Der Blick aus dem eigenen Fenster – (Weg)sehen in der Nachbarschaft

Von Isabella Prasch.

 

In einer hektischen Welt wohnen Fremde in einem Haus gemeinsam. Im wachsenden urbanen Raum entfremden sich diejenigen, die sich eigentlich am nächsten sind. „Aus dem Auge, aus dem Sinn“ wird dann zur Realität. Doch wie lange darf man wegschauen? Eine Nachbarschaft bewegt sich zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Themen dieses Verhältnisses sind auch häusliche Gewalt und die Frage nach Zivilcourage.

Das Konzept von Nachbar*innen kann einem manchmal doch recht seltsam vorkommen. Es ist jener Blick aus dem Fenster in ein Wohnzimmer, in ein Schlafzimmer oder der erahnende Blick durch eine mattierte Glasscheibe eines Badezimmers. Vielleicht liegt der Kopf einer anderen schlafenden Person – durch eine Wand getrennt – nur Zentimeter entfernt und doch ist man sich fremd. Manchmal begegnen sich zwei diskrete Augenpaare. Beide fühlen sich ertappt in dem Moment des unaufdringlichen Beobachtens. Und trotzdem bleibt jede*r für sich unwissend vom Leben der Anderen. Oder wissen wir manchmal mehr, als wir glauben?

Laut Bernd Hamm definiert sich Nachbarschaft nicht über die Personen; allein die Wohnungen machen uns zu Nachbar*innen. Die Personen sind somit auswechselbar (2000: 174). Dabei unterscheidet er das nachbarschaftliche Verhalten in verschiedene Ebenen der Verpflichtung: „Muss- Soll und Kann-Erwartungen“ (2000: 175). „Muss- und Soll“ beschreibt dabei das Einhalten von grundlegenden, allgemein bekannten Umgangsformen. Weiter schreibt Hamm von „Kann-Erwartungen“. Für ihn sind solche Erwartungen von größerer Relevanz. Diese meinen das bewusste Distanzhalten: „[…] nicht einmischen, nicht neugierig sein“ (Hamm 2000: 175).

Doch was lässt sich eigentlich unter der von Hamm aufgegriffenen Distanz verstehen? Distanz ist kein universelles oder natürliches Konzept, sondern ist kulturell definiert (Lamnek 2003: 42). Lamnek betont, dass das Bedürfnis nach Distanz gesellschaftlich stark variiert. Die Vorstellung von Privatheit ist eng mit dem Gefühl von Scham verbunden. „Scham […] ist ein spezifisches Element von Privatheit, das die Öffnung des Privaten nach außen verhindern soll“ (Lamnek 2003: 45). So dient das individuell empfundene Schamgefühl als eine Art Regulation im Austausch mit sich selbst und anderen (Lamnek 2003: 45). Scham fungiert hier als eine soziale Grenze. Sich beobachtet zu fühlen, führt zu einer Verhaltensänderung.

Erst im 18. und 19. Jahrhundert mit der Entwicklung des modernen Individualismus verstärkt sich das Bedürfnis nach Privatheit (Lamnek 2003: 46). „[Die] Entblößung des Innersten [wird] kritisch bewertet“ (Lamnek 2003: 46; zit. nach Lehnert 1999: 21). Die Angst, beobachtet zu werden, wächst. Diese Entwicklung spiegelt sich sowohl in der Architektur der Moderne als auch in der Entwicklung der Wohnbereiche wider; vom gesellschaftlichen Salon bis hin zum intimen Wohnzimmer (Lamnek 2003: 46-47).

Für manche ist aber nicht das Beobachten durch Fremde eine Gefahr, sondern der eigentlich geschützte, private Raum. Auch für Außenstehende des privaten Raumes kann das gesellschaftliche Gebot des Distanzhaltens ein Irrglaube sein. Wie handelt man, wenn ein Schreien aus der benachbarten Wohnung dringt? Stellt nicht etwa das Thema der häuslichen Gewalt die Auffassung von Privatheit vor neuen Fragen? Wann fängt Zivilcourage an?

