung dieser bewusst zu sein, wodurch sich diese zu einer der wichtigsten Kompetenzen im Arbeitsalltag benennen lässt. Sollte nun der Entwicklungsbedarf der Teammitglieder hinsichtlich ihrer Emotionalen Intelligenz bewertet oder Schulungen bedarfsgerecht gestaltet werden, können mithilfe der kulturellen Länderunterschiede Bereiche ausgewählt werden, auf die sich fokussiert wird. Auch im Hinblick auf einen Arbeitseinsatz im Ausland könnten gezielte Entwicklungsmaßnahmen die Vorbereitung vereinfachen, da diese positive Auswirkungen auf die Emotionale Intelligenz aufweisen. Die Weiterbildung von Führungskräften erhöhen außerdem die Zufriedenheit und Leistung aller Mitarbeitenden im Team, was auf den verstärkten Teamzusammenhalt und die Motivationssteigerung zurückgeführt werden kann. Zusätzlich unterstützen die Erkenntnisse bei der Personalauswahl sowie der Schulung von Führungskräften. Durch die Berücksichtigung der verschiedenen kulturellen Einflüsse auf die Emotionale Intelligenz in diversen Teams kann es der Führungskraft gelingen, die Effizienz durch geeignete Maßnahmen zu steigern. Letztlich zeigen die vielfältigen Einsatzbereiche die Relevanz der Analyse von kulturellen Unterschieden für eine erfolgreiche Teamarbeit.

 

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Literatur

Gunkel, M., Schlägel, C. & Engle, R. L. (2014). Culture’s influence on emotional intelligence: An empirical study of nine countries. Journal of International Management, 20(2), 256-274. http://dx.doi.org/10.1016/j.intman.2013.10.002

Hofstede, G. (2001). Culture’s Consequences: Comparing Values, Behaviors, Institutions, and Organizations Across Nations (2. Aufl.). Sage Publications.

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Tüchtig oder süchtig?

▶︎ von Lea Hashagen, Gerrit Ortjohann und Nora Speckhardt

Dass sich die Arbeitswelt verändert, ist nichts Neues. Zu beobachten sind unter anderem längere Arbeitszeiten, höhere Arbeitsanforderungen und neue Technologien, die das Arbeits- und Privatleben verschwimmen lassen. Ein vergleichsweise wenig thematisierter Trend ist das zunehmende Auftreten von Arbeitssucht.


Kennen Sie eine Person, die so viel arbeitet, dass es auf Sie einen ungesunden und unausgeglichenen Eindruck macht? Fällt Ihnen eine Person ein, die dabei förmlich nach weiterer Arbeit sucht, ohne dass diese so richtig sinnvoll wirkt, etwa um dem Familienalltag zu entkommen? Oder kennen Sie vielleicht jemanden, der/die gerne viele Überstunden in Kauf nimmt, weil er/sie vollkommen in seiner/ihrer Arbeit aufgeht und viel Spaß daran hat? Denken Sie bei einer der vorangegangenen Beschreibungen vielleicht gerade sogar an sich selbst? Auch für den Fall, dass Sie alle Fragen mit „Nein“ beantwortet haben, kann es für Sie und Ihre Mitmenschen hilfreich und wichtig sein, die Unterschiede von Arbeitssucht und Arbeitsengagement zu kennen.

Arbeitsengagement kann die Gesundheit fördern, während Arbeitssucht eine schädliche Art und Weise ist, hart zu arbeiten.

Das haben Instrand und Kolleg:innen in einer Studie aus dem Jahr 2022 herausgefunden. In der Studie wurde der Einfluss von Arbeitsengagement und Arbeitssucht auf die persönliche Gesundheit untersucht. Dafür wurden akademisches und verwaltendes Personal, Hausmeister:innen und Reinigungskräfte an norwegischen Universitäten und Fachhochschulen befragt. Insgesamt haben 12.170 Beschäftigte an der Umfrage teilgenommen. Auch wenn unter den Befragten verschiedene Berufsgruppen vertreten waren, lag der Fokus der Studie auf Akademiker:innen.

Arbeitssucht vs. Arbeitsengagement

Die Autor:innen der Studie untersuchten, wie Arbeitssucht und Arbeitsengagement mit den wahrgenommenen Auswirkungen von Arbeit auf die eigene Gesundheit zusammenhängen. Dabei unterscheiden sie zwischen negativer arbeitsbezogener Gesundheit (= Arbeit beeinflusst die Gesundheit negativ, verschlechtert sie also) und positiver arbeitsbezogener Gesundheit (= Arbeit beeinflusst die Gesundheit positiv, verbessert sie also). Aber was ist denn jetzt eigentlich Arbeitssucht?

Aus dem Weg, ich muss arbeiten!

Arbeitssucht lässt sich als zwanghafte Einstellung zur Arbeit und zur Leistung beschreiben. Die betroffenen Personen leben nur noch für ihre Arbeit und erheben hohe Ansprüche an die Qualität und Quantität der Arbeitserledigung. Die Bedeutung der Arbeitsaufgabe rückt dabei in den Hintergrund und Arbeit wird zu einem Selbstzweck. Das bedeutet, dass die von Arbeitssucht betroffenen Personen nur noch des Arbeitens wegen arbeiten. Arbeitsengagement beschreibt dagegen einen positiven und erfüllenden Gemütszustand bezogen auf die Arbeit. Dieser Zustand ist durch Elan, Hingabe und Aufnahmefähigkeit gekennzeichnet. Dem Arbeitsengagement liegt im Unterschied zur Arbeitssucht kein zwanghaftes Verhalten zugrunde.

„Lebenskunst besteht darin, die eigene Natur mit der eigenen Arbeit in Einklang zu bringen”
– Luis de León

Die Autor:innen der Studie untersuchten dabei außerdem, ob der Zusammenhang zwischen der Arbeit und dem Zuhause in diesem Kontext eine Rolle spielt. Dieser Zusammenhang, welcher auch als „Interaktion” bezeichnet wird, bezieht sich auf den Punkt, an dem sich die Arbeit und das Zuhause oder die Freizeit überschneiden. Auch hier wird zwischen negativen und positiven Auswirkungen unterschieden. Hat die Interaktion dieser Lebensbereiche negative Auswirkungen, wird dies als Work-Home-Conflict beschrieben, dagegen ist von der sogenannten Work-Home-Facilitation die Rede, wenn die Interaktion positive Auswirkungen hat.

In der Studie wurden die gerade beschriebenen Aspekte in Verbindung miteinander untersucht. Genauer gesagt haben die Forscher:innen den Einfluss der Interaktion zwischen der Arbeit und dem Zuhause auf die Zusammenhänge zwischen Arbeitssucht/Arbeitsengagement und der arbeitsbezogenen Gesundheit geprüft.

Zugrundeliegende Theorie

Die Annahme der Autor:innen, dass die Interaktion zwischen Arbeit und Zuhause bedeutend im Rahmen ihrer Untersuchungen ist, stützte sich auf die sogenannte Conversation of Resources Theory (COR-Theorie). Diese besagt, dass Menschen grundsätzlich motiviert sind, ihre vorhandenen Ressourcen zu schützen und neue Ressourcen zu generieren. Ressourcen können hierbei Objekte, persönliche Eigenschaften oder auch die von der jeweiligen Person geschätzten Bedingungen sein. Auch Mittel zur Erreichung bestimmter Objekte können als Ressource angesehen werden. Beispiele für Ressourcen sind das Selbstwertgefühl, die Stellung innerhalb der Gesellschaft, die derzeitige Beschäftigung oder auch erlernter Einfallsreichtum sein. In Bezug auf die Studie lässt sich durch diese Theorie die Interaktion zwischen der Arbeit und dem Zuhause genauer erklären: In dem Work-Home-Conflict gehen Ressourcen durch die Unvereinbarkeit von Arbeit und Privatleben verloren, werden bedroht oder bringen nicht den erwarteten Gewinn. Andersherum tragen die Ressourcen bei der Work-Home-Facilitation zum Austausch von Gewinnen zwischen diesen beiden Bereichen bei.

Ergebnisse der Studie

Insgesamt deutet die Studie darauf hin, dass Arbeitssucht eine schädliche Art und Weise ist, hart zu arbeiten, während die Freude und die Ressourcen, die durch die harte Arbeit eines engagierten Arbeitnehmers entstehen, sich positiv auf sein/ihr Familienleben auswirken und seine/ihre Gesundheit fördern. Es ist also wichtig, dass wir die Begrifflichkeiten Arbeitssucht und Arbeitsengagement unterscheiden und richtig anwenden! Es konnte festgestellt werden, dass sich Arbeitsengagement positiv auf die positive arbeitsbezogene Gesundheit auswirkt, sie also fördert. Gleichzeitig wirkt es negativ auf die negative arbeitsbezogene Gesundheit, was bedeutet, dass negative Auswirkungen der Arbeit auf die Gesundheit gemindert werden. Die Studie zeigt dahingehend jedoch, dass es nicht die harte Arbeit selbst ist, die die Gesundheit beeinträchtigt, sondern die Art und Weise, wie ein hohes Arbeitspensum das Familienleben negativ beeinträchtigt. Die Zusammenhänge zwischen dem Arbeitsengagement und der positiven und negativen arbeitsbezogenen Gesundheit entstehen nämlich erst durch die Interaktion zwischen Arbeit und Zuhause. Das heißt, dass die arbeitsbezogene Gesundheit ohne diese Interaktion nicht vom Arbeitsengagement abhängig wäre. Wie in der COR-Theorie beschrieben, ist es demnach also möglich, dass sich bei engagierten Personen Ressourcen ansammeln und auf das Privatleben übergreifen, was sich positiv auf die arbeitsbezogene Gesundheit der Beschäftigten auswirkt.

Da Ressourcen, wie beispielsweise Zeit für Familie und Arbeit, in diversen Kulturen unterschiedlich bewertet werden, könnten die Ergebnisse der Studie zwischen verschiedenen Kulturen variieren. Außerdem ist die Studie auf Angestellte im öffentlichen Sektor beschränkt und auf Akademiker:innen fokussiert. Frühere Studien haben gezeigt, dass Angestellte des privaten Sektors mehr Stunden pro Woche arbeiten als Angestellte des öffentlichen Sektors. Der mögliche Einfluss von Kultur, Bildung, Beruf und dem Berufssektor beziehungsweise der Arbeitszeit wurde in der Studie nicht berücksichtigt und sollte daher in Zukunft noch untersucht werden.

Von der Theorie zur Praxis

Trotz des weiteren Forschungsbedarfes ist bereits jetzt klar: Die Ergebnisse sind ein zwingendes Motiv für Unternehmen und politische Entscheidungsträger:innen, Work-Life-Lösungen für ihre Mitarbeiter:innen im Allgemeinen und für Akademiker:innen im Besonderen einzuführen.

Was bedeuten die Ergebnisse konkret für das praktische Arbeitsleben?

Zum einen sollten Personen in Organisationen, vor allem bei Führungskräften, ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Arbeitssucht und Arbeitsengagement haben. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass erkannt werden kann, wer gefährdet ist und gezielt gefördert werden sollte. Zum anderen sollten Hochschulleitungen, Personalverantwortliche, Arbeitnehmervertreter:innen und arbeitsmedizinische Dienste dem grenzenlosen Arbeitsleben mehr Aufmerksamkeit schenken und es stärker berücksichtigen. Zu diesem Zweck wäre es empfehlenswert, wenn sich die Verantwortlichen zunächst darauf konzentrieren, wie sie ein familienfreundliches Arbeitsklima fördern können – denn ein familienfreundliches Arbeitsklima gilt generell als ausschlaggebend dafür, ob unterstützende Initiativen in Anspruch genommen werden oder nicht. Zudem sollten Unternehmen in Anbetracht des Zusammenhangs zwischen Arbeitsengagement und arbeitsbezogener Gesundheit Wege finden, um das Arbeitsengagement von Mitarbeiter:innen zu erhöhen. Hierzu eignen sich beispielsweise Gruppeninterventionen zur Steigerung von Ressourcen, denn sie gelten als wirksame Maßnahme zur Steigerung des Arbeitsengagements.

