Der „Stone Dreams“-Skandal

Die Kritik an dem Nationalismus in „Steinträume“

Die Veröffentlichung von Akram Aylislis Roman „Steinträume“ (engl. Stone Dreams, orig. Daş yuxular) stellte einen klaren Einschnitt in dieser Konfliktsituation dar. In seinem Werk wirft Aylisli maßgebliche Fragen in den Raum, die sich auf die nationale Identität Aserbaidschans und ihre Einstellung zu der armenischen Gesellschaft beziehen. Dabei spielt die Rahmenhandlung in den Jahren 1989/90 in denen Pogrome gegen die Armenier*innen in Baku stattfanden ein große Rolle. Das Buch gibt die Geschichte von dem Protagonisten Sadai Sadygly wieder. Einem aserbaidschanischen Schauspieler, der bei dem Versuch einem fast totgeprügelten Armenier zu helfen, selbst Opfer einer Gewalttat wird. Es beginnt mit seiner Einlieferung in ein Krankenhaus und beschreibt in den Kapiteln unterteilt verschiedene Etappen im Leben von Sadygly. Die Gesellschaft in Aserbaidschan befindet sich in einer schwierigen Situation, da die armenische Minderheit unterdrückt wird und fortlaufend Gewalttaten ausgesetzt ist. Auch im Mittelpunkt steht das Dorf Aylis, aus dem Sadygly stammt und von welchem er im Koma liegend träumt. 

 

Cover vom Buch „Steinträume“
Quelle: Aylisli Akram (2012) „Steinträume“

Das Dorf war ein Zeugnis für ein Zusammenleben von Aserbaidschaner*innen und Armenier*innen, ein Zusammenleben von muslimischem und christlichen Leben. Sadygly erinnert sich an seine Kindheit in dem Dorf, aber später auch an Begegnung, die er während seines Lebens gemacht hat. Sei es mit seinem Schwiegervater Professor Abassalijew oder dem Theaterdirektor Mopassan Miralamow. Dabei wird die Haltung Sadyglys zu den Geschehnissen in Aserbaidschan immer verdeutlicht. Dieser verurteilt die Einstellung zu der armenischen Kultur und zu den Armenier*innen und versucht gegen diese anzukämpfen.
Steinträume beschreibt das zerrüttete Verhältnis beider Nationen, aber kritisiert auch den Nationalismus im Land stark. Ganz besonders prägnant ist das aserbaidschanische Bild von den Armenier*innen, welches durch verschiedene Charaktere und ihre Aussagen gezeigt wird:

„Sadai Sadygly konnte auch ohne Brille die fett gedruckten und großzügig über den Text verteilten Wörter ‚undankbare‘, ‚tückische‘, ‚gefährlicher Feind‘…entziffern“
(Steinträume, S. 103)

Das Dorf Aylis in Nakhichevan, Aserbaidschan
Quelle: en.wikipedia.org/wiki/Yuxar%C4%B1_%C6%8Fylis#/media/File:Verin_Agulis-1900s.jpg

Ein Artikel, welcher von einem ehemaligen Freund von Sadygly veröffentlicht wurde, beschreibt die Eigenschaften, die den Armenier*innen zugeschrieben werden, um ein Feindbild zu kreieren. Dieses Feindbild sollte dann „systematische Ungerechtigkeiten“ legitimieren (Eriksen 2010, S. 31). Ein Beispiel hierfür sind die Worte der Frau von Sadygly, die aussagt, dass „die heutigen Armenier nicht viel besser sind als [die aserbaidschanischen] hirnlose[n] Schreihälse“ (Steinträume, S. 45). Der Vergleich, der angestellt wird und die Darstellung der Armenier*innen als gefährlich und undankbar sind Ergebnisse der staatlichen Bestrebungen bei der Bevölkerung die Besinnung zur eigenen Nation herzustellen, weshalb auch eine Grenze gezogen werden muss. Diese Grenzziehung resultiert in einer Form des „Othering“ und es entsteht ein Gefühl von einem „Wir“ und einem „Sie“. Als der Freund von Sadygly, Nuwarisch, ihn in das Krankenhaus bringt, sticht heraus, dass er einen Unterschied sieht zwischen Aserbaidschaner*innen und Armenier*innen:

„…dieser Mann ist kein Armenier, sage ich, er ist einer von uns, ein Sohn unseres Volkes…“ (Steinträume, S. 5)

