Eine Erzählung über Unsicherheit und Entschlossenheit
von Nora Mettasch
An meinem ersten Tag in der Uni habe ich mich gefühlt, als wäre ich allein in einem anderen Land. Mir war die Uni Bremen schon längst bekannt, da ich meine ältere Schwester schon oft in die Bibliothek oder in Seminare begleitet hatte. Ich kannte den Weg, meine Räume hatte ich Wochen vorher schon besucht, damit alles reibungslos verlaufen konnte und ich schon wusste, wo ich hinmusste. Mein Stundenplan war fertig, ich hatte einen kompletten Plan von allen Veranstaltungen, die ich in der O-Woche besuchen könnte.
Irgendwie wollte ich mich trotzdem davor drücken, hinzugehen, weil ich das Gefühl von Stress in einer neuen Situation am liebsten komplett aus meinem Gefühlskatalog streichen wollte. In der O-Woche war ich krank, und in der darauffolgenden Woche, in der es wirklich losging, hatte ich also direkt das Gefühl, schon alles verpasst zu haben, was möglich war. Meine Kommiliton*innen sprachen davon, wie cool es gewesen sei, die Veranstaltungen und Angebote abzuklappern. Grüppchen hatten sich längst gebildet, und die einzige Person aus meinem Profilfach, die ich schon kannte, hatte einen komplett anderen Stundenplan.
Ich wusste nur grob, wie man sich an der Uni wirklich selbst zurechtfindet. Bis dahin war ich nur in Begleitung meiner Schwester dort gewesen, die mir von zu Hause aus viel Glück gewünscht und mir versichert hatte, dass alles gut laufen würde.
Die ersten Veranstaltungen liefen gut. Bei meinem Profilfach Kunst wusste ich, worauf ich mich einlassen würde, da ich schon in der gesamten Oberstufe diesen Studiengang im Blick hatte. Langsam, aber sicher, ging es auf den Donnerstag zu – und damit auch auf meine erste Annäherung an das Fach Kulturwissenschaft. Ich wusste nicht mal annähernd, was auf mich zukommen würde, da ich mich kaum damit beschäftigt hatte und einfach etwas brauchte, das ich neben Kunst studieren konnte. Als ich in der Vorlesung saß, habe ich erfahren, dass genau das, was ich die ganze Woche über gefühlt hatte, ein kulturwissenschaftliches Phänomen ist, welches sich Forschende zunutze machen. In diesem Moment hat mich der Studiengang mitgerissen. Ich hätte nie gedacht, dass es Personen gibt, die sich absichtlich in solche Situationen begeben, um daran zu forschen. Diese sehr praktische Art des Forschens – im Moment zu sein und wirklich aufzupassen, was passiert und warum es passiert – hat mich fasziniert. Schnell wurde mir klar, dass ich mich für den richtigen Studiengang entschieden hatte. Noch zu Anfang des Semesters, in der zweiten Vorlesung, haben wir das Thema „Parallelwelten. Wohnungslos in Hamburg“ behandelt. Meine Faszination war zwar geblieben, jedoch wurde mir sehr mulmig zumute. Ich war nicht bereit, so einen Spiegel vorgesetzt zu bekommen und mit meinen eigