Gender in der Schule 28.04.2025

Die Auseinandersetzung mit Geschlecht im schulischen Kontext ist geprägt von einem Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Zuschreibung. Die theoretischen Ansätze der Ringvorlesung verdeutlichen, dass Geschlecht in der Schule nicht einfach gegeben ist, sondern sowohl performativ hergestellt („doing gender“) als auch institutionell zugeschrieben wird (vgl. Draxler 1988; Faulstich-Wieland 2019). Gender zeigt sich damit als soziale Konstruktion, die auf familiären, gesellschaftlichen und schulischen Diskursen beruht – mit weitreichenden Folgen für pädagogisches Handeln und Bildungsgerechtigkeit.

Auf der einen Seite erleben Kinder und Jugendliche sich selbst als aktiv Handelnde, die Geschlecht inszenieren – etwa durch Kleidung, Hobbys oder Sprechverhalten. Auf der anderen Seite werden ihnen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben: Mädchen gelten als „ruhig, diszipliniert und angepasst“, Jungen hingegen als „leistungsunwillig, laut oder cool“ (vgl. Stalmann 1991; Schnack & Neutzling 1990). Solche Zuschreibungen finden nicht nur im Alltagsdiskurs statt, sondern werden auch im schulischen Raum durch Lehrer*innenhandeln, Unterrichtsmaterialien oder Leistungsbewertungen stabilisiert oder infrage gestellt (vgl. Faulstich-Wieland 1995; Flaake 1990). Besonders problematisch ist, wenn diese Zuschreibungen naturalisiert werden und so pädagogisches Handeln beeinflussen – etwa durch selektive Aufmerksamkeitsverteilung (Gildemeister 2009) oder stereotype Rollenerwartungen.

In meiner eigenen Schulzeit erinnere ich mich an eine Deutschlehrerin, die literarische Themen mit Blick auf „typische Mädchenerfahrungen“ auswählte und männliche Schüler regelmäßig als „lesefaul“ abstempelte. In einem Praktikum an einer inklusiven Oberschule beobachtete ich, wie ein Schüler mit Unterstützungsbedarf im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung durch sein „lautstarkes Auftreten“ auffiel – was von Lehrkräften stereotyp als „typisch männlich“ bewertet wurde. Gleichzeitig wurde seine sprachliche Unsicherheit (nichtdeutsche Erstsprache, bildungsferner Hintergrund) kaum berücksichtigt. Dieses Beispiel macht deutlich, wie Gender mit anderen Differenzlinien – etwa Sprache und sozioökonomischer Herkunft – verwoben ist. In der intersektionalen Perspektive (vgl. Walgenbach 2016) zeigen sich hier doppelte Benachteiligungen: Der Schüler wurde aufgrund seines Geschlechts und seiner Herkunft in seiner schulischen Teilhabe limitiert.

Für mein nächstes Praktikum würde ich folgende Beobachtungsaufgabe formulieren: In welchen Situationen werden im Unterricht geschlechtsspezifische Erwartungen an Schülerinnen sichtbar? Welche Rolle spielen dabei andere Heterogenitätsmerkmale wie Sprache, Inklusion oder soziale Herkunft? Ziel dieser Aufgabe ist es, Geschlecht nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines komplexen Geflechts von Differenzkategorien zu analysieren. Gerade im inklusiven Kontext erscheint es zentral, gendersensible Pädagogik intersektional weiterzudenken und Handlungsspielräume jenseits normativer Erwartungen zu eröffnen.

Gendersensible Pädagogik bedeutet daher nicht, Unterschiede zu ignorieren, sondern sie reflektiert wahrzunehmen – ohne sie vorschnell zu bewerten. Reflexive Koedukation, wie sie Faulstich-Wieland (2019) vorschlägt, bietet hierfür einen Ansatz: Sie fordert Lehrkräfte auf, das eigene Handeln im Hinblick auf geschlechterbezogene Zuschreibungen zu hinterfragen und pädagogisch produktiv mit Vielfalt umzugehen. In einer Schule, die auf Inklusion zielt, muss auch die Kategorie Geschlecht immer wieder neu und differenziert verhandelt werden – nicht zuletzt, um alle Schüler*innen in ihrer Individualität wahrzunehmen und zu stärken.

Literatur:

  • Draxler, H. (1988). Geschlechtszugehörigkeit als pädagogisches Problem. In: Zeitschrift für Pädagogik 34(1), S. 95–103.

  • Faulstich-Wieland, H. (2019). Reflexive Koedukation – Ein gendersensibler Ansatz für Schule und Unterricht. In: Zeitschrift für Pädagogik 65(1), S. 7–25.

  • Flaake, E. (1990). Mütterlichkeit als Beruf. Zur Beziehungsgestaltung von Lehrerinnen. Weinheim: Juventa.

  • Gildemeister, R. (2009). Doing Gender – zur Konstruktion von Geschlecht in der Schule. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung, 3(2), S. 133–146.

  • Schnack, H. & Neutzling, R. (1990). Der Herr der Dinge friert auf der Sonnenseite des Lebens. Reinbek: Rowohlt.

  • Walgenbach, K. (2016). Intersektionalität als Analyseperspektive für Schule und Bildungsprozesse. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 85(3), S. 211–224.

Kommentare

3 Antworten zu „Gender in der Schule 28.04.2025“

  1. Avatar von Julien Schnick
    Julien Schnick

    Dein Beitrag liefert eine präzise Analyse der Geschlechterzuschreibungen im schulischen Kontext und hebt vertiefend hervor, wie tief verankert stereotype Erwartungen im pädagogischen Alltag wirken – insbesondere durch implizite Bewertungen und Interaktionen von Lehrkräften. Auch finde ich deine Verknüpfung von performativen (Doing Gender) und institutionellen Perspektiven von Geschlecht sowie deine reflektierte Praxisbeobachtung aus dem Schulpraktikum, die eindrücklich zeigt, wie intersektionale Differenzlinien ineinandergreifen, sehr gelungen.
    Ein Aspekt, den du bereits andeutest, aber der meines Erachtens noch stärker vertieft werden könnte, ist die Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Zusammenspiel von Geschlecht und Schulerfolg. Deine Schilderung verweist bereits auf eine doppelte Benachteiligung eines Schülers aufgrund von Geschlecht, Sprache und Herkunft. Diese Beobachtung zeigt eindrücklich, dass Schule nicht nur individuelle Bildungsbiografien strukturiert, also sie hat einen enormen Einfluss auf den zukünftigen Bildungsweg von Lernenden.
    Bsp.: Ein Kind mit sprachlichen Unsicherheiten (z. B. wegen Mehrsprachigkeit oder bildungsfernem Elternhaus) bekommt oft schlechtere Noten – obwohl die intellektuellen Fähigkeiten durchaus vorhanden sind. Das beeinflusst den weiteren Bildungsweg (Hauptschule statt Gymnasium) – und damit langfristig Berufschancen, Einkommen und gesellschaftliche Teilhabe.
    Zugleich verstärkt sie gesellschaftliche Selektionsmechanismen. Sie teilt also Schüler*innen nach bestimmten Kriterien auf, zum Beispiel wer ist „gut“ und wer „schlecht“ (vgl. Hurrelmann, 2010, S. 38 f.). Gerade Jungen aus bildungsbenachteiligten Milieus zählen zu den „Bildungsverlierern“, weil sie häufig mit standardisierten Leistungs- und Verhaltensanforderungen kollidieren. Auch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder von Eltern mit eine. „niedrigen sozio-ökonomische[n] Status“ später ein Gymnasium besuchen geringer als für Kinder mit Eltern aus einem „höheren sozio-ökonomischen Status“ (vgl. Hurrelmann 2010, S. 41).
    Hier zeigt sich, dass Geschlecht nicht isoliert betrachtet werden kann – ein Gedanke, den du sehr passend mit Bezug auf Walgenbach (2016) im Sinne einer intersektionalen Perspektive aufgreifst. Diese Einsicht ist besonders relevant, wenn man berücksichtigt, dass schulische Praktiken nicht nur Unterschiede abbilden, sondern auch hervorbringen (vgl. Budde, 2017, S. 13). Fantini (2020) zeigte auch, dass Jungen schon im Grundschulalter das Bild männlicher Bildungsferne verinnerlichen, was auf stereotype Lehrer*innenerwartungen und ein pädagogisches Feld verweist, in dem Männlichkeit häufig mit bspw. Disziplinproblemen, Unselbstständigkeit oder geringer Lesekompetenz assoziiert wird.
    Es zeigt sich, dass Geschlecht als Differenzkategorie nicht nur analytisch, sondern auch normativ wirksam ist, weil sie die schulische Wahrnehmung tiefgreifend strukturiert – sei es in der Bewertung von Sozialverhalten, Leistung oder Interaktion (vgl. Thon, 2017, S. 81 f.). In deiner Reflexion wird deutlich, dass gendersensible Pädagogik hier ansetzen muss: Nicht durch eine additive Thematisierung von Gender, sondern durch eine grundsätzliche Infragestellung normierender Strukturen und normalisierten Rollenerwartungen im Unterricht.

    Literatur:

    
Budde, J. (2017). Heterogenität: Entstehung, Begriff, Abgrenzung. In Bohl, T., Budde, J. & Rieger-Ladich, M. (Hrsg.), Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht (S. 13–26). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    
Fantini, C. (2020). Männlichkeitsentwürfe in widersprüchlichen Verhältnissen – das Beispiel Grundschule. Universität Bremen.


    Hurrelmann, K. (2010). Bildungsverlierer. Neue Ungleichheit. Weinheim: Beltz Juventa.


    Thon, C. (2017). Kategorie Geschlecht. In: Bohl, T., Budde, J. & Rieger-Ladich, M. (Hrsg.), Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht (S. 77–91). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    
Walgenbach, K. (2016). Intersektionalität und Bildung. In: Walgenbach, K. et al. (Hrsg.), Diversität und Intersektionalität(S. 85–102). Wiesbaden: Springer

  2. Avatar von Bensu
    Bensu

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    Bensu

    1. Avatar von Luca
      Luca

      Vielen Dank für den Hinweis!
      Die verwendete Literatur steht nun auch im Verzeichnis.

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