Jeder kann einen Unterschied machen

Abschließend möchten wir Ihnen gerne mit auf den Weg geben, dass im Grunde jeder und jede einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Auch Sie! Versuchen Sie Anzeichen für ungesunde Arbeitsweisen bei sich selbst und bei anderen zu erkennen. Nutzen Sie Hilfsangebote oder machen Sie auf diese aufmerksam. Lassen Sie uns aufeinander Acht geben und gesunde Arbeitsweisen fördern.

 

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Literatur

Greenhaus, J. H., & Beutell, N. J. (1985). Sources of conflict between work and family roles. Academy of Management Review, 10(1), 76–88. https://doi.org/10.2307/258214

Hobfoll S. E. (1989). Conservation of resources. A new attempt at conceptualizing stress. The American psychologist, 44(3), 513–524. https://doi.org/10.1037//0003-066x.44.3.513

Innstrand, S. T., Christensen, M., & Helland, E. (2022). Engaged or Obsessed? Examining the Relationship between Work Engagement, Workaholism and Work- Related Health via Work- Home Interaction. Scandinavian Journal of Work and Organizational Psychology, 7(1): 1, 1–14. http://doi.org/10.16993/sjwop.138

Wayne, J. H., Musisca, N., & Fleeson, W. (2004). Considering the role of personality in the work-family experience: Relationships of the big five to work-family conflict
and facilitation. Journal of Vocational Behavior, 64(1), 108–130. https://doi.org/10.1016/S0001-8791(03)00035-6

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Nach dem Unternehmenszusammenschluss ist vor dem Zusammenschluss – zumindest sollte es so sein

▶︎ von Hannah Krüger, Merisa Muric und Bastian Rexhäuser

Die wohl größte Veränderung, die ein Unternehmen heutzutage durchlaufen kann, ist eine Fusion oder ein Unternehmenszusammenschluss. Schauen Sie sich in Ihrem Umfeld einmal um: Wie viele Personen kennen Sie, die einen solchen Wandel miterlebt haben? Allein in der DACH-Region haben im Jahr 2020 2.470 Unternehmenszusammenschlüsse stattgefunden. Doch auch nach sorgfältigem Abwägen scheitern viele Unternehmen mit der erfolgreichen Umsetzung dieses Vorhabens. Warum?

Ein Beispiel gefällig? Gerne…

Betrachten wir dafür einmal den Zusammenschluss zweier deutscher, global operierender Unternehmen im Jahr 2000, die vor der Fusion als direkte Konkurrenten in der gleichen Branche agierten. Als etwa gleich große Akteure beschäftigten die beiden Unternehmen zusammen rund 60.000 Mitarbeitende und erzielten einen Jahresumsatz von rund 15 Mrd. €.

Im Zuge des Zusammenschlusses fanden drei Hauptprozesse parallel zueinander statt:

  • Fokus auf Kernkompetenzen
    Geschäftsbereiche, die nicht unmittelbar zum Kerngeschäft gehörten, wurden verkauft. So lag der Fokus auf den Kernkompetenzen beider Unternehmen. Dabei wurde sich auch von Geschäftsbereichen getrennt, die zum Prestigegefühl der Mitarbeitenden beigetragen haben.
  • Aufbau neuer Hierarchien
    Mit dem Zusammenschluss der Unternehmen etablierte die neue Geschäftsführung auch insgesamt eine neue Unternehmenshierarchie. Die mittlere Führungsebene hatte dabei keinen Einfluss auf die Entscheidungen.
  • Einführung von “Service Units”
    Diese Serviceeinheiten für einzelne Geschäftsbereiche waren fortan für den Vertrieb und das Tagesgeschäft verantwortlich. Mit dieser Umstrukturierung wurden Teams auseinandergerissen und Mitarbeitende fanden sich in neuen, ihnen unbekannten Konstellationen wieder.

Vom “Wir”-Gefühl zum “Ich”-Gefühl

Im Nachhinein stellte sich dieser Unternehmenszusammenschluss als Fehlschlag heraus.

In Interviews mit Mitarbeitenden aus dem mittleren Management beider Unternehmen konnten zwei Faktoren identifiziert werden, die zum Scheitern des Zusammenschlusses beigetragen haben: eine durchgehende strukturelle und prozedurale Unsicherheit der Mitarbeitenden sowie eine fehlende gemeinsame Unternehmensleitlinie.

Die strukturelle und prozedurale Unsicherheit war beispielsweise darauf zurückzuführen, dass die Veränderung der bekannten Strukturen zu schnell erfolgte. Die entstandene Unsicherheit wurde schließlich verstärkt durch ein komplizierteres Kommunikationssystem und extrem bürokratische Strukturen und Prozesse. Vor allem Mitarbeitende der neuen Service Units blickten in eine unklare Zukunft und fühlten sich durch die Umstrukturierung herabgestuft und alleingelassen. Gerade in den Service Units herrschte zusätzlicher Leistungsdruck durch die Quantifizierbarkeit und Vergleichbarkeit der Arbeitsergebnisse. Infolgedessen nahm Konkurrenz untereinander zu und das Vertrauen zu Kolleg:innen und Vorgesetzten ab.

Zum Misstrauen trugen auch symbolische Handlungen bei, die als “leer” enttarnt wurden.  Beispielsweise sprach die Geschäftsführung immer von einer Gleichberechtigung zwischen den Fusionspartnern; dies stellte sich aber durch die unbalancierte Besetzung des Aufsichtsrates als leeres Versprechen heraus. Das neue Unternehmen übernahm das Logo von einem der Fusionspartner. Die Mitarbeitenden des anderen Unternehmens konnten sich daraufhin nicht mit dem neuen Arbeitgeber identifizieren. Diese Aspekte führten weiterhin dazu, dass sich der Fokus der Mitarbeitenden vom Unternehmen als Ganzes auf kleine Teams und sich selbst verschob.

Auch weitere Aspekte trugen zum allgemeinen Missmut bei: Die Interviewten kritisierten den Fusionsprozess als stark verkürzt und zu wenig partizipativ; es wurden auch zu wenige Möglichkeiten zur Gestaltung der Unternehmenskultur geboten. Ebenso führte die Trennung von einer Bank, die nicht im Kerngeschäft verankert war, aber von den Mitarbeitenden als positiver Teil des Unternehmens betrachtet wurde, zu einem subjektiven Ansehensverlust.

Unsicherheiten, leere Symbolhandlungen und mangelnde Kontinuität führten schließlich dazu, dass sich die organisationale Identifikation der Mitarbeitenden auf einzelne Organisationseinheiten (beispielsweise die Arbeitsteams) oder ganz auf das Individuum verschob. Im Endeffekt wurde eine Identifikation der Mitarbeitenden mit der gesamten Organisation schlicht unmöglich.

Warum Identifikation eine Rolle spielt

Um zu erklären, warum die zuvor genannten Aspekte so tiefgreifend sind, schauen wir einmal mit einer sozialpsychologischen Theorie in die Psyche des Individuums: der Social Identity Theory von Henry Tajfel. Diese Theorie beschreibt die soziale Identität eines Individuums als den Teil des Selbstkonzepts, der auf dem Wissen über Mitgliedschaften in sozialen Gruppen und der dazugehörigen emotionalen Signifikanz basiert.

Diese sozialen Gruppen können sich anhand verschiedener Charakteristiken bilden. Tajfel zeigt in einem Experiment, wie niedrigschwellig die Gemeinsamkeiten von Individuen sein können, um sich als Gruppe zu verstehen. Dabei sollten die Teilnehmenden die Anzahl von präsentierten Punkten erraten. Diejenigen, die die Anzahl der Punkte überschätzt haben, bildeten eine Gruppe, genauso wie diejenigen, die die Punktzahl unterschätzt haben. Danach sollten die Teilnehmenden einen bestimmten Geldbetrag auf zwei Personen aufteilen, von denen eine Person zur eigenen Gruppe gehörte und die andere Person zur anderen Gruppe. Obwohl die einzige Information über die beiden Personen war, dass die Punktzahl über- oder unterschätzt wurde, wurde das Mitglied der eigenen Gruppe wohlwollender behandelt. Dieses Phänomen wird auch “minimal group” genannt.

Soziale Gruppen sind aber nicht immer “minimal groups”. Menschen schließen sich auch aufgrund deutlicherer Gemeinsamkeiten zu Gruppen zusammen: Sprache, Nationalität, Freizeitaktivitäten, Interessen, Geschlecht und Hautfarbe. Ob ein Individuum zu einer sozialen Gruppe gehört oder nicht, wirkt sich auf sein Verhalten aus. Menschen halten Mitgliedschaften zu Gruppen aufrecht, die positiv zu ihrer Identität beitragen. Umgekehrt werden sie (sofern möglich) eine Gruppe verlassen, sobald die Zugehörigkeit zu dieser sich nicht mehr positiv auf die eigene soziale Identität auswirkt.

Auch ein Unternehmen als Ganzes kann als eine – wenn auch sehr große – soziale Gruppe betrachtet werden, mit der sich Mitarbeitende identifizieren können. In diesem Kontext bilden sich zudem auch kleinere Gruppen durch die Einteilung in Teams und Abteilungen.

Um zur Frage zurückzukommen: Warum ist die Unternehmensfusion letztlich gescheitert?

Genau hier hat es bei der Fusion gehakt: Die Mitarbeitenden fanden es aus mehreren Gründen nicht mehr attraktiv, dem fusionierten Unternehmen anzugehören, da sie sich nicht mehr mit diesem identifizieren konnten. Maßgeblich dafür waren Unsicherheiten im neuen Arbeitsalltag und die Auflösung der alten Hierarchien, Abteilungen und Teams. Die Mitarbeitenden sahen keine Vorteile in den neuen Strukturen – eher im Gegenteil.
Damit die Mitarbeitenden die neuen Strukturen angenommen hätten, wären zwei Dinge nötig gewesen: eine Unternehmensleitlinie und die Möglichkeit, an Entscheidungen der Geschäftsführung zu partizipieren. Diese Voraussetzungen waren jedoch nicht gegeben, was zu wachsender Unzufriedenheit führte. So wurde die Zugehörigkeit zum Unternehmen nicht mehr als positiv bewertet, wie es vor der Fusion der Fall war. Mit der schwindenden Identifikation sanken auch das Commitment zu den Unternehmenszielen und die Bereitschaft, etwas zum Erfolg des Unternehmens beizutragen. In Folge wendeten sich die Mitarbeitenden vom Unternehmen ab.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ein essenzieller Aspekt, der leider häufig nicht bei folgenschweren Entscheidungen, Umstrukturierungen oder Fusionen im Unternehmenskontext beachtet wird, ist die menschliche Komponente. Auch wenn die Zahlen stimmen: Wenn die Mitarbeitenden sich nicht mehr mit dem “neuen” Unternehmen identifizieren, ist die Fusion zum Scheitern verurteilt. Sprechen Sie doch gerne noch einmal die Personen in Ihrem Bekanntenkreis an, die eine Fusion erlebt haben: Wie zugehörig fühlen sich diese dem Unternehmen noch und wurde bei ihnen die menschlich-soziale Komponente während der Veränderung erfolgreich berücksichtigt?

Zum Behalten: Es ist wichtig, dass Mitarbeitende sich auch nach einem Unternehmenszusammenschluss fortwährend mit ihrem Arbeitgeber identifizieren – trotz aller erfolgender Änderungen.

 

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Literatur 

Institute for Mergers, Acquisitions and Alliances (IMAA). (11. Februar, 2021). Anzahl der M&A Deals in der DACH-Region von 1991 bis 2020 [Graph]. In Statista. Zugriff am 06. Januar 2023, von https://de.statista.com/statistik/daten/studie/972508/umfrage/anzahl-der-munda-deals-in-der-dach-region/

Tajfel, H. (1974). Social identity and intergroup behaviour. Social science information, 13(2), 65-93.

Ullrich, J., Wiesecke, J. & van Dick, R. (2005). Continuity and Change in Mergers and Acquisitions: A Social Identity Case Study of a German Industrial Merger*. Journal of Management Studies, 42 (2), 1549-1569. https://doi.org/10.1111/j.1467-6486.2005.00556.x

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Wie entscheidet sich, wie du dich entscheidest?