Der Mord an Kitty Genovese 1964 in New York zeigt, was passiert, wenn die Masse wegschaut. Ein Mann sticht am frühen Morgen mehrmals auf Kitty Genovese vor ihrem New Yorker Apartment ein. Obwohl sie laut Berichten um Hilfe schreit, greift zunächst niemand ein. Der Täter flieht zunächst, kehrt jedoch zurück, um Kitty zu vergewaltigen und im Anschluss zu ermorden. Laut Berichten sollen etliche Anwohner*innen die Tat entweder gehört oder gesehen haben, ohne einzugreifen. Teilweise sei die Situation falsch eingeschätzt worden, steht in Medienberichten. Eine Person habe etwa die Schreie für einen Streit zwischen Eheleuten gehalten. Dieser Fall der Kitty Genovese ist bekannt geworden für das Fehlen von Zivilcourage (WDR 2019; Wikipedia 2025).

Anschließende psychologische Forschungen widmen sich dem „Zuschauereffekt“. Dieser besagt, dass mit steigender Anzahl von Zuschauer*innen die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Menschen eingreifen (Levine/Manning 2014: 368). Ein Faktor, der Menschen vor dem Eingreifen abhält, ist die „Hemmung durch ein Publikum“ (Levine/Manning 2014: 371). Zu sehr überwiegt die Angst vor einer Bewertung mit einer daraus resultierenden Scham (Levine/Manning 2014: 371). Lamnek argumentiert, dass Scham eine kontrollierende Funktion hat, die aufzeigt, wo die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum liegen (Lamnek 2003: 45). Doch genau hier liegt ein Widerspruch.

Menschliches Ermessen muss nicht bei der Grenze zwischen Nähe und Distanz enden, denn wenn andere die Grenzen von Menschen verletzen, kann es wichtig sein, die Schranken der Privatsphäre zu überwinden. Das Bewusstsein über angemessenes Handeln, kann mit Bildungs- und Präventionsarbeit möglich gemacht werden. So verringert sich etwa der „Zuschauereffekt“ durch mehr Kompetenz bzw. Wissen (Levine/Manning 2014: 372). Eine Studie aus den USA zeigt darüber hinaus, dass vor allem eine Nachbarschaft, in der die Bewohner*innen gut vernetzt sind, sowie eine aktive Haltung zur Zivilcourage in Gewaltsituationen vertreten, dazu beitragen kann, dass die Femizid-Rate und die Anzahl der Gewaltentaten sinkt (Browning 2002).  

Indirekt kreiert Scham einen Schutzraum für individuelle Autonomie. Gleichzeitig ist eine resultierende Privatheit eine Barriere für soziale Kontrolle und wird auch als Vorwand genutzt, sich nicht einzumischen. Für den Schutz der Privatsphäre wird in entscheidenden Momenten, in denen Zivilcourage wichtig wäre, aus Scham weggesehen. Die Frage nach dem entscheidenden Moment ist schwer zu beantworten. Vielleicht ist aber dieser Moment auch manchmal selbsterklärend, wie im Falle der ermordeten Kitty Genovese aus New York.

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Literatur

Browning, Christopher R. (2002): The Span of Collective Efficacy: Extending Social Disorganization Theory to Partner Violence. Journal of Marriage and Family 64 (4): 833-850.

Hamm, Bernd (2000): Nachbarschaft. In: Häußermann, Hartmut (Hg.): Großstadt. Soziologische Stichworte. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 173-182.

Lamnek, Siegfried (2003): Die Ambivalenz von Öffentlichkeit und Privatheit, von Nähe und Distanz. In: Lamnek, Siegfried/ Marie-Theres, Tinnefeld (Hg.): Privatheit, Garten und politische Kultur. Von kommunikativen Zwischenräumen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 40-65.

Lehnert, Gertrud (1999): Mit dem Handy in der Peepshow. Berlin.

Levine, Mark/Rachel Manning (2014): Prosoziales Verhalten. Warum helfen Menschen nicht?. In: Jonas, Klaus/Wolfgang, Stroebe/Miles, Hewstone (Hg.): Sozialpsychologie. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag, 357-399.

WDR (2019): 13. März 1964 – Kitty Genovese wird ermordet. 13.03.2019, URL: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-kitty-genovese-100.html (abgerufen am: 14.02.2025).

Wikipedia (2025): Mordfall Kitty Genovese. 01.01.2025, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Mordfall_Kitty_Genovese (abgerufen am: 14.02.2025).

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