Beobachtungsprotokoll

Datum: 10.12.2021

Dauer: 14:30 – 15:10 Uhr

Ort: Zug (Bremen Hbf -> Hamburg Hbf)

Ich nehme im Zug auf einem Sitz am Ende des Abteils platz, damit ich einen halbwegs guten Standort habe, um zu beobachten, was hier vor sich geht. Links von mir sitzt eine Frau mit Dutt und grauem Pullover mit einem Kleinkind in einem 4-er.

Es ertönt ein rauschendes Geräusch. Kurz darauf rollt der Zug los. Ich sitze entgegen der Fahrtrichtung. Eine Durchsage ertönt. Die Fahrgäste werden begrüßt und das Endziel der Fahrt wird genannt. Der nächste Halt sei Rotenburg. Das Kind links von mir trägt einen blauen Ganzkörperanzug. Die Frau und das Kind unterhalten sich auf einer Sprache, die ich nicht verstehe und essen Chips. Ansonsten ist das Abteil recht leer. Nur sechs weitere Menschen kann ich sehen, wenn ich aufstehe. 

Ich blicke mich um und mir fällt ein Schild auf, auf welchem steht, dass ich im Ruhe-Abteil gelandet bin. Außerdem bemerke ich auf der Gepäckablage links von mir einen vollgepackten Kinderwagen. Darauf liegen Tüten, Jacken und ein kleiner Rucksack auf welchem ein Rennwagen abgebildet ist. Das Kind links von mir isst gerade einen süßlich riechenden Snack. Ich sehe einen grünen Drops in seiner Hand.

Die Geräusche, die der Zug beim Fahren erzeugt werden plötzlich lauter. Wenn ich mich nach hinten umdrehe kann ich die Tür sehen, die unseres vom nächsten Abteil trennt. In diesem Moment ist sie gerade offen und ich sehe eine Person mit schwarzer Jacke verschwinden.

Das Kind beginnt zu quengeln und hängt sich an das Beim der Frau. Vermutliche um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie ist am Handy und klingt verärgert. Als das Kind jetzt beginnt mit den Lippen zu blubbern gibt die Frau ihm erst einen leichten Klaps gegen die Schulter, dann auf das Gesicht. Als ich der Frau direkt ins Gesicht blicke, hört sie auf und nimmt das nun weinende Kind auf ihren Schoß. Sie wiegt es hin und her woraufhin es sich schnell wieder beruhigt. Ich bin erschrocken von dem, was ich gerade beobachtet habe, weiß aber auch nicht, ob ich mich einmischen sollte.

Ein Güterzug brettert in entgegengesetzter Fahrtrichtung lautstark an uns vorbei. Die Frau legt das Kind auf die ihr gegenüberliegenden Sitze und deckt es mit ihrer Jacke zu. Kurz darauf steht es auf und beginnt auf den Sitzen herumzuklettern. Erst schaut die Frau minutenlang teilnahmslos zu, doch dann schnappt sie das Kind grob am Arm und zieht es runter. Jetzt beginnt das Kind wieder zu weinen, bis es wieder auf den Arm der Frau darf und sie es wiegt bis es an ihre Schulter gelehnt einschläft. 

 

Die Frau und das Kind waren tatsächlich während der Stunde die einzigen beiden Menschen in meinem näheren Umfeld, die ich gut beobachten konnte. Dies, aber auch das Verhalten der Frau hat dazu geführt, dass meine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den beiden lag. Da mein Nebenfach Erziehungs- und Bildungswissenschaften ist war die Situation natürlich auch mit dem Blick auf den Erziehungsaspekt interessant zu beobachten. Tatsächlich habe ich mich dabei aber wirklich sehr unwohl gefühlt und die Situation hat mich zum Nachdenken bewegt. Meine Mitbewohnerin liest gerade das Buch „Alles über Liebe“ von Bell Hooks und gerade vorgestern hat sie mir erzählt, worum es darin geht. Die Autorin hat eine sehr interessante Ansicht zu dem Thema Liebeslektionen in der Kindheit. Sie sagt, dass Fürsorge und Bestätigung, (das Gegenteil von Misshandlung und Demütigung) die Grundlage der Liebe bilden würden und folgert daraus, dass Eltern ihre Kinder, wenn sie diese vernachlässigen oder misshandeln gar nicht lieben können. Auch wenn es sehr viele Eltern gebe, die ihre Kindern schlagen oder kneifen und trotzdem sagen würden, dass sie sie lieben und die Misshandlungen damit „rechtfertigen“ zu sagen, es sei nur die letzte Instanz, wenn das Kind nicht höre oder aber nur zum „Besten des Kindes“ etc. Noch lange Zeit nachdem die Frau und das Kind den Zug verlassen hatten, habe ich über die Situation nachgedacht und mich gefragt, was die Frau wohl sagen würde, wenn sie mit dem Thema konfrontiert werden würde. 

Alles in allem war das eine sehr merkwürdige Zugfahrt und dass ich dieses Beobachtungs-protokoll geschrieben habe hat doch tatsächlich dazu beigetragen, dass ich mich gedanklich stärker mit dem Gesehenen auseinandergesetzt habe, anstatt vielleicht einfach nur kurz schockiert zu sein und die Situation am übernächsten Tag direkt wieder zu vergessen.

Ein Kommentar

  1. Liebe Friederike,
    das ist ein sehr spannendes Beobachtungsprotokoll, was natürlich auch der leider sehr unangenehmen Situation geschuldet bist, in der du warst. Du hast diese und die beteiligten Personen aber sehr gut beschrieben und deine Gefühle und Beobachtungen gut reflektiert. Mit der Zuschreibung des Genders der „Frau“ würde ich vorsichtig sein. Vielleicht kannst du da einfach schreiben, dass du diese als solche liest.
    Ansonsten viel Spaß und Erfolg bei deiner Beobachtung fürs Seminar!

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