 

Der Herkunftsgedanke steht somit im Vordergrund und hat meist auch einen Einfluss darauf wie man behandelt wird und wie die anderen Menschen sich um einen herum verhalten werden (Eriksen 2010, S. 28). Das Verhalten gegenüber Armenier*innen, welches Aylisli in seinem Buch beschreibt, ist zum Einen geprägt von Gewalttaten, die aus einem tiefen Hass entstanden sind, aber auch Gleichgültigkeit, welche der ständigen Legitimierung dieser Gewalttaten zuzuschreiben sein könnte (Eriksen 2010, S. 31). Während der Mann verprügelt wird, dem Sadygly geholfen hatte, stehen die Leute „abseits und schauen schweigend zu“ (Steinträume, S. 7). Gleichzeitig erinnert sich der Arzt von Sadygly daran, dass er erst vor Kurzem ein Mädchen behandelt hat, welche in einer U-Bahn Opfer eines Angriffs mehrere Aserbaidschanerinnen war, „die sich auf sie gestürzt hatten und [sie] vor den Augen Hunderter Menschen [zusammenschlugen]“ (Steinträume, S.11). Die Fülle der verschiedenen Fälle, die schon am Anfang des Buches beschrieben werden, deuten darauf hin, dass es keine einzelnen Situation gewesen sind und auch keine Seltenheit.

Besonders in nationalistischen Strukturen ist es notwendig eine Strategie gegenüber Minderheiten zu haben, die von der Politik vorangetrieben werden soll. Die Beschreibungen Aylislis zeigen, dass in diesem Kontext Macht auf die Minderheiten ausgeübt wird, welches zu Trennung der Minderheit von der dominierenden Gruppe führen soll und oft damit verbunden ist, dass die Minderheiten als minderwertig angesehen werden (Eriksen 2010, S. 129).
Die Abneigung gegenüber der Minderheit unterstützt letztendlich die Rückbesinnung auf die nationale Identität. Diese ist auch in den letzten Zeilen des Artikels von Sadyglys Freund zu erkennen, der sein Heimatland folgendermaßen beschreibt:

„Aserbaidschan ist ein Geschenk. Teurer als Blut, teurer als das Leben, unser wunderschönes Zuhause. Wer dafür nicht Blut und Leben lässt, ist ein ehrloser Lump und Feigling“ (Steinträume S. 104f.)           

Hierbei ist auch die Idee von Kameradschaft zu erkennen, welches ebenfalls ein Grund dafür sein kann, dass so viele Menschen dazu bereit sind für die Idee einer Nation zu sterben (Anderson 2006, S. 7). Gleichzeitig würde für die Nation zu sterben, welche man sich nicht ausgesucht hat, eine gewisse Art von Reinheit besitzen      (Anderson 2006, S. 144). Diese Strategie gegenüber Minderheiten, das geschaffene Feindbild und die Rückbesinnung auf die eigene nationale Identität sind, wie auch schon in Kapitel 2.2. beschrieben, ein Weg der Politik mit den eigenen innenpolitischen Problemen umzugehen und gleichzeitig erfolgreich Außenpolitik zu betreiben.

Um dies zu schaffen, müssen die vorhandenen Machtstrukturen zum einen legitimiert werden und zum anderen muss den Erfahrungen der Menschen in dem jeweiligen Land ein Sinn gegeben werden, damit diese bereit sind sich für die Nation zu opfern (Eriksen 2010, S. 135). Sadygly bekräftigt dies bei einer hitzigen Diskussion mit Mopassan am Ende nochmal:

„Man kann sich jede Schurkerei erlauben, am Ende werden doch die Armenier schuld sein“ (Steinträume, S. 107)

Die Konsequenz dieser Haltung und der politischen Bestrebungen beschreibt Sadygly schon zu Anfang: „Die einen hielten sich zu Hause verborgen, die anderen hatten Baku für immer verlassen“ (Steinträume, S. 11). Die Minderheit, in diesem Fall die Armenier*innen, hatten somit nur noch die Option das Land zu verlassen oder ihre Identität geheim zu halten und im verborgenen auszuleben. Die Zwangsabreise einer armenischen Frau aus ihrem Heimatdorf Aylis, zeigt auch nochmal die Verbundenheit, die sie trotz der Ausgrenzung zu dem Land hatten:

„Wenn du gesehen hättest, in welchem Zustand sie war, als sie abfuhr! Sie konnte sich einfach nicht von ihrem Haus trennen, von ihrem Hof. […] ganz zuletzt kam sie her, stand hier und schluchzte vor diesen Zitronenbäumen, als verlasse sie keine Pflanzen, sondern sieben eigene Kinder. Seither schaue ich nach ihrem Haus.“ (Steinträume, S. 63)

Besonders die emotionale Darstellung dieser Passage, weckt das Mitgefühl der Leser*innen und zeigt auch Aylislis Verbundenheit mit dem Leid der Armenier*innen, die in Aserbaidschan lebten.

Artikelüberschrift der britischen Zeitung „Independent“ aus dem Jahr 2013
Quelle: www.independent.co.uk/arts-entertainment/books/news/bring-me-ear-akram-aylisli-politician-offers-ps8-000-attack-writer-8492268.html

Der Skandal, der folgte

 

Aylisli schrieb dieses Werk schon im Jahre 2007, doch ohne wirkliche Intention das Buch tatsächlich zu veröffentlichen (Steinträume, S. 133). Ein ausschlaggebendes Ereignis änderte jedoch seine Meinung. Ramil Safarow, ein aserbaidschanischer Offizier, enthauptete im Jahre 2004 bei einem Nato-Lehrgang in Budapest einen armenischen Soldaten mit einer Axt und wurde verurteilt. Als dieser jedoch acht Jahre später Aserbaidschan überstellt wurde, begnadigte und feierte man ihn als Nationalhelden (RP Online 2012). Akram Aylisli beschloss daraufhin das Buch noch im selben Jahr zu veröffentlichen, wobei er jedoch betonte, dass dies nicht der Hauptgrund für die Veröffentlichung war, sondern eher die Politik, die dahinter stecken würde (Burtin 2014, S. 76). Als Folge von der Veröffentlichung wurden ihm jegliche Preise und Titel in Aserbaidschan aberkannt, seine Werke in Bibliotheken verboten und Politiker äußerten sich negativ über ihn und das Buch (Steinträume, 134f.). Auch seine Frau und sein Sohn haben dadurch die Arbeitsstelle im Land verloren (Ismayil 2014, S. 69).

Die Intention mit welcher er das Buch veröffentlicht hatte war darauf zurückzuführen, dass er die beiden Nationen miteinander vereinen wollte (Burtin 2014, S. 72). Sein größter Kritikpunkt war die nationalistische Denkweise, die er in Aserbaidschan bemerkt hatte (Steinträume, S. 134). Dabei sprach er sich für keine Seite aus, sondern bedauert eher das zerrüttete Verhältnis beider Nationen (Ismayil 2014, S. 66). Besonders seine Meinung darüber, dass nicht die Bevölkerung für dieses Verhältnis als schuldig gesehen werden darf, sondern eher die Regierung, spiegelt die Grundidee von Nationalismus wieder. Er bestärkt nochmal die Theorie, dass es bei einer Kompromissbildung zu einem Machtverlust der Präsidenten auf beiden Seiten kommen würde und das der eigentliche Grund für die weiter andauernde Konfliktsituation wäre anstatt nur das Territorium an sich (Burtin 2014, S. 74).

Dieser Konflikt sei nämlich nicht bloß einseitig zu betrachten, obwohl Aylisli in seinem Werk natürlich nur die eigene Sichtweise in seinem Heimatland Aserbaidschan darstellen kann und sich deshalb diese Ausarbeitung darauf bezieht. Der nationalistische Grundgedanke und damit auch die Stereotypisierung sind auf beiden Seiten vorhanden. Eine der Kritiken zu diesem Werk war auch die fehlende Darstellung der Gewalttaten armenischer Bürger*innen gegenüber Aserbaidschaner*innen in Khojaly im Februar 1992 (Mamedov 2015, S. 47). Sein Werk konnte jedoch auch einen Beitrag dazu leisten die Vorurteile auf der armenischen Seite zu entkräften (Sanamyan 2014, S. 62). Das Resultat der Veröffentlichung und die Darstellung der Erlebnisse Aylislis zeigen jedoch welche Ausmaße ein von der Politik vorangetriebener Nationalismus annehmen kann und welche Folgen auch nur der Versuch einer Annäherung für ein einzelnes Individuum bedeuten kann.