▶︎ von Fynn Plugge, Raik Schilling und Tim Vorbrodt

Was verändert sich, wenn wir unter Druck Entscheidungen treffen? Was machen wir, wenn wir nicht alle wichtigen Abwägungen vorher treffen können und intuitiv unsere Entscheidungen treffen müssen? Und wie verändert sich unsere Erwartung an Andere je nachdem wie wir selber sind? Auf keine dieser Fragen hat die Wissenschaft bis heute eine eindeutige Antwort gefunden.

Manche Wissenschaftler:innen gehen dabei davon aus, dass Menschen soziale Wesen sind und sich unter Druck immer kooperativ verhalten. In der Praxis könnte das beispielsweise so genutzt werden, dass in Verhandlungen Druck auf den/ die Partner:in ausgeübt wird, um ein kooperatives Verhalten zu erzwingen. Andere Wissenschaftler:innen sind hier skeptischer. Sie gehen davon aus, dass Menschen sich unter Druck eher ihrer Persönlichkeit entsprechend verhalten. Dies würde in der Realität bedeuten, dass sozial-orientierte Menschen unter Druck noch häufiger sozial agieren und selbst-orientierte Menschen noch stärker auf ihren eigenen Vorteil achten. In einer Verhandlung würde ein selbst-orientierter Mensch sich also noch egoistischer verhalten und ein sozial-orientierter Mensch noch kooperativer sein. Doch welche Position entspricht eher der Wirklichkeit?

Mit dieser Frage haben sich auch Sun und Kolleg:innen (2023) in einer aktuellen Studie auseinandergesetzt. Hierfür griffen sie auf das sogenannte Gefangenendilemma zurück. Bei dem Gefangenendilemma handelt es sich um ein Spiel für zwei Spieler:innen. Es können beliebig viele Runden hintereinander gespielt werden. Das Dilemma kann der Spieltheorie zugeordnet werden. Die Spieltheorie ist eine bedeutende wissenschaftliche Theorie, die in zahlreichen Bereichen der Wissenschaft genutzt wird, um menschliches Entscheidungsverhalten zu untersuchen. Dafür werden in wissenschaftlichen Untersuchungen Spiele nach zuvor festgelegten Regeln gespielt und das Verhalten der Teilnehmenden beobachtet. Beim Gefangenendilemma spielen zwei Teilnehmer:innen gleichzeitig gegeneinander. Hierbei können sie sich meist nicht sehen und wissen nicht, wie ihr Gegenüber sich entscheidet. Die Teilnehmenden wissen also gar nichts übereinander. Beide Spieler:innen haben in jeder Runde zwei Entscheidungsmöglichkeiten. Sie können entweder eine kooperative Entscheidung treffen oder mit ihrem Gegenüber konkurrieren. Kooperieren beide Spieler:innen, erhalten beide einen mittleren Gewinn. Konkurrieren beide, verlieren sie einen höheren Teil ihres Geldes. Verhalten sie sich unterschiedlich, erhält der/die konkurrierende Spieler:in den größtmöglichen Gewinn, der/die kooperierende Spieler:in geht leer aus. Konkurrieren verspricht also den einzelnen Spieler:innen den höchstmöglichen Gewinn, kooperieren kann jedoch helfen für beide Spieler:innen gemeinsam Gewinne zu erzielen.

Neben dem Gefangenendilemma versuchten Sun und Kolleg:innen in ihrer Studie die Teilnehmenden durch laute Geräusche zu intuitiven Entscheidungen zu bewegen. Diese Methode hat sich auch in früheren Studien anderer Wissenschaftler:innen bereits als nützlich erwiesen, um intuitives Denken zu fördern. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Lärm die Informationsverarbeitung erschwert. Folglich bekamen die Spieler:innen in einigen Runden Lärm zu hören. Ob ihre Teilnehmenden tendenziell sozial-orientiert oder selbst-orientiert waren, testeten sie vorab, indem sie ihren Teilnehmer:innen verschiedene Verteilungsaufgaben vorlegten. Dabei sollten die Teilnehmer:innen fiktive Geldbeträge in verschiedenen Situationen auf sich und andere aufteilen. Selbst-orientierte Menschen neigen bei solchen Aufgaben dazu sich selbst größere Beträge zu geben als sozial-orientierte Menschen. Überlegen Sie doch einmal an dieser Stelle, wo sie sich selbst einordnen würden. Sind sie eher ein selbst-orientierter oder sozial-orientierter Mensch und wie wirkt sich diese Eigenschaft auf ihr persönliches Entscheidungsverhalten aus?

In den Versuchen von Sun und Kolleg:innen zeigt sich, dass sozial-orientierte Menschen tatsächlich deutlich häufiger kooperieren als egoistische Menschen. In Runden, in denen die Spieler:innen Lärm ausgesetzt waren, änderte sich jedoch die Kooperationshäufigkeit nicht bei allen. Sun und Kolleg:innen fanden also keinen Hinweis darauf, dass intuitives Denken immer zu kooperativem Verhalten führt. Das intuitive Denken wirkt sich jedoch insofern aus, als das sozial-orientierte Menschen intuitiv noch deutlich häufiger zu kooperativen Entscheidungen greifen. Gleichzeitig entscheiden egoistische Menschen sich noch deutlich häufiger zu konkurrieren. Diese Ergebnisse der Untersuchung sind ein Hinweis darauf, dass intuitives Denken persönliche Einstellungen noch verstärkt. Außerdem erscheint das Verhalten entgegen den eigenen Einstellungen leichter möglich zu sein, wenn sich nicht spontan entschieden werden muss.

In einem zweiten Versuch untersuchten Sun und Kolleg:innen zusätzlich noch, ob Menschen basierend auf ihrer sozialen Orientierung unterschiedliche Erwartungen an ihre Mitspieler:innen stellen. Hierfür fragten sie die Teilnehmer:innen nach einigen gespielten Runden danach, wie häufig sie eine kooperative Entscheidung des Gegenübers in den kommenden Runden erwarten. Hier zeigte sich, dass intuitives Denken die Kooperationserwartung von selbst-orientierten Menschen verringert. Für sozial-orientierte Menschen zeigt sich dieser Effekt jedoch nicht. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass sozial-orientierte Menschen eine stabile Kooperationserwartung an ihre Gegenüber stellen. Andererseits könnte die Kooperationserwartung von selbst-orientierten Menschen scheinbar von ihren Möglichkeiten der Informationserwartung abhängen.

Unklar bleibt dabei jedoch inwiefern sich die Erkenntnisse aus den Experimenten auch vollständig auf das echte Leben übertragen lassen. Echte Dilemma-Situationen sind nämlich meist deutlich komplexer als das Gefangenendilemma. Außerdem haben wir Menschen häufig deutlich mehr Möglichkeiten Entscheidungen zu treffen als in dem Spiel. Auch werden Entscheidungen in der Realität häufig nicht unabhängig voneinander getroffen. Dies lässt sich am Verhandlungsbeispiel noch einmal verdeutlichen. Hier treffen die Personen ihre Entscheidungen nicht getrennt voneinander, sondern im gemeinsamen Gespräch. Sie haben eine Beziehung zueinander und wissen, was die andere Person will. Außerdem beeinflusst die Situation der Verhandlung das Verhalten der einzelnen Personen.

Sind Erkenntnisse zum Gefangenendilemma deshalb wertlos? Keineswegs. Sie können uns helfen, das Verhalten von Menschen unter Labor-Bedingungen in einfachen Situationen besser zu verstehen. Sie bilden damit eine wichtige Grundlage, um Verhalten auch in realistischen und komplexen Situationen verstehen zu können.

Überlege dir also in Zukunft genau, wenn du vor einer Entscheidung stehst, wie du in der Situation agieren möchtest. Denn die Folgen deiner Entscheidung hängen auch damit zusammen, ob dein Gegenüber eher selbst- oder sozialorientiert ist.

 

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Literatur

Riechmann, T. (2014). Spieltheorie (Vahlens Kurzlehrbücher) (4., vollständig überarbeitete Auflage). Vahlen.

Sun, Q., Luo, S., Gao, Q., Fan, W. & Liu, Y. (2022). Intuitive thinking impedes cooperation by decreasing cooperative expectations for pro-self but not for pro-social individuals. The Journal of Social Psychology, 163(1), 62–78. https://doi.org/10.1080/00224545.2022.2122768

Tucker, A. W. (1983). The Mathematics of Tucker: A Sampler. The Two-Year College Mathematics Journal, 14(3), 228. https://doi.org/10.2307/3027092

Von Neumann, J. & Morgenstern, O. (1944): Theory of Games and Economic Behavior, Princeton University Press.

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Sag ich‘s oder sag ich‘s nicht? – Die unsichtbare soziale Identität und warum sie am Arbeitsplatz oft versteckt bleibt

▶︎ von Maja Kassulke, Annelie Lorber und Konstantin Schöps

Diversität am Arbeitsplatz betrifft mehr als nur das Geschlecht oder die Herkunft. Es gibt Identitäten, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind und die Menschen dennoch von anderen abgrenzen. Gerade weil nicht direkt sichtbar ist, dass sie andersartig” sind, stellen sich Betroffene die Frage: Sag ich‘s oder sag ich‘s nicht? Denn während die Geheimhaltung psychisch belastend sein kann, bringt eine Offenlegung der eigenen Identität oft gravierende Konsequenzen mit sich.

Studierende, die eine Ausbildung belächeln. Abteilungen, die um das Ansehen der Führungskräfte wetteifern. Mitarbeitende in der Produktion, die Verwaltungsangestellte verachten. Solche Situationen kennen die meisten. Auch wenn man es nicht selbst initiiert, hat doch jeder schon einmal Vergleichbares erlebt. Menschen denken hier in Gruppen. Neben diesen eher harmlosen Szenen kommt es jedoch auch vor, dass andere Arten von Gruppen bewertet und benachteiligt werden. So können Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, einer Krankheit oder ihrer Religion verurteilt werden. Das Verhalten vieler schwankt dabei zwischen unbewusster Stereotypisierung bis hin zu absichtlicher Diskriminierung.

Wie unser Denken und Handeln von Gruppenzugehörigkeit beeinflusst wird

Dieses Verhalten lässt sich durch die Theorie der sozialen Identität erklären. Die Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner bauen auf Festingers Theorie des sozialen Vergleichs auf, laut der Informationen über das eigene Selbst durch den Vergleich mit anderen gewonnen werden. Die Theorie der sozialen Identität fokussiert jedoch die Macht- und Verhaltensentwicklungen innerhalb von Gruppen. Tajfel und Turner behaupten, dass Individuen sich selbst und andere weitgehend entlang sichtbarer Linien in soziale Kategorien einordnen, indem sie nach auffälligen Merkmalen wie Geschlecht, Alter oder Ethnie gehen. 

Laut ihnen finden zwischenmenschliche Interaktionen meist gruppenübergreifend statt, sodass die Menschen sowohl als Individuum als auch als Mitglied einer sozialen Gruppe auftreten. Im Extremfall kann die Gruppenzugehörigkeit sogar die individuellen Merkmale einer Person übertrumpfen.  

Dabei kommt es zu einem Vergleichsprozess zwischen den Gruppen. Mit diesem gehe laut Tajfel und Turner auch ein Bedürfnis einher, besser dazustehen als die andere Gruppe. Es kommt häufig zu einem sozialen Wettstreit zwischen den Gruppen und infolgedessen werden die „Anderen“ abgewertet oder sogar stigmatisiert.

Das verändert nicht nur die Art und Weise, wie Menschen andere Menschen beurteilen und miteinander umgehen, sondern auch, wie sie sich selbst sehen. Besonders am Arbeitsplatz, wo Menschen verschiedener Identitäten zusammentreffen, kann diese Art des Denkens zu Ausgrenzung, Leistungs- und Motivationsabfall und psychischen Problemen führen. 

