Die Nationalismustheorien und der Bergkarabakh-Konflikt

Eine Territorialstreitigkeit: Der Bergkarabakh-Konflikt

Bevor man den Skandal und die Hintergründe zur Monografie von Akram Aylisli verstehen kann, ist es notwendig die historischen Bedingungen zu kennen in die diese Veröffentlichung kontextualisiert wird. Der armenisch-aserbaidschanische Gebietskonflikt steht hierbei im Vordergrund und erstreckt sich über das ganze 20. Jahrhundert sowie bis in das 21. Jahrhundert hinein. Im Jahr 2020 eskalierte dieser Konflikt zuletzt und hat auch bis jetzt noch keine Lösung gefunden. Bei diesen Geschehnissen ist es wichtig zu erwähnen, dass es sehr große Schwierigkeiten gibt vertrauenswürdige Aussagen zu bekommen, da beide Seiten einander verantwortlich machen (Demirtepe und Laciner 2004, S. 2). Es herrschen somit zwei unterschiedliche Perspektiven über den Ursprung sowie die Schuldträgerschaft, was eine historisch korrekte Einordnung erschwert.

 

Quelle: www.zdf.de/nachrichten/politik/armenien-berg-karabach-aserbaidschan-konflikt-100.html

Im Zentrum von diesem Konflikt steht das Konzept von Territorium. Um genau zu sein geht es um den zuvor international nicht anerkannten Klein-Staat Nagorno-Karabakh, von armenischer Seite auch Arzach genannt und von deutscher Seite oft als Bergkarabakh betitelt. Im folgenden wird die international bekannte Bezeichnung „Nagorno-Karabakh“ genutzt, wobei der Konflikt selber in Deutschland mehrheitlich als „Bergkarabakh-Konflikt“ bekannt ist. So kompliziert und uneindeutig wie die Namensgebung ist, so undurchsichtig ist auch die Situation. Das Gebiet befindet sich genau zwischen den beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan im Kaukasus und wurde lange mehrheitlich von Armenier*innen bewohnt bis zum jüngsten Krieg 2020 (Hofmann 2020, S. 14). Beide Staaten erheben Anspruch auf diese Region, welches in Zusammenhang mit der Idee steht, dass der eigene Anspruch gerechtfertigt ist durch die Uhreinwohnerschaft, die dieses Territorium besiedelt haben soll (Kuburas 2011, S. 44).

Während der aserbaidschanische Staat darauf besteht, dass die Region vor den Jahren 1804-1813 maßgeblich von Aserbaidschaner*innen bewohnt und erst durch Eingliederungsversuche des russischen Oberhauptes, dem Zar, Armenier*innen in die Region gelangt seien, existiert auch ein armenisches Narrativ (Demirtepe and Laciner 2004, S. 4f.). Dieses besagt, dass die Aserbaidschaner*innen in der Region hinzugezogen seien und die Region historisch eher ein Teil von Armenien wäre. Fakt ist jedoch, dass die damalige Sowjetunion, welcher Armenien und Aserbaidschan unterstellt waren, die Zuordnung durchgeführt hat. Laut der deutschen Philologin und Soziologin Dr. Tessa Hofmann hatte Armenien in der Zeit unter der Sowjetunion am Anfang der 1920er Jahre tatsächlich einen Anspruch auf die Region Nagorno-Karabakh gestellt, welches nicht gewährt und stattdessen die Region Aserbaidschan unterstellt wurde (2020, S. 14). Dabei war die Zuordnung Nagorno-Karabakhs zu Aserbaidschan letztendlich eine ökonomische Entscheidung seitens der Sowjetunion, die in Aserbaidschan mit seinem Ölvorkommen und der größeren Einwohnerzahl einen stärkeren Verbündeten gesehen hat (Kuburas 2011, S. 48).

