Die Auseinandersetzung mit Geschlecht im schulischen Kontext ist geprägt von einem Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Zuschreibung. Die theoretischen Ansätze der Ringvorlesung verdeutlichen, dass Geschlecht in der Schule nicht einfach gegeben ist, sondern sowohl performativ hergestellt („doing gender“) als auch institutionell zugeschrieben wird (vgl. Draxler 1988; Faulstich-Wieland 2019). Gender zeigt sich damit als soziale Konstruktion, die auf familiären, gesellschaftlichen und schulischen Diskursen beruht – mit weitreichenden Folgen für pädagogisches Handeln und Bildungsgerechtigkeit.
Auf der einen Seite erleben Kinder und Jugendliche sich selbst als aktiv Handelnde, die Geschlecht inszenieren – etwa durch Kleidung, Hobbys oder Sprechverhalten. Auf der anderen Seite werden ihnen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben: Mädchen gelten als „ruhig, diszipliniert und angepasst“, Jungen hingegen als „leistungsunwillig, laut oder cool“ (vgl. Stalmann 1991; Schnack & Neutzling 1990). Solche Zuschreibungen finden nicht nur im Alltagsdiskurs statt, sondern werden auch im schulischen Raum durch Lehrer*innenhandeln, Unterrichtsmaterialien oder Leistungsbewertungen stabilisiert oder infrage gestellt (vgl. Faulstich-Wieland 1995; Flaake 1990). Besonders problematisch ist, wenn diese Zuschreibungen naturalisiert werden und so pädagogisches Handeln beeinflussen – etwa durch selektive Aufmerksamkeitsverteilung (Gildemeister 2009) oder stereotype Rollenerwartungen.
In meiner eigenen Schulzeit erinnere ich mich an eine Deutschlehrerin, die literarische Themen mit Blick auf „typische Mädchenerfahrungen“ auswählte und männliche Schüler regelmäßig als „lesefaul“ abstempelte. In einem Praktikum an einer inklusiven Oberschule beobachtete ich, wie ein Schüler mit Unterstützungsbedarf im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung durch sein „lautstarkes Auftreten“ auffiel – was von Lehrkräften stereotyp als „typisch männlich“ bewertet wurde. Gleichzeitig wurde seine sprachliche Unsicherheit (nichtdeutsche Erstsprache, bildungsferner Hintergrund) kaum berücksichtigt. Dieses Beispiel macht deutlich, wie Gender mit anderen Differenzlinien – etwa Sprache und sozioökonomischer Herkunft – verwoben ist. In der intersektionalen Perspektive (vgl. Walgenbach 2016) zeigen sich hier doppelte Benachteiligungen: Der Schüler wurde aufgrund seines Geschlechts und seiner Herkunft in seiner schulischen Teilhabe limitiert.
Für mein nächstes Praktikum würde ich folgende Beobachtungsaufgabe formulieren: In welchen Situationen werden im Unterricht geschlechtsspezifische Erwartungen an Schülerinnen sichtbar? Welche Rolle spielen dabei andere Heterogenitätsmerkmale wie Sprache, Inklusion oder soziale Herkunft? Ziel dieser Aufgabe ist es, Geschlecht nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines komplexen Geflechts von Differenzkategorien zu analysieren. Gerade im inklusiven Kontext erscheint es zentral, gendersensible Pädagogik intersektional weiterzudenken und Handlungsspielräume jenseits normativer Erwartungen zu eröffnen.
Gendersensible Pädagogik bedeutet daher nicht, Unterschiede zu ignorieren, sondern sie reflektiert wahrzunehmen – ohne sie vorschnell zu bewerten. Reflexive Koedukation, wie sie Faulstich-Wieland (2019) vorschlägt, bietet hierfür einen Ansatz: Sie fordert Lehrkräfte auf, das eigene Handeln im Hinblick auf geschlechterbezogene Zuschreibungen zu hinterfragen und pädagogisch produktiv mit Vielfalt umzugehen. In einer Schule, die auf Inklusion zielt, muss auch die Kategorie Geschlecht immer wieder neu und differenziert verhandelt werden – nicht zuletzt, um alle Schüler*innen in ihrer Individualität wahrzunehmen und zu stärken.
Literatur:
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Draxler, H. (1988). Geschlechtszugehörigkeit als pädagogisches Problem. In: Zeitschrift für Pädagogik 34(1), S. 95–103.
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Faulstich-Wieland, H. (2019). Reflexive Koedukation – Ein gendersensibler Ansatz für Schule und Unterricht. In: Zeitschrift für Pädagogik 65(1), S. 7–25.
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Flaake, E. (1990). Mütterlichkeit als Beruf. Zur Beziehungsgestaltung von Lehrerinnen. Weinheim: Juventa.
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Gildemeister, R. (2009). Doing Gender – zur Konstruktion von Geschlecht in der Schule. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung, 3(2), S. 133–146.
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Schnack, H. & Neutzling, R. (1990). Der Herr der Dinge friert auf der Sonnenseite des Lebens. Reinbek: Rowohlt.
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Walgenbach, K. (2016). Intersektionalität als Analyseperspektive für Schule und Bildungsprozesse. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 85(3), S. 211–224.
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