Was passiert, wenn die soziale Identität nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist

Der Mann mit Multipler Sklerose, der im Meeting zum Mitschreiben gebeten wird, aber durch seine Krankheit heute besonders zittert. Die lesbische Frau, die Elternschaftsurlaub beantragen will, aber nicht als schwanger gelesen wird. Sie alle haben eine unsichtbare soziale Identität aufgrund (chronischer) Krankheit oder sexueller Orientierung, die sie in Erklärungsnot bringen kann.

Diese Identität ergibt sich aus den Gruppen oder Kategorien, denen die Person gesellschaftlich zuzuordnen ist. Das muss jedoch nicht auf sichtbaren Merkmalen oder Verhalten basieren, wie man in den Beispielen sieht. Sind solche Hinweise nicht gegeben, wird eine Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Identitäten angenommen. So gehen wir meist automatisch davon aus, dass unser Gegenüber heterosexuell und körperlich unbeeinträchtigt ist. 

Personen, die eine unsichtbare soziale Identität haben, müssen sich bewusst dafür entscheiden, diese offenzulegen. Die soziale Identität geheim zu halten, kann durch das Gefühl “sich zu verstellen” schnell zu einer hohen psychologischen Belastung werden. Betroffene sprechen von dem Gefühl, isoliert zu sein und eine Fassade aufrechterhalten zu müssen. Auch haben sie häufig weniger Netzwerke und Zukunftschancen durch ihre Verschlossenheit und kompromittieren ihr Privatleben z. B. aufgrund von Leugnen der Lebensgefährt:innen.

Das Ausmaß, in dem sich eine Person bei der Arbeit offenbart, hat direkte Auswirkungen auf ihre Situation. So können sie völlig „in the closet“ sein und niemandem von ihrer „Andersartigkeit“ erzählen. Sie können sich aber „partially outen“ und nur einige Auserwählte einweihen, die das Geheimnis bewahren – etwa der Personalabteilung oder  engen Arbeitsfreundschaften, die sie unterstützen können. Oder aber die Person offenbart sich vollkommen und erzählt die Information wahllos. 

Entscheidet sich eine Person, ihre Identität offenzulegen, knüpft sie dadurch meist engere Beziehungen zu Kolleg:innen und unterstützt zusätzlich den sozialen Wandel am Arbeitsplatz. Außerdem reduziert diese Informationspreisgabe innere Konflikte betroffener Personen. Diese entstehen dadurch, dass das wahre Ich nicht mit dem Bild übereinstimmt, das sie anderen vermittelt. 

Für diesen Schritt entscheiden sich allerdings wenige Personen. Meist sind es die, die generell eine offene Persönlichkeit oder wirklich enge Arbeitsfreundschaften haben. Das zeigt eine Studie von Johnson und Joshi.  Sie führten 2016 eine zweiteilige Studie zur Offenlegung von Autismus-Diagnosen am Arbeitsplatz durch. Dazu wurden zunächst 30 arbeitende Erwachsene, die auf der hochfunktionalen Seite des Autismus-Spektrums liegen, und später 500 autistische Erwachsene befragt. Dabei kam heraus, dass die deutliche Mehrheit der Befragten ihre Diagnose geheim hält und selbst bei einer Offenlegung nur das allernötigste kommuniziert. 

Hinter dem Maskenball: Warum viele ihre Identität am Arbeitsplatz verbergen

Die Frage, warum das so ist, lässt sich einfach beantworten: Stigmatisierung. Das Problem kennt vermutlich jede Person, deren sichtbare oder unsichtbare Identität zur Minderheit gehört. Folgen von Stigmatisierung können Stereotypisierung, Statusverlust und Diskriminierung sein. Menschen bewerten andere, die mit einem Stigma behaftet sind, negativ, unabhängig von der Wahrheit oder der Berechtigung der negativen Bewertung.

Besonders am Arbeitsplatz führt dies zu inneren Konflikten. In keiner anderen Alltagssituation kommt es zu mehr möglichen Offenbarungen – und mehr Nachteilen. Für die Studie von Johnson und Joshi ist zudem relevant, dass im Gegensatz zu Geschlecht oder sexueller Orientierung geistige Beeinträchtigungen in direktem Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung am Arbeitsplatz stehen.

 Hauptsächlich halten autistische Personen ihre Diagnose geheim, weil nachgewiesenermaßen die persönlichen Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten durch Stigmata beeinträchtigt werden. Lieber nehmen sie das Label „introvertiert” an, als sich dem Stigma auszusetzen, sie seien mental langsam oder unhöflich. Die Angst ist zu groß, dass Aufträge, Kunden oder Reisen bewusst (nicht) verteilt werden. Zudem sorgen sich die betroffenen Personen, dass ihre Arbeit durch die HR-Abteilung stärker überwacht wird. Aber auch soziale Isolation und eine beeinträchtigte Entwicklung von Beziehungen sind Folgen, die wiederum die Vernetzung und das berufliche Fortkommen hemmen würden. Insgesamt kommt es häufig zu schlechteren Arbeitsleistungen und Schwierigkeiten bei der Einstellung oder dem Erhalt eines Arbeitsplatzes. Zusätzlich sahen viele Befragte ihre Privatsphäre als verletzt an und fühlten sich unwohl dabei, ihre Diagnose zu teilen.

Und die Moral von der Geschicht’…

… was bei anderen Menschen los ist, wissen wir nicht.

Deshalb sollten wir uns bewusst darüber sein, dass unser Gegenüber vielleicht mehr zu tragen hat als auf den ersten Blick erfassbar. Jetzt, da wir wissen, welche weitreichenden Konsequenzen das Offenlegen einer sozialen Identität haben kann, sollte niemand dazu gezwungen werden. Als Außenstehende sollten wir unser Verhalten reflektieren und von vornherein inklusiver handeln, ohne dass uns jemand darum bitten und sich dadurch outen muss. Wenn man am Arbeitsplatz ein:e Verbündete:r sein möchte, sollte man außerdem aktiv gegen stigmatisierendes und diskriminierendes Verhalten angehen, wenn man es mitbekommt.

Betroffene Arbeitnehmer:innen können zusätzliche außerbetriebliche Unterstützung in Anspruch nehmen, um geeignete Vertrauenspersonen für die Offenlegung am Arbeitsplatz zu identifizieren. Zum Beispiel können Job-Coaches beim Entscheidungsprozess zur Offenlegung helfen. Dabei können Arbeitgeber:innen durch das Anbieten geeigneter Angebote unterstützen. Auch sollte ein größeres Bewusstsein dazu in Schulungsprogramme zu Diversität integriert werden, um Betroffenen zu helfen, mit Stigmatisierung umzugehen, das Bewusstsein für das Thema bei Außenstehenden zu erweitern und Stigmatisierung sowie Diskriminierung in allen Bereichen entgegenzuwirken.

 

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Literatur

Clair, J. A., Beatty, J. E. & Maclean, T. I. (2005). Out of sight but not out of mind: Managing invisible social identities in the workplace. Academy of Management Review 30 (1), 78-95.

Johnson, T. D. & Joshi, A. (2016). Dark Clouds or Silver Linings? A Stigma Threat Perspective on the Implications of an Autism Diagnosis for Workplace Well-Being. Journal of Applied Psychology 10 (3), 430-449.

Tajfel, H., & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup conflict. In: W. G. Austin & S. Worchel (Hrsg.), The Social Psychology of Intergroup Relations (S. 33–47). Brooks/Cole.

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Durch Teamrollen zum Teamerfolg – So wird auch Ihr Team zum Weltmeister!

▶︎ von Thu Thuy Nguyen, Vanessa Schröder und Thomas Serschantow

Wussten Sie, dass rund 50 Millionen Menschen in Deutschland Fußballfans sind? Woche für Woche feuern Fans ihre Lieblingsteams an und lieben vor allem schöne Tore, spannende Spiele und letztendlich die Siege. Fußball ist aber weit mehr als der Wettkampf um die meisten Tore: Fußball ist vor allem Teamsport! Die klare Verteilung von Rollen und Aufgaben, angepasst an die jeweiligen Stärken der Spieler:innen, führt erst zu den Erfolgen eines Teams. Hier trifft Sport auf Arbeitswelt: Anhand dieses Fußballbeispiels können Sie einiges über Rollenverteilung lernen.

Im Berufsalltag müssen die meisten von uns nämlich ebenfalls in Teams arbeiten. Aus gutem Grund, denn das Arbeiten im Team birgt viele Vorteile. Dennoch ist eine effektive Teamarbeit in den meisten Fällen kein Selbstläufer. Damit sich die gewünschten Ergebnisse einstellen, muss die Rollenverteilung im Team gezielt organisiert werden. Im Fußball sind die Rollen klar definiert, doch wie genau sollte die Zusammensetzung von Teams im Arbeitsleben aussehen und was gibt es dabei zu beachten? Antworten auf diese Fragen liefert eine Studie zum VIA-Teamrollen-Modell. Generell gilt: Je ausgewogener die Verteilung der Teamrollen ist, desto besser funktioniert im Endeffekt das Team.

Immer dann, wenn mehrere Personen zusammen einen Weg gehen und ein gemeinsames berufliches Ziel verfolgen, werden sie zu einem Team. Je mehr Mitglieder in einem Team sind, desto sinnvoller erscheint die Rollenverteilung. Da die Zusammensetzung eines Teams einen erheblichen Einfluss auf die Leistung und das Wohlbefinden der Teammitglieder hat, gibt es jede Menge Forschung zum Thema „Teamrollen“. Vor allem der Erfolg von Projekten hängt häufig enorm von der Rollenverteilung und der Teamkonstellation ab.

Das VIA-Teamrollen-Modell – ein Erfolgsrezept?

Den größten Einfluss auf die Forschung über Teamrollen hat Belbin (1981, 2010, 2012) mit seiner Theorie der unterschiedlichen Teamrollen genommen. Ihm zufolge gibt es neun informelle Teamrollen, aufgeteilt in kommunikationsorientiert, wissensorientiert und handlungsorientiert. Die Theorie geht der Annahme nach, dass jede dieser Rollen mit spezifischen Stärken und Schwächen einhergeht. In einer aktuellen Studie bezüglich Teamrollen im Berufskontext wurde hingegen ein anderes Teamrollen-Modell genutzt: Die VIA-Teamrollen. Diese wurden aus der Sicht der positiven Psychologie entwickelt und konzentrieren sich daher ausschließlich auf Stärken. Im Gegensatz zu Belbins Ansatz stellt es ein einfacheres Modell dar. Das VIA-Modell unterscheidet zwischen sieben informellen Teamrollen, die sich auf positive Verhaltensweisen und Beiträge für das Team konzentrieren. Sie setzen sich aus folgenden Teamrollen zusammen:

Idea Creator  Sie betrachten die unkonventionellen Wege, um zu Lösungen und großartigen Ideen zu kommen. 
Information Gatherer  Sie suchen nach Informationen, z.B. über bewährte Verfahren, neue Trends, potenzielle Anbieter, Wettbewerb usw. 
Decision Maker  Sie verarbeiten und integrieren verfügbare Informationen, treffen Entscheidungen und stellen Ziele auf. 
Implementer  Sie kontrollieren den aktuellen Stand und ergreifen Maßnahmen, um auf das Ziel hinzuarbeiten. 
Influencer  Sie präsentieren das Produkt/die Dienstleistung zur internen und/oder externen Abnahme. 
Energizer  Sie bringen Ihre Energie in Ihrer und anderer Arbeit ein. 
Relationship Manager  Sie tragen zum reibungslosen Ablauf von Beziehungen und zur Lösung von Konflikten bei. 

Diese Teamrollen wurden basierend auf einer beispielhaften Abfolge eines erfolgreichen Projektes und den dafür benötigten Fähigkeiten abgeleitet. In einem Projekt sollten also beispielsweise zu Beginn der Idea Creator und Information Gatherer zum Einsatz kommen. Auch wenn sich das VIA-Teamrollen-Modell von Belbins Ansatz unterscheidet, werden einige seiner Annahmen ebenfalls erwartet. Zum Beispiel sollen ausgewogenere Teams einen positiven Einfluss auf Leistung und Wohlbefinden am Arbeitsplatz haben. Was das genau bedeutet, erfahren Sie jetzt.
In der oben genannten Studie bezüglich der VIA-Teamrollen wurde der Zusammenhang zwischen der Ausgewogenheit von Teamrollen sowie Charakterstärken im Team und den arbeitsbezogenen Ergebnissen untersucht. Zu den arbeitsbezogenen Ergebnissen zählen in diesem Fall die Einzel- und Teamleistung, Arbeitszufriedenheit und Qualität der Teamarbeit. An der Studie nahmen 284 Arbeitnehmende aus 42 Teams und die direkten Vorgesetzten der Teams teil. Die Teams bestanden aus 3-15 Mitgliedern und stammen dabei aus unterschiedlichen Berufen und Sektoren. Es wurde eine Online-Umfrage an die Teammitglieder und eine an die Vorgesetzten gesendet. Die Teammitglieder sollten verschiedene Fragen und Aussagen bezüglich der aktuellen und idealen Teamrolle, Charakterstärken und arbeitsbezogenen Ergebnissen bewerten. Die Vorgesetzen wiederum sollten nur die Einzel- und Teamleistung der Arbeitnehmenden beurteilen.

Mit diesen Tipps wird auch deine nächste Teamarbeit gelingen

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die genannten Teamrollen in der Praxis beachtet und gezielt genutzt werden sollten, um erfolgreiche Teamarbeit zu erreichen und bessere arbeitsbezogene Ergebnisse zu erzielen. Basierend auf den Studienergebnissen lassen sich auch einige Tipps für die Umsetzung in Ihrem Team oder für Sie als Recruiter ableiten. Außerdem können Ihnen die Ergebnisse bei Ihrer Selbstreflexion helfen.

  1. Übereinstimmung zwischen aktueller und idealer Teamrolle
    Je höher die Übereinstimmung zwischen aktuellen und idealen Teamrollen ist, desto besser fallen auch die Arbeitszufriedenheit und Qualität der Teamarbeit sowie die Einzelleistung aus.
    → Diese Erkenntnis kann als Hilfestellung für deine Reflexion dienen: Welche Rolle nehme ich momentan ein? Passt diese Rolle zu meinem Ideal? Was sind meine Charakterstärken und welche Rolle(n) könnte ich problemlos ausfüllen? Die Antworten auf diese Fragen können als Ausgangspunkt für Interventionen zur Förderung der individuellen Arbeitszufriedenheit genutzt werden. 
  2. Identifikation der Charakterstärken 
    Vor allem die Charakterstärken Teamwork und Fairness haben einen positiven Einfluss auf die Teamleistung, Arbeitszufriedenheit und Qualität der Teamarbeit. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass negative Effekte folgen könnten, wenn zu viele Teammitglieder eine bestimmte Charakterstärke haben. 
    → Da Teammitglieder sich eher implizit in bestimmte Rollen begeben, sollten die Charakterstärken der einzelnen Personen bereits im Recruiting identifiziert werden, um die ideale Teamrolle zu finden. 
  3. Hohe Repräsentation der Teamrollen 
    Je mehr Teamrollen vertreten sind, desto besser sind auch die Teamleistung, die Arbeitszufriedenheit und die Qualität der Teamarbeit. Dabei ist die Größe der Teams nicht von Relevanz, da einzelne Personen auch mehrere Rollen einnehmen können. 
    → Diese Erkenntnisse sind hilfreich bei der Teamkonstellation: Es sollten Personen zusammengeführt werden, die sich hinsichtlich der Teamrollen ergänzen oder gezielt Personen eingestellt werden, die die fehlenden Teamrollen ausfüllen können. 
  4. Ausgefeilte Teamrollen-Balance 
    Teamrollen können mehrfach in einem Team vertreten sein. Wenn allerdings zu viele Teammitglieder die gleiche Teamrolle vertreten, kann die Teamleistung und die Qualität der Teamarbeit darunter leiden. Überbesetzungen in den Rollen Information Gatherer, Decision Maker und Influencer sind kontraproduktiv, da sie anfällig für Wettbewerb und Rivalität sind. Anders sieht es bei den Teamrollen Idea Creator und Implementer aus: Diese ergänzen sich gegenseitig gut, was die Zusammenarbeit erleichtern kann. 
    → Auch diese Erkenntnisse sollten bei der Zusammenstellung von Teams beachtet werden, um eine erfolgreiche Teamarbeit zu gewährleisten. 

Mit dem VIA-Teamrollen-Modell zum ausgewogenen und leistungsstarken Team

Die Kunst dabei ist, erstmal zu erkennen, was ein Team überhaupt braucht. Anschließend können dann die richtigen Leute zusammengebracht werden, sodass sich die Teammitglieder gegenseitig ergänzen und eine effektive Teamarbeit folgt. Im Fußball ist es ganz normal, Teams so aufzubauen, dass jede:r Spieler:in die ideale Rolle ausüben kann. Dadurch können Fußballteams extrem effektiv und erfolgsbringend zusammenarbeiten. Im Arbeitsalltag jedoch gibt es immer wieder Situationen, in denen Teammitglieder nicht ihre ideale Rolle einnehmen können und stattdessen die fehlende Rolle im Team übernehmen müssen. Dennoch sollte jedes Teammitglied das Ausführen der idealen Teamrolle aufgrund der positiven Auswirkungen für das Team anstreben. Abschließend lässt sich sagen, dass ausgewogene Teams zu einer Verbesserung der Leistung und des Wohlbefindens des gesamten Teams führen. Einen guten Ansatz für diese Zusammensetzung von Teams bietet dabei das VIA-Teamrollen-Modell.

 

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Literatur

Belbin, R. M. (1981). Management Teams. Elsevier.

Belbin, R. M. (2010). Management Teams. Routledge.

Belbin, R. M. (2012). Team Roles at Work. Routledge.

Gander, F., Gaitzsch, I. & Ruch, W. (2020). The Relationships of Team Role- and Character Strengths-Balance With Individual and Team-Level Satisfaction and Performance. Frontiers in Psychology, 11, 1–15. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2020.566222

VIA Institute on Character (2013). Team Report. https://www. viacharacter.org/reports/the-via-team-profile-report

Bildquelle

Schwartz, M. (o.D.). Teamarbeit fördern. Ilea Institut. https://ilea-institut.de/blog/teamarbeit-foerdern/

Ankereffekt: Der Superstar unter den Beeinflussungstechniken

▶︎ von Lukas Berg, Yannic Schadly und Jannik Schreier

Sind Sie schon einmal voller Hoffnungen in eine Verhandlung gestartet und sind anschließend unzufrieden aus dieser raus gegangen, da Sie nur ein für Sie enttäuschendes Ergebnis erzielen konnten? Dann sind Sie möglicherweise Opfer des sogenannten Ankereffekts geworden und wurden durch einen bestimmten Wert, eine Zahl oder Ähnliches beeinflusst. Im Folgenden soll dieser psychologische Effekt erklärt werden. Der Ankereffekt kann in vielen Bereichen des Lebens als auch des Berufs auftreten und Anwendung finden. Im Marketing und der Werbung, bei Preis-, Gehalts- oder anderen wirtschaftlichen Verhandlungen – auf welche sich in diesem Blog konzentriert wird – oder selbst bei Gerichtsverhandlungen konnten Einflüsse des Effekts in Studien nachgewiesen werden. Eines schon einmal vorweg: Der Ankereffekt kann als eine Art Superstar unter den Beeinflussungstechniken betitelt werden. Seien Sie also gespannt!

Der Ankereffekt als Heuristik

Der Ankereffekt ist eine Art von Heuristik, um Urteile zu fällen. Heuristiken können als innere Faustregeln bezeichnet werden, mit deren Hilfe man Urteile fällt. Der Vorteil an Heuristiken ist, dass diese oftmals zu recht guten Ergebnissen führen, jedoch kognitiv nicht zwingend anstrengend sind und die dahinterliegenden Denkprozesse meistens automatisch ablaufen. Der Ankereffekt wurde zuerst von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky in den 1960er Jahren umfassend beschrieben. Er kann als Angleichung oder auch Anpassung eines numerischen Urteils – beispielsweise über den Wert eines Produktes – an einen im Vorfeld gegebenen Vergleichswert definiert werden. Dieser Referenzwert wirkt wie ein Anker und zieht den Wert des Urteils oder der Schätzung in seine Richtung.

Theoretische Grundlage

Die theoretische Grundlage des Ankereffekts basiert auf der Annahme, dass Menschen bei der Einschätzung von Werten oder auch Wahrscheinlichkeiten nicht immer ökonomisch rational, also nach dem maximal möglichen Nutzen strebend, handeln. Dies zeigt sich auch in den Ideen der Prospect Theory, welche ebenfalls von Kahneman und Tversky entwickelt wurde und das Verhalten bzw. ganz konkret die Entscheidungsfindung bei Unsicherheit von Menschen in wirtschaftlichen Situationen beschreibt. Der Hauptgrund für die Irrationalität von Entscheidungen bei Unsicherheit sind hierbei kognitive Verzerrungen, also meistens unbewusstes und fehlerbehaftetes Wahrnehmen, Denken und Urteilen. Die Prospect Theory besagt, dass ein Mensch die Entscheidung treffen wird, bei der der erwartete, subjektive Gewinn mal der empfundenen Wahrscheinlichkeit, dass dieser Gewinn eintritt, am höchsten ist. Der Entscheidungsprozess lässt sich hierbei in zwei Schritte einteilen: Zuerst wird der Gewinn einer Variante subjektiv bewertet und danach die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Variante eingeschätzt. Auf diese zwei Schritte kann auch der Ankereffekt einwirken und somit die Entscheidungsfindung beeinflussen. So lässt beispielsweise das bekannte Angebot “Nimm 3, zahle 2” Produkte subjektiv viel attraktiver und günstiger wirken. Im ersten Schritt wird hierbei also der subjektive Gewinn höher bzw. der subjektive Verlust niedriger eingeschätzt. Im zweiten Schritt kann der Ankereffekt hingegen Sicherheit geben und die geschätzte Eintrittswahrscheinlichkeit eines Gewinnes erhöhen. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn Freunde in einer Lotterie gewinnen und man selbst daraufhin die Wahrscheinlichkeit eines Gewinnes in der Lotterie subjektiv höher einschätzt. Der Ankereffekt kann also bei der Entscheidungsfindung innerhalb der Prospect Theory als ein möglicher Grund angesehen werden, weshalb Menschen von rationalen Entscheidungen abweichen. Dies trifft auch auf die Entscheidungsfindung in Verhandlungen zu, wie wir Ihnen in diesem Blog erklären wollen.

Der Ankereffekt ist sehr stabil in seiner Wirkung

Das Besondere am Ankereffekt ist, dass dieser sehr robust sowie stabil in seiner Wirkung ist und man ihn nicht vollständig eliminieren, sondern höchstens minimieren kann. Die Kenntnis und Informationen über den Effekt, Warnungen, sich nicht beeinflussen zu lassen und auch finanzielle Belohnungen für ein möglichst genaues Urteil zeigen keine Wirkung zur Eliminierung des Effekts. Selbst Experten mit Fachwissen oder Personen mit Erfahrung sind vor dem Effekt nicht geschützt und lassen sich durch einen Anker in ihrem Urteil beeinflussen.

Weshalb der Ankereffekt wirkt und was dagegen helfen kann

Der Ankereffekt und der vorgegebene Ausgangswert führen dazu, dass man sich überlegt, ob der tatsächliche Wert in der Nähe des Ankers liegen könnte und Gründe sowie Umstände gesucht bzw. abgerufen werden, die dies als möglich erscheinen lassen, während Umstände, die gegen den Ankerwert sprechen, vernachlässigt werden. Eine mögliche Gegenmaßnahme ist, dass man aufgefordert wird, Gründe zu nennen, die gegen den Ankerwert sprechen. So kann der Ankereffekt verringert, allerdings nicht vollständig eliminiert werden. 