 

Die Hauptstadt von Bergkarabakh „Stepanakert“ während des Krieges in 2020
Quelle:  www.fr.de/politik/berg-karabach-krieg-konflikt-armenien-aserbaidschan-gruende-feinde-90061420.html

Das nationalistische Konstrukt in Armenien und Aserbaidschan

Das Vorhandensein von zwei unterschiedlichen Narrativen lässt sich bereits auf das Vorhandensein von Nationalismus oder aber auch die Loslösung von der Unterdrückung dessen zurückverfolgen. Die Sowjetunion hatte die Bestrebungen gehabt die beiden Nationen miteinander zu verbinden, in dem sie Ethnie mit in die Politik einordneten und den aufkeimenden Nationalismus in beiden Staaten vehement zu unterdrücken versuchte (Kuburas 2011, S. 50). Doch ist es überhaupt möglich Nationalismus komplett aufzubrechen und verschiedene Nationen zu vereinen? Selbst bei dem europäischen Model herrschen immer noch klare nationale Strukturen, die sich zwar gegenseitig nicht bekämpfen, aber trotzdem an der Idee von der Unterschiedlichkeit festhalten. Miltitz und Schurr gehen sogar einen Schritt weiter und behaupten, dass selbst, wenn wir versuchen würden nationale Strukturen auseinanderzunehmen, würden sich doch bestimmte Praktiken wieder etablieren und trotz aller Schwierigkeit der Nationalismus weiter angestrebt werden. Der Nationalgedanke hat nämlich, wie am Anfang schon erwähnt, auch das Potential Menschen trotz ihrer Unterschiedlichkeiten zu vereinen (2016, S. 57).

Im Fall von Aserbaidschan und Armenien spiegelte sich dieser Gedanke ebenfalls wieder, da sie sich Anfang der 1990er Jahren endgültig von der Sowjetunion losgelöst hatten als dieser zusammenbrach und somit der Platz geschaffen wurde für eine nationalistische Politik (Demirtepe und Laciner 2004, S. 1). Die Frage, die sich nun stellt ist, ob der Nationalismus als Konstrukt bereits vor den Unterdrückungsversuchen der Sowjetunion vorher vorhanden war und dieser den Konflikt zwischen beiden Staaten befeuerte oder ob eher der Territoriums-Anspruch beider Staaten der Grund für den stärker werdenden Nationalismus war. Die erste nationalistische Partei in Aserbaidschan „Difai“ (dt. Verteidigung) wurde zusammengeschlossen als „militärisch-politische Organisation gegen die Armenischen Attacken“  (Demirtepe und Laciner 2004, S. 2). Auch andere wissenschaftliche Quellen untermalen, dass der Konflikt um Nagorno-Karabakh dazu beigetragen hat, dass der Nationalismus in Aserbaidschan erstarkt ist. So wären Menschen, die vorher kein Interesse an Politik gehabt hatten, politisch aktiv geworden (Tokluoglu 2005, S. 726f.). Diesem Gedanken zufolge ist der Nationalismus entstanden als eine Reaktion auf ein Gefühl der Bedrohung, welches die Menschen in beiden Ländern und in der autonomen Region empfunden haben:

“The developments [in Nagorno-Karabakh] have helped to unite us. A national feeling and state of awareness have emerged in the community for the first time. We had not observed this in the past. I can say that Azerbaijan has changed. It is as if the Armenian attitude has awakened the people and moved them to safeguard their rights” (Demirtepe und Laciner 2004, S. 11)

Die nationale Identität dient demnach auch als Schutzmechanismus, da so zum Einen eine Zusammenkunft stattfindet und sich eine Gemeinschaft bildet, welche sich besser verteidigen kann. Zum Anderen findet eine Abgrenzung statt, da eine Gemeinschaftsbildung in diesem Fall auch bedeutet, dass Menschen dafür ausgegrenzt werden müssen. Reicht jedoch ein Gefühl der Angst und ein Feindbild, um sich zu seiner nationalen Identität zu besinnen und dafür zu kämpfen?

