Es ist der 16.01.2022, ein kühler, früher Winterabend. Ich stehe vor der Fronfassade des Bremer Theaters am Goetheplatz, wo ich mich soeben mit fünf meiner Kolleginnen getroffen habe. Wir haben uns verabredet, um uns gemeinsam die Schauspielproduktion „All das Schöne“ anzusehen. Jede von uns ist als Aushilfe des Abendpersonals am Theater Bremen eingestellt, weshalb wir gut mit dem Haus vertraut sind. Dennoch beeindruckt mich der Moment, als wir das Theater durch die großen Türen des Hauptportals betreten. Als Mitarbeiterin nutze ich normalerweise einen anderen, wesentlich unscheinbareren Eingang.

Nach einem kurzen Check-In stehen wir schließlich im Foyer des Theaters. Es ist circa 17.30 Uhr als, also eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn. Schon jetzt herrscht hier reges Treiben. Menschen unterschiedlichsten Alters tummeln sich auf den Gängen, steigen die Treppen auf und ab, geben ihre Garderoben ab und unterhalten sich. Während auch wir ein wenig durchs Theater laufen und uns mit einigen unserer arbeitenden Kolleginnen unterhalten, versuche ich die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Ich finde, dass die Stimmung gewissermaßen aufgeladen ist, eine Art gespannte Vorfreude im Raum liegt, Vorfreude auf die Geschichte, die man sogleich auf der Bühne erleben wird. Dass es aufgrund der Pandemie noch immer Einschränkungen gibt, sodass die Zuschauerkapazität nur zur Hälfte ausgereizt werden kann und keine Gastronomie mit klassischen Sektgläschen angeboten werden kann, tut dem Feeling meiner Meinung nach keinen Abbruch.

Um 17.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Vorstellungsbeginn, werden die Saaltüren geöffnet und die ersten Menschen beginnen, in den Theatersaal zu strömen. Wir lassen uns noch ein wenig Zeit, begeben uns aber schließlich auch zu unseren Plätzen. Auch hier greifen wieder die Corona-Maßnahmen, sodass wir nicht alle sechs nebeneinandersitzen können, sondern jeweils in Zweiergruppen. Während wir uns den Weg zu unseren Plätzen bahnen, lasse ich den Bremer Theatersaal, mit seinen hohen, architektonisch modernen Wänden, auf mich wirken. Bei einem Blick in die Reihen, stelle ich zudem erfreut fest, dass die Hälfte der Sitzplätze, die verkauft werden durfte, gut besetzt zu sein scheint.

Nun fällt mir etwas sehr Interessantes auf. Die Hauptdarstellerin des Stücks (in diesem Falle auch die einzige Darstellerin auf der Bühne) befindet sich bereits im Raum und unterhält sich ganz beiläufig mit einigen Zuschauer*innen. Ich habe von meinen Kolleginnen bereits erfahren, dass es sich bei „All das Schöne“ um ein sehr interaktives Stück handelt, so viel Interaktion bereits vor Stückbeginn überrascht mich aber doch. Als schließlich das erste Klingelzeichen ertönt, das fünf Minuten bis zum Vorstellungsbeginn ankündigt, füllt sich der Saal weiter und die Schauspielerin beginnt nun kleine Karten an das Publikum zu verteilen, auf denen jeweils eine Nummer und ein Begriff bzw. eine Wortgruppe stehen. Auch wir lassen uns eine Karte geben. Die Schauspielerin begibt sich schließlich zur leeren Bühne, auf der sich keinerlei Bühnenbild befindet, und nimmt auf deren Rand Platz. Die Vorstellung beginnt. Es wird dabei nicht wirklich dunkel im Saal, die Lichter werden lediglich gedimmt, was dafür sorgt, dass ein klarer Übergang zum Beginn des Stückes wegfällt. Die Grenzen zwischen Realität und erzählter Geschichte verschwimmen, ein Effekt, mit dem die Produktion die ganze Zeit über spielen wird.

Kurz zusammengefasst geht es in „All das Schöne“ um eine junge Frau, die als Kind den Suizidversuch ihrer Mutter miterlebte und als Reaktion darauf begann, eine Liste aller Dinge zu verfassen, die das Leben schön machen. Auch als erwachsene Frau, die nun selber mit Depressionen zu kämpfen hat, führt sie die Liste weiter und findet darin neue Kraft und Lebensfreude. „All das Schöne“ ist wohl der Inbegriff eines Theaterstückes, das nur in Präsenz funktionieren kann. Das Publikum wird nicht nur in das Stück eingebunden, sondern ist Teil der Geschichte. Die Begriffe, die am Anfang an die Zuschauer*innen verteilt wurden, sind Punkte auf der Liste der Protagonistin. Sobald sie eine der Nummern auf den Karten sagt, ist die Person im Besitz der jeweiligen Karte aufgefordert, den zugehörigen Begriff laut zu rufen. Dies erfordert Konzentration und Involviertheit des Publikums und funktioniert überraschend gut. Ich habe die Nummer 853 auf meiner Karte stehen und darf den Begriff „Nacktbaden“ rufen. 🙂

Auch fordert die Schauspielerin einige Zuschauer*innen auf, kleine Rollen zu übernehmen und dabei einfach zu improvisieren. So stellt zum Beispiel ein junger Mann den Freund der Protagonistin da, ein anderer ihren Vater. Hier entsteht kurzzeitig eine unangenehme Situation, als der erste Mann, den sie bittet, ihren Vater zu spielen, seine Abgeneigtheit kundtut schließlich aufgebracht den Saal verlässt. Als man kurz die Betroffenheit der Schauspielerin spürt, eilt ihr blitzschnell ein anderer Mann zur Hilfe, der sich ganz ohne Aufforderung zur Bühne begibt und die Rolle des Vaters übernimmt. Natürlich erntet er dafür schallenden Szenenapplaus und Jubelrufe. Ich denke mir in diesem Moment, dass es doch genau das ist, was Präsenztheater ausmacht. Dass nichts jemals wirklich geplant werden kann, jede Vorstellung irgendwie anders und besonders ist.

Das Stück endet mit einer Szene, in der die Protagonistin ein Lied hört, das für sie mit besonders starken Emotionen verknüpft ist. Drei Minuten lang hören wir nur dieses Lied und sehen die Schauspielerin auf der leeren Bühne sitzen. Nichts Weiteres passiert. Zum ersten Mal seit Stückbeginn wird es dabei im Saal wirklich dunkel. All das ist so einfach, aber doch so effektiv, so ergreifend. Der tosende Applaus nach Stückende macht dies deutlich. Es kommt zur Standing Ovation. Der Darstellerin, ich erfahre später, dass ihr Name Susanne Schrader ist, sind Freude und Berührung ins Gesicht geschrieben. Dazu muss gesagt werden, dass es sich auch um die letzte Aufführung, um die Dernière des Stückes handelt. Es ist also ein besonders emotionaler Moment für alle Beteiligten. Nun hier zu stehen, umgeben von glücklichen Zuschauer*innen, die ergriffene Darstellerin zu sehen, ist für mich etwas, das das Präsenztheater ausmacht. Ich kenne keinen anderen Ort, keine andere Kunstform, die Momente wie diese mit sich bringt.

Als wir den Saal schließlich verlassen bin ich glücklich, dankbar, diese Erfahrung gemacht haben zu dürfen. Und als ich mich umsehe und all die glücklich wirkenden Menschen sehe, die sich angeregt über das eben Erlebte unterhalten, denke ich mir: das ist Theater! Und ich hoffe, dass es langfristig möglich sein wird, dieses in seiner vollen Pracht zu erleben.