Empirische Untersuchung des Ankereffekts

Die Auswirkungen des Ankereffekts in Verhandlungen untersuchten Galinsky und Mussweiler (2001) in ihrer Studie “First Offers as Anchors: The Role of Perspective-Taking and Negotiator Focus”. In einer Reihe von Versuchen mit jeweils verschiedenen Instruktionen sollten MBA-Studierende über den Verkauf einer fiktiven pharmazeutischen Fabrik verhandeln.
Grundsätzlich konnten sie empirisch belegen, dass das Unterbreiten des ersten Angebots einen erheblichen Vorteil in Verhandlungen hervorbringt. Wurde von der nachfragenden Seite das erste Gebot gemacht, wurde sich im Schnitt auf einen Preis von 19,7 Mio. $ geeinigt. Machte dagegen die anbietende Partei das erste Gebot wurde durchschnittlich ein Preis von 24,8 Mio. $ erzielt.
Darüber hinaus konnten sie nachweisen, dass die Taktiken des Perspektivwechsels und des Selbstfokus die Auswirkungen des Ankereffekts vermindern können. Besonders hilfreich zur Verminderung des Ankereffekts ist die Konzentration auf Informationen, die gegen den gesetzten Ankerwert sprechen. Ein Beispiel hierfür wäre die eigene Preisgrenze zu nennen. Auch die Fokussierung auf die eigenen Verhandlungsziele kann dabei helfen, sich vom Ankereffekt nicht (so stark) beeinflussen zu lassen.
Konzentrierten sich die Versuchsteilnehmer:innen mithilfe der genannten Taktiken dagegen auf Informationen, die für den Wert des gesetzten Ankers sprachen, so ließ sich keine Verminderung des Ankereffekts feststellen. 

Tipps für Ihre kommende Verhandlungssituation

Da wie vorangegangen beschrieben der Ankereffekt und seine Wirkung sehr robust sind und man ihn nicht wirklich eliminieren und nur schwierig minimieren kann, sollte man ihn vielmehr zu seinem Vorteil nutzen. Versuchen Sie also für Ihre Verhandlungssituationen die folgenden Tipps zu verinnerlichen:

  1. Setzen Sie sich hohe Ziele!
    Sie werden zwar tendenziell subjektiv enttäuschter aus der Verhandlung herausgehen, da man nicht immer seine gesetzten Ziele in einer Verhandlung vollständig erreichen kann. Allerdings erzielen Sie objektiv betrachtet bessere Ergebnisse.
  2. Machen Sie das erste Angebot!
    Versuchen Sie in Ihrer Verhandlung das erste Angebot zu machen, denn so setzen Sie den Anker und verzerren auf diesem Weg möglicherweise das numerische Urteil Ihrer Gegenpartei zu Ihren Gunsten.
  3. Setzen Sie den Wert des Ankers hoch an!
    Versuchen Sie, den Anker möglichst hoch zu setzen, denn das macht Sie zwar für Ihre Gegenpartei nicht zwingend sympathisch, dafür beeinflussen Sie aber das Ergebnis zu Ihrem Vorteil. Übertreiben Sie es jedoch nicht! Denn ein zu hoher Anker kann dazu führen, dass die Gegenpartei schnell und leicht Gründe findet, die gegen diesen hohen Wert sprechen und schlussendlich die Verhandlung scheitert.

Nutzen Sie den Ankereffekt, aber seien Sie auch vor ihm gewappnet

Der Ankereffekt wird, wie eingangs erwähnt, oftmals als Superstar unter den Beeinflussungstechniken bezeichnet, denn es ist fast unmöglich, den Effekt vollständig zu eliminieren. Das “Ankern” kann ein mächtiges Werkzeug zur Erreichung Ihrer Ziele in Verhandlungen sein. Nutzen Sie ihn also und versuchen Sie, das erste Gebot zu machen. Ist dies nicht möglich, suchen Sie für sich Gründe, die gegen die Plausibilität des Ankerwerts der Gegenseite sprechen. So kann für Sie die kommende Verhandlungssituation ein voller Erfolg werden!

 

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Literatur

Galinsky, A. D. & Mussweiler, T. (2001). First offers as anchors: the role of perspective-taking and negotiator focus. Journal of personality and social psychology, 81(4), 657.

Jonas, K., Stroebe, W., Hewstone, M., & Pendry, L. (2007). Soziale Kognition. Sozialpsychologie: Eine Einführung, 111-145.

Jungermann, H., Pfister, H.-R. & Fischer, Katrin. (2010). Die Psychologie der Entscheidung. Springer.

Kahneman, D., & Tversky, A. (2013). Prospect theory: An analysis of decision under risk. In Handbook of the fundamentals of financial decision making: Part I (pp. 99-127).

Mussweiler, T., Strack, F., & Pfeiffer, T. (2000). Overcoming the inevitable anchoring effect: Considering the opposite compensates for selective accessibility. Personality and Social Psychology Bulletin, 26(9), 1142–1150.

Ritov, I. (1996). Anchoring in simulated competitive market negotiation. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 67(1), 16–25. 

Strack, F., & Mussweiler, T. (1997). Explaining the enigmatic anchoring effect: Mechanisms of selective accessibility. Journal of Personality and Social Psychology, 73(3), 437–446.

Wilson, T. D., Houston, C. E., Etling, K. M., & Brekke, N. (1996). A new look at anchoring effects: Basic anchoring and its antecedents. Journal of Experimental Psychology: General, 125(4), 387–402.

Wright, W. F., & Anderson, U. (1989). Effects of situation familiarity and financial incentives on use of the anchoring and adjustment heuristic for probability assessment. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 44(1), 68–82.

Bildquelle

List, F. (2020, 09.Juli). Mit dem Ankereffekt Kunden gewinnen. Heise RegioConcept. https://www.heise-regioconcept.de/online-marketing/ankereffekt

Entscheidungen treffen in Verhandlungen – Ein Ende der Zerrissenheit

▶︎ von Sebastian Bahr, Mario Kerstinger und Anna Kolbanenko

Verhandlungen sind ein wichtiger Teil unseres täglichen Lebens, sei es im beruflichen Kontext, wenn wir mit Geschäftspartner:innen an einem gemeinsamen Projekt arbeiten und unterschiedliche Vorgehensweisen haben, oder im privaten Bereich, zum Beispiel bei Streitigkeiten mit Nachbar:innen über die Reparatur eines Zauns oder bei Preisverhandlungen auf dem Flohmarkt. Oft haben die Beteiligten unterschiedliche Interessen und es kommt zu unangenehmen Auseinandersetzungen, wenn keine Einigung erzielt werden kann. Wie ist es also möglich, eine Lösung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel ist?

Um dieses Thema besser greifbar zu machen, stellen wir uns folgendes Szenario vor:

Jonas, 22, hat kürzlich sein Bachelorstudium im Bereich Maschinenbau erfolgreich abgeschlossen und ist nun auf der Suche nach einem geeigneten Arbeitgeber, der seinen Vorstellungen entspricht. Nach ausgiebiger Recherche kommen für ihn lediglich zwei große Automobilhersteller in Frage, die auch zufällig in seiner Heimatstadt ansässig sind. Er bewirbt sich bei beiden Unternehmen auf eine ausgeschriebene Stelle. Glücklicherweise erhält er in den darauffolgenden Wochen jeweils eine Einladung zum Bewerbungsgespräch. Jonas hat bereits einen Favoriten im Hinterkopf und darf sich bei diesem Unternehmen auch tatsächlich zuerst vorstellen. Während des Gesprächs hat er ein sehr gutes Gefühl und den Job bereits fast in der Tasche. Zum Abschluss des Gesprächs kommt das Thema Gehalt zur Sprache. Die ihm vorgeschlagene Summe gefällt Jonas jedoch nicht und so entschließt er sich zu pokern. Er erzählt seinem Gegenüber, dass er bereits eine weitere Zusage von einem Konkurrenzunternehmen bekommen hat und diese sogar seinen Gehaltsvorstellungen entspricht. Sein Gegenüber bleibt jedoch standhaft und versichert, ihm aus diesem Grund keine besseren Konditionen anbieten zu können. Das Gespräch kommt daraufhin schnell zum Abschluss. Jonas bleibt sich seiner Sache jedoch sicher und geht zwei Tage später zu seinem zweiten Bewerbungsgespräch. Dieses läuft jedoch überhaupt nicht wie geplant und er erhält noch am selben Tag eine Absage. Als er daraufhin bei dem ersten Unternehmen anruft, um sich zumindest diesen Job zu sichern, erhält er hier jedoch ebenfalls eine Absage, da „er ja bereits ein viel besseres Angebot bekommen hat“.

Aus diesem Fehlschlag will Jonas lernen und informiert sich gründlich zum Thema Verhandlungen sowie Entscheidungsfindung in Verhandlungen. Er beginnt mit den Grundlagen und fragt sich zunächst, was Verhandlungen eigentlich genau sind.

Was genau sind Verhandlungen?

Er erfährt, dass Verhandlungen als soziale Interaktionen zu verstehen sind. Diese entstehen, wenn zumindest eine der Verhandlungsparteien ein Ungleichgewicht wahrnimmt bzw. den Wunsch danach hat, dieses auszugleichen. Das Ziel der beteiligten Parteien (mindestens zwei) dabei ist es, eine Einigung bzw. einen Ausgleich mit Hilfe von Kommunikation zu erreichen. Verschiedene Faktoren, wie z. B. bisherige Erfahrung mit der anderen Partei, Erwartungen oder Interpretation des kommunizierten Inhalts können eine Verhandlung beeinflussen.

Und wie viele verschiedene Arten gibt es?

Jonas versteht, dass er in seiner Situation einer kompromissorientierten Verhandlungssituation ausgesetzt war. Diese ist neben dem positions- sowie  verständigungsorientierten Verhandeln eine der drei existierenden Hauptarten. Beim kompromissorientierten Verhandeln ist die Erreichung seiner eigenen Wünsche meist nicht vollständig möglich. Wir versuchen diesen also so nah wie möglich zu kommen und verhandeln einen Kompromiss („Treffen wir uns in der Mitte!“). Grundsätzlich bemerkt er jedoch auch, dass sich nur wenige Verhandlungen auf nur eine dieser Arten beschränken. Das heißt, während einer Verhandlung können auch verschiedene Arten von Verhandlungen gleichzeitig angewendet werden.

Aber wozu das Ganze?

Wie Jonas bereits gelernt hat, dienen Verhandlungen dazu, ein wahrgenommenes Ungleichgewicht wieder auszugleichen. Dieses Ungleichgewicht kann nun aber verschiedene Formen annehmen. Im Kern lassen sich diese unter drei Hauptfunktionen zusammenfassen:

  1. Konflikte lösen (z. B. Meinungsverschiedenheiten/Streit)
  2. Anschlussfähige Lösungen finden (z. B. nach Meinungsverschiedenheiten oder einem Streit)
  3. Entscheidungen treffen

Jonas fällt auf, dass die dritte Funktion, also Entscheidungen treffen, gut zu ihm und seiner erlebten Erfahrung passt. Er hat nämlich die falsche Entscheidung getroffen und sich somit ein eventuell gutes Jobangebot verspielt.

Best Alternative to a negotiated Agreement (“BATNA”)

Im weiteren Verlauf seiner Recherche stößt er auf das Konzept “best alternative to a negotiated agreement”, abgekürzt “BATNA”. Das Konzept scheint wie für ihn gemacht. Denn es stellt für Verhandelnde anscheinend eine wichtige Option zur Entscheidungsfindung dar, falls es nicht direkt zu einer Einigung kommt oder kommen könnte. Das Grundprinzip versteht er schnell. So ist es in Verhandlungssituationen immer ratsam, alle möglichen Alternativen zu kennen und miteinander zu vergleichen. Aus diesem Vergleich entsteht die persönliche BATNA, also die bestmögliche Alternative, für die sich entschieden werden kann, wenn die aktuelle Verhandlung scheitert. Das Ziel dabei ist es, das Ergebnis der aktuellen Verhandlung besser zu gestalten, als die bestmögliche Alternative es bieten könnte. Insbesondere in Situationen, in denen das Machtverhältnis, z. B. in seinem Fall ein Bewerbungsgespräch, nicht ausgeglichen ist, kann diese Vorgehensweise davor schützen, zu sehr von einer Option abhängig zu sein. Wichtig dabei ist, dass dieses Konzept nicht nur von Jonas als Bewerber angewendet werden kann, sondern auch zu jedem Verhandlungszeitpunkt von dem Unternehmen, in dem er sich bewirbt. Denn auch dieses möchte eine gute Entscheidung bei der Auswahl der Bewerber treffen.
Jonas begreift, dass er die während seines ersten Bewerbungsgesprächs zur Verfügung stehenden Alternativen nicht ausreichend berücksichtigt bzw. falsch eingeschätzt hat. So wurde ihm seine Notlüge, mit der er sich einen persönlichen Vorteil erschleichen wollte, zum Verhängnis. Er findet diesbezüglich sogar eine aktuelle Studie. In dieser wird das Verhandeln mit nicht vorhandenen BATNAs untersucht. Gemeint ist, dass eine Partei lediglich vorgibt, eine bessere Alternative zu haben. Ziemlich genau so, wie er es getan hat.
Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass das Vorgeben von besseren Alternativen zwar die eigene Verhandlungsmacht stärkt, jedoch auch unethisches und manipulatives Verhalten begünstigt. Des Weiteren stellte sich heraus, dass es oft zu einem Reputationsverlust führt, wenn nicht vorhandene oder unwahrscheinliche Alternativen beim Verhandeln eingesetzt werden. Vor allem, wenn diese am Ende wirklich nicht realisiert werden können und erneut mit der ursprünglichen Partei verhandelt werden muss. Jonas versteht nun auch, weshalb er letztendlich vom zweiten Arbeitgeber abgelehnt worden ist.

BATNA – Und nun?

Jonas fasst für sich und vor allem für seine nächsten Bewerbungsversuche zusammen, dass es in Verhandlungssituationen entscheidend sein kann, seine eigene beste Alternative zu kennen und diese auch als Ausgangspunkt für Verhandlungen zu nutzen, um eine starke Verhandlungsposition zu erreichen. Worauf er jedoch achten sollte, ist die Verhandlungsmacht seines Gegenübers sowie die Wahrscheinlichkeit seiner Alternativen richtig einzuschätzen. Hierbei ist ein besonderes Maß an Feingefühl gefragt. Denn auf der einen Seite möchte er sein Gegenüber während der Verhandlung nicht nachhaltig verärgern. Auf der anderen Seite möchte er aber genug glaubwürdigen Druck erzeugen, um seine Wünsche besser durchzusetzen bzw. ein befriedigendes Ergebnis für sich selbst erreichen zu können.

 

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Literatur:

Benz, A., L\Xfctz, S., Schimank, U. & Simonis, G. (2012). Handbuch Governance: Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder (German Edition) (2007. Aufl.). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kreggenfeld, U. (2015). Erfolgreich systemisch verhandeln: Ganzheitliche Verhandlungsstrategien – Checklisten – Anwendungsbeispiele (2014. Aufl.). Springer Gabler.

Pinkley, R. L., Conlon, D. E., Sawyer, J. E., Sleesman, D. J., Vandewalle, D. & Kuenzi, M. (2019). The power of phantom alternatives in negotiation: How what could be haunts what is. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 151, 34–48. 

Rock, H. (2022). Das Best Situation Management Modell (BSMM): Die Performanceorientierte Alternative zur BATNA (essentials) (1. Aufl. 2022). Springer Gabler.

Rommelfanger, H. J. (2013). Entscheidungstheorie: Klassische Konzepte Und Fuzzy-Erweiterungen (Springer-Lehrbuch) (2002. Aufl.). Springer.

Stroebe, W., Hewstone, M. & Stephenson, G. M. (1997). Sozialpsychologie: eine Einführung ; mit 17 Tabellen. Springer Publishing.

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Bleib zuhause Chef – Was passiert, wenn Führungskräfte krank zur Arbeit kommen?

▶︎ von Maren Basler, Ann-Kathrin Brodkorb und Lena Wortmann

Wir alle kennen es, die Nase läuft, der Kopf schmerzt, aber der Schreibtisch und die To-Do-Liste auf der Arbeit sind am überlaufen. Also was tun wir? Natürlich zur Arbeit gehen, denn ansonsten wissen wir nicht, wie wir unsere Aufgaben unter einen Hut bekommen sollen. Arbeiten trotz Krankheit – genau das beschreibt das Phänomen Präsentismus. Arbeitnehmer:innen kommen zur Arbeit, obwohl sie gesundheitliche Einschränkungen physischer oder auch psychischer Art aufweisen und damit eigentlich einen guten Grund hätten, zuhause zu bleiben. Leider ist dies ein Problem, welches in Unternehmen unabhängig von Hierarchieebenen auftritt. Dietz und Kolleg:innen haben dazu eine Studie durchgeführt, die die negativen Auswirkungen eines solchen Verhaltens aufzeigt. Sie macht deutlich, wieso Unternehmen unter anderem auf der Führungsebene ansetzen sollten, um genau diesem Verhalten entgegenzuwirken.

Probleme mit Präsentismus

Sie fragen sich, wo das Problem bei Präsentismus liegt? Für Unternehmen ist es doch sicherlich von Vorteil, wenn Mitarbeiter:innen zur Arbeit kommen, all ihre Aufgaben erledigen und das Tagesgeschäft weiterlaufen kann, oder nicht? Nein, ganz im Gegenteil: Fakt ist, Personen, die viel Präsentismus zeigen, haben in Summe mehr Fehltage. Wie das nun wieder sein kann? Durch Präsentismus bestehen weniger Möglichkeiten zur Erholung, was zu einer Anhäufung psychophysiologischer Belastung führt. Der Gesundheitszustand verschlechtert sich und auch bestehende Krankheiten werden noch schlimmer. Es kommt zu emotionaler Erschöpfung, die Arbeitsfähigkeit und die Gesundheit sind beeinträchtigt und das Risiko an einer Depression zu erkranken steigt. Mitarbeiter:innen, die trotz Krankheit zur Arbeit gehen, weisen einen Verlust an Produktivität auf, welcher wiederum zu Ineffektivität auf der Arbeit führt. Auch für die Organisation hat dies Auswirkungen. Durch die beeinträchtigte Arbeitsfähigkeit und Gesundheit kommt es zu immer mehr krankheitsbedingten Fehlzeiten. Gleichzeitig wirken sich Produktivitätsverluste negativ auf Unternehmen aus und das Arbeitsengagement und die Arbeitszufriedenheit werden durch Präsentismus reduziert. Alle diese Konsequenzen haben sodann Auswirkungen, die noch weiter reichen (bspw. auf das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft). Doch was trägt denn dazu bei, dass eine so große Anzahl an Menschen Präsentismus an den Tag legt? Neben der Unternehmenskultur, den -werten und dem Arbeitsklima im Büro hängt die Arbeitsplatzsituation entscheidend von einer Person ab: der jeweiligen Führungskraft!

Der Einfluss von Führungskräften

Der Zusammenhang zwischen Führungsverhalten und der Gesundheit von Mitarbeiter:innen wird schon lange wissenschaftlich untersucht und ist bestätigt. Das Verhalten einer Führungskraft hat einen Einfluss auf die Belastung und das Wohlbefinden von Mitarbeiter:innen, die Arbeitszufriedenheit, den Krankenstand und auch auf die gesamte körperliche Gesundheit. Dieser Einfluss kann direkt und indirekt erfolgen. Direkt erfolgt er, indem Führungskräfte Regeln definieren und Erwartungen an das Verhalten bei der Arbeit teilen. Indirekt wirkt er, indem Führungskräfte zeigen, wie sie selbst denken, fühlen, arbeiten und damit sogenannte deskriptive Normen definieren. Tatsächlich zeigt sich der Einfluss von Führungskräften so stark, dass wenn diese Präsentismus zeigen, auch ihre Mitarbeiter:innen mehr Präsentismus zeigen.

Erklärungsansätze

Um Präsentismus und den Einfluss von Führungskräften zu verstehen, werfen wir einen Blick auf die sozialen und psychologischen Effekte, die diesen verstärken. Der beschriebene Einfluss von Führungskräften zeigt sich in dem Phänomen des sogenannten Trickle-Down-Effekts. Dieser meint, dass Mitarbeiter:innen das Verhalten ihrer Führungskraft annehmen bzw. kopieren. Einen Erklärungsansatz für diesen Effekt bietet die Theorie des Beobachtungslernens des Psychologen Albert Bandura. Diese beschreibt, wie Verhaltensweisen erlernt werden können: durch direkte Erfahrungen oder das Beobachten eines Verhaltens bei einer anderen Person – einem Vorbild. Eine weitere Theorie, die im Hinblick auf den Einfluss von Führungskräfteverhalten auf den Präsentismus von Mitarbeiter:innen interessant ist, ist die Theorie der sozialen Informationsverarbeitung. Diese besagt, dass das soziale Umfeld eines Menschen eine wichtige Informationsquelle für angemessenes Verhalten darstellt. Personen ziehen Informationen aus ihrer Umwelt und passen ihre Einstellung und ihr Verhalten an diesen Kontext an. Quellen solcher Hinweise – auch Cues genannt – ergeben sich u. a. aus Erfahrungen, Kommentaren anderer Personen aus dem Umfeld oder auch aus Beobachtungen. Diese Cues geben sodann Aufschluss über Erwartungen daran, wie unser Verhalten in diesem sozialen Umfeld sein sollte. Wir Menschen sind dann in der Lage unser Verhalten und unsere Einstellungen an jene Erwartungen anzupassen. Diese beiden Theorien können den Trickle-Down-Effekt bei Präsentismus erklären. Bei der Arbeit fungieren Führungskräfte als Vorbild und bieten durch ihr Verhalten Cues, die den Mitarbeiter:innen Hinweise an soziale Erwartungen bieten. Studienergebnisse von Dietz und Kolleg:innen bestätigen diesen Effekt. Sie fanden heraus, dass Präsentismus-Verhalten bei Führungskräften dazu führt, dass auch ihre Mitarbeiter:innen mehr Präsentismus zeigen. Präsentismus fließt also bildlich gesprochen durch die Hierarchie nach unten. Über einen Zeitraum von einem Jahr und zehn Monaten stiegen in der Studie bei Mitarbeiter:innen sowohl die Anzahl als auch die Häufigkeit der Fehltage dann, wenn Führungskräfte selbst vermehrt Präsentismus zeigten. Letztlich erhöht Präsentismus von Führungskräften zum einen den Präsentismus und zum anderen indirekt die Fehltage von Mitarbeiter:innen.

Fazit

Was fangen Sie jetzt mit diesen neu gewonnenen Erkenntnissen an? Auf lange Sicht wollen wir doch alle nur gesund und arbeitsfähig bleiben. Im Kontext der Arbeit können wir also bei Führungskräften den entscheidenden Anfang machen – aber wie? Grundsätzlich gilt es, Führungskräfte für dieses Thema und auch für den Einfluss, den sie haben, zu sensibilisieren. Aber auch Mitarbeiter:innen müssen über das Thema Präsentismus informiert werden. Zudem sollten Regeln in Bezug auf Anwesenheit und Krankheit im Unternehmen aufgestellt und von Mitarbeiter:innen und Führungskräften gleichermaßen gelebt werden. Es ist wichtig, dass diese in der Unternehmenskultur verankert sind und aktiv gelebt werden – nur mit einer authentischen und gelebten Unternehmenskultur kann sichergestellt werden, dass Führungskräfte tatsächlich zuhause bleiben, wenn sie krank sind. Für alle muss klar sein, ab wann genau Krankheit beginnt und nicht zur Arbeit erschienen werden soll. Noch interessanter wird dieses Thema im Hinblick auf jüngste und zukünftige Entwicklungen – Stichwort Homeoffice. Denn auch dort sollte bei Krankheit nicht gearbeitet werden. Der naheliegendste Ansatzpunkt ist und bleibt jedoch: Wenn die Führungskraft krank ist, sollte sie nicht zur Arbeit gehen. Erscheinen Mitarbeiter:innen krank zur Arbeit, sollten diese nach Hause geschickt werden. Das bedeutet also: „Bleib zuhause Chef und werde deiner Rolle als Vorbild gerecht“.