 

Obwohl hier die Tendenz zu erkennen ist, dass sich der Nationalismus durch den Konflikt in den beiden Ländern immer stärker durchgesetzt hat, bleibt immer noch zu klären welches Gefüge dahintersteht, der Menschen dazu bringen kann sich zu mögen, ohne sich zu kennen und gleichzeitig sich zu hassen, obwohl man sich kennt. Der Ethnologe Michael Herzfeld stellt hierfür die richtige Frage „Warum fügen sich Menschen dem Nationalismus und weshalb sind sie bereit für ihr Land zu sterben?“ (Herzfeld 1997, S. 6). Dabei stellt er zu Beginn an schon klar, dass es nicht der gewöhnliche Mensch ist, der den Nationalismus vorantreibt. Es ist eher eine elitäre Gruppe, die eine Situation in einer bestimmten Art und Weise darstellt, die das nationale Bewusstsein maßgeblich beeinflusst (Kuburas 2011, S. 45). Hier kommen wir zurück zu den zwei unterschiedlichen Perspektiven, die den Konflikt um Nagorno-Karabakh auf ganz unterschiedliche Art und Weise darstellt. Eine Nation mit ihrer Wahrnehmung vom selbst führt nämlich dazu, dass sich bestimmte Minderheitengruppen aus der Gesellschaft herausheben lassen (Herzfeld 1997, S. 77). Dieses Herausheben und Identifizieren einer Minderheitengruppe ist ein direkter Effekt von nationalistischen Strukturen, die in dem jeweiligen Land vorhanden sind. Nationalismus wiederum, besonders die Art, die Minderheiten im eigenen Land nicht akzeptiert, reproduziert diese Machtstrukturen. Diese versetzen die elitären Sprecher der Nation in die Lage, dass sie innenpolitische Auseinandersetzungen oder Probleme vor der internationalen Gesellschaft nicht eingestehen können (Herzfeld 1997, S. 92). Das Ergebnis dieser Tatsache ist, dass wenn es Schwierigkeiten und Probleme in der eigenen Gesellschaft gibt und die Bevölkerung mit dem Herrschaftssystem nicht zufrieden ist, meist ein Feindbild gesucht wird auf den diese Unzufriedenheit und dieser Hass gelenkt werden kann. Hierfür werden Narrative genutzt, um die territorialen Ansprüche in diesem Fall zu rechtfertigen und der eigenen Bevölkerung ein Ventil zu geben. Aserbaidschan benutzte das Narrativ, dass Armenien aserbaidschanisches Territorium besetzen würde nach dem ersten Krieg im Jahre 1991, in welchem Armenien die Region Nagorno-Karabakh dabei unterstütze sich von Aserbaidschan unabhängig zu machen (Hofmann 2020, S. 17).

Der Schutzmechanismus, entstanden durch den Konflikt um Nagorno-Karabakh zwischen Armenien und Aserbaidschan, zusammen mit dem Zerfall der Sowjetunion stießen somit die nationalistischen Bewegungen in beiden Ländern an. Diese entstandene nationale Identität wurde daraufhin instrumentalisiert, um eine Vereinigung der Gesellschaft hervorrufen zu können und somit die eigenen Territoriums-Ansprüche geltend zu machen. Dies hat zur Folge, dass Minderheiten in beiden Regionen identifiziert, entfremdet und aktiv verdrängt wurden (Hofman 2020, S. 17). Ein besonderes Merkmal hierfür ist die Stereotypisierung auf die besonders in Zusammenhang mit Aylislis Werk auf der nächsten Seite eingegangen wird.

 

Podcast Empfehlung

 

In der Folge „Konflikt um Arzach“ des Podcastes „Handipenk“ ist eine detailiertere Beschreibung, Erklärung und Kontextualisierung des Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien im Jahr 2020 zu finden.

Der Podcast wird gestaltet von mir und einer Freundin. Dieser behandelt grundsätzlich die Thematik der Armenischen Diaspora in Deutschland. Dieser startete jedoch kurz nach dem Krieg und behandelte deswegen in der ersten Folge vor allem die aktuelle Situation in Nagorno-Karabakh.

www.handipenk.de