 

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Literatur

Bandura, A. (1971). Social learning theory. General Learning Press.

Dietz, C., Zacher, H., Scheel, T., Otto, K., & Rigotti, T. (2020). Leaders as role models: Effects of leader presenteeism on employee presenteeism and sick leave. Work & Stress, 34(3), 300-322. https://doi.org/10.1080/02678373.2020.1728420

Salancik, G. R., & Pfeffer, J. (1978). A social information processing approach to job attitudes and task design. Administrative Science Quarterly, 23, 224–253.

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Leader-Member-Exchange-Theorie – Fluch oder Segen für die Gruppendynamik?

Wie die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden sich auf die Leistungsfähigkeit des Teams auswirkt. 

▶︎ von Leonard Pfeuffer und Daniel Schmidt 

Haben Sie schonmal das Gefühl gehabt, dass Ihre Führungskraft zu Ihren Kolleg:innen eine andere Beziehung hat als zu Ihnen? Kein Wunder. Zwischenmenschliche Beziehungen sind komplex und beinhalten ein Zusammenspiel aus verschiedenen Einflüssen und Dynamiken. Doch so unterschiedlich zwischenmenschliche Beziehungen auch sind, so haben sie stets eine Gemeinsamkeit. Sie sind von Person zu Person immer individuell und einzigartig. Doch wie wirken sich diese Beziehungen auf unser Arbeitsleben aus? Und welchen Einfluss haben die individuellen Beziehungen zwischen Mitarbeitenden und Führungskraft auf die Gruppendynamik? In unserem Blog wollen wir hierzu die Antworten liefern! 

Was ist Ihnen bei ihrer Arbeit wichtig? Für manche ist es das Gehalt oder die Karrierechancen. Für viele gehört aber auch eine gute Beziehung zu den Kolleg:innen und der Führungskraft dazu. Und tatsächlich ist die Ausgestaltung der Beziehungen am Arbeitsplatz ein wichtiger Faktor, welcher sich auf die berufliche Leistung und den Erfolg einer Gruppe auswirkt. Dabei ist die direkte Beziehung zur Führungskraft besonders wichtig. Doch wie erfasst man die Komplexität und Qualität der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden? Hierzu wurde bereits 1970 die sogenannte Leader-Member-Exchange Theorie (LMX-Theorie) von den US-amerikanischen Wissenschaftlern George B. Graen und Mary Uhl-Bien entwickelt.

Was ist die LMX-Theorie?

Die LMX-Theorie beschreibt die wechselseitige Austauschbeziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden. Im Gegensatz zu klassischen Ansätzen der Führungsforschung, bei denen die eigenschaftsorientierte, verhaltensorientierte oder situative Perspektive betrachtet wird, steht bei der LMX-Theorie die Qualität der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden im Fokus. Dabei geht es  um die einmaligen, individuellen Beziehungen, die sich von Mitarbeitenden zu Mitarbeitenden unterscheidet. Nach den Autoren Graen und Uhl-Bien beruht die Austauschbeziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden dabei auf Reziprozität, also dem Prinzip von Leistung vs. Gegenleistung. Teil dieser Austauschbeziehungen können auf Seiten der Führungskraft Ressourcen, Informationen, Unterstützung und Verantwortungsübertragung und auf Seiten der Mitarbeitenden Loyalität, Arbeitseinsatz und Commitment sein. Die wahrgenommene Gerechtigkeit der Qualität der LMX-Beziehung ist hierbei relevant. Wird die Beziehung als positiv empfunden, so kann sich dies positiv auf die Leistung auswirken, während ein negatives Erleben das Mitarbeitendenverhalten auch negativ beeinflussen kann. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass die individuellen Beziehungen stets in einer (Arbeits-)Gruppe eingebettet sind und demnach nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Bestimmt haben auch Sie schon darauf geachtet, wie sich die Beziehungen von Ihnen und Ihren Kolleg:innen zur Führungskraft unterscheiden. So kann die Gruppendynamik auch davon beeinflusst werden, ob es eine hohe oder niedrige Variabilität in der LMX-Differenzierung (LMXD) gibt.

Wo befinde ich mich?

Die Qualität der Austauschbeziehung lassen sich dabei in die drei Kategorien Out-Group, Middle-Group und In-Group unterteilen. Die Out-Group ist gekennzeichnet von einer niedrigen Qualität der Beziehung, der Beschränkung auf formale Vereinbarungen (wie beispielsweise dem Arbeitsvertrag) und dem Übertragen von wenig Verantwortung an die Mitarbeitenden. Die Kategorie der Middle-Group zeichnet sich durch eine über die formalen Vereinbarungen hinausgehende Beziehung mit der Führungskraft aus.  Bei der letzten Kategorie der In-Group hat die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden eine hohe Qualität der Beziehung. Führungskraft und Mitarbeitende schätzen sich auf emotionaler Ebene und haben ein enges Vertrauensverhältnis zueinander. Die Mitarbeitenden, welche sich in der Kategorie der In-Group befinden, sind mit wichtigen Aufgaben betraut und haben einen hohen Status bei der Führungskraft.

Sollten Sie sich tendenziell in der Out-Group oder Middle-Group einordnen, gibt es eine gute Nachricht. Die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden ist nicht statisch, sondern entwickelt sich dynamisch.  

Wie entwickeln sich eigentlich die unterschiedlichen Beziehungen?

Die Differenzierung der LMXD kann aufgrund der Leistungsebene und aufgrund der persönlichen Sympathie stattfinden. Im Rahmen der Leistungsebene werden vor allem Fähigkeiten/Kompetenzen, Motivation und der Beitrag, den der Mitarbeitende für das Unternehmen leistet, betrachtet. Neben der Leistungsebene spielen jedoch auch persönliche Faktoren eine Rolle, da es sich bei der LMXD um eine soziale Beziehung handelt, die nicht nur auf kognitiven Prozessen beruht, sondern auch auf zwischenmenschlichen Bewertungen und Wahrnehmungen. Demnach kann die LMXD auch auf persönlichen Gefühlen, Ähnlichkeiten oder weiteren zwischenmenschlichen Einflüssen beruhen. Die persönliche Sympathie und die Leistungsebene können allerdings auch miteinander korrelieren, da aufgrund guter Leistung möglicherweise auch die Sympathie für den Mitarbeitenden steigt.

Wie wirkt die LMX-Theorie?

Es hat sich gezeigt, dass die LMXD positive, aber auch negative Auswirkungen auf Gruppenleistung und Gruppendynamik haben kann. Ein positiver Einfluss kann die selektive Verteilung von Ressourcen und Verantwortung je nach Kompetenz, Leistung oder Beitrag des Mitarbeitenden sein. Ein negativer Aspekt kann jedoch sein, wenn sich je nach Qualität der LMX-Beziehungen Untergruppen bilden. Dies kann beispielsweise zu Feindseligkeit und Konkurrenz zwischen Personen mit hoher und niedriger LMX-Beziehung führen. Die Wirkung von LMXD kann also unterschiedlich ausfallen. Aber wie kann eine möglichst positive Wirkung erreicht werden? 

In der Studie von Han et al. (2021) wurden verschiedene Faktoren der LMXD betrachtet und deren Einfluss auf die Gruppendynamik und die Gruppenleistung. Zunächst wurde die Art der LMXD in die bereits zuvor erwähnten Aspekte Leistungsebene und persönliche Sympathie unterteilt. Die Annahme der Studie war, dass sich die Art der LMXD auf die Zusammenarbeit oder die soziale Untergrabung der Gruppe auswirkt. Soziale Untergrabung kann in diesem Fall Konflikte zwischen den Mitarbeitenden, Feindseligkeit, gegenseitiges schlechtmachen oder sogar ein gegeneinander arbeiten beinhalten. Der Effekt, den die Art der LMXD auf die Zusammenarbeit oder die soziale Untergrabung hat, soll von der Belohnungsabhängigkeit verstärkt werden. Mit der Belohnungsabhängigkeit ist gemeint, inwieweit erhaltene Belohnungen von der gesamten Gruppenleistung abhängig sind. 

So viel zur Theorie – aber welcher Einfluss der LMX-Theorie lässt sich auch nachweisen?

Tatsächlich hat sich gezeigt, dass eine signifikant positive Beziehung zwischen LMXD und Zusammenarbeit der Gruppe besteht, wenn zu einem hohen Maß die Leistungsebene als Grundlage der LMXD dient. Weiterhin konnte bestätigt werden, dass dieser Einfluss durch eine hohe Belohnungsabhängigkeit verstärkt wird. Es konnte ebenfalls gezeigt werden, dass sich die LMXD aufgrund eines hohen Maßes an persönlicher Sympathie negativ auf die Zusammenarbeit der Gruppe und positiv auf die soziale Untergrabung auswirkt. Der letztere Effekt wird ebenfalls durch die Belohnungsabhängigkeit verstärkt. 

Es zeigt sich also, dass die LMXD durchaus einen Effekt auf die Gruppendynamik in Form von Zusammenarbeit oder sozialer Untergrabung hat. Ein positiver Einfluss auf die tatsächliche Gruppenleistung konnte jedoch nur durch die verbesserte Zusammenarbeit der Gruppe herbeigeführt werden, wenn die LMXD aufgrund einer hohen Berücksichtigung der Leistungsebene vorgenommen wurde und gleichzeitig eine hohe Belohnungsabhängigkeit vorlag. 

Was bedeutet das für das Berufsleben?

Die Ausgestaltung von verschiedenen Qualitäten der LMX-Beziehungen kann sich positiv auf die Gruppendynamik auswirken, wenn die LMXD aufgrund legitimer Faktoren durchgeführt wird. Das bedeutet, dass die Leistungsebene und nicht die persönliche Sympathie Grundlage der LMXD sein soll. Auf diese Weise kann die Zusammenarbeit in der Gruppe gefördert und die soziale Untergrabung vermindert werden. Außerdem wird bei einer LMXD aufgrund legitimer Faktoren das wahrgenommene Gerechtigkeitsempfinden und die Akzeptanz der verschiedenen Qualitäten der LMX-Beziehungen erhöht. Dies ist wichtig, da die LMXD auch zu einer sozialen Hierarchie führen kann, sodass Mitarbeitende mit einer hohen LMX-Qualität über mehr Macht und Status verfügen. Wenn die LMXD allerdings als ungerecht empfunden wird, kann dies wiederum zu Macht ohne Status und im Weiteren zu sozialer Untergrabung führen.

 

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Literatur

Bauer, T. N. & Erdogan, B. (Hrsg.). (2016). Oxford handbooks online. The Oxford handbook of leader-member exchange. Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199326174.001.0001 

Graen, G. B. & Uhl-Bien, M. (1995). Relationship-based approach to leadership: Development of leader-member exchange (LMX) theory of leadership over 25 years: Applying a multi-level multi-domain perspective. The Leadership Quarterly, 6(2), 219–247. https://doi.org/10.1016/1048-9843(95)90036-5 

Han, J. H., Liao, H., Han, J. & Li, A. N. (2021). When leader–member exchange differentiation improves work group functioning: The combined roles of differentiation bases and reward interdependence. Personnel Psychology, 74(1), 109–141. https://doi.org/10.1111/peps.12415 

Nerdinger, F. W. (2019). Führung von Mitarbeitern. In: F. W. Nerdinger, G. Blickle & N. Schaper (Hrsg.). Arbeits- und Organisationspsychologie (4. Aufl., S. 95-118). Springer. 

Schyns, B. & Knoll, M. (2015). LMX – Leader-Member Exchange. In: J. Felfe (Hrsg.). Trends der psychologischen Führungsforschung. Neue Konzepte, Methoden und Erkenntnisse (S. 55.66). Hogrefe. 

Wehrlin, U. (2016). Leader-Member Exchange (LMX) (1. Aufl.). Internationale Hochschulschriften Wirtschaft IHW: Bd. 3. EHV Academicpress. 

Bildquelle

https://leanbase.de/digital-conference/latc2021-recording/talks/wie-man-fuhrt-ohne-zu-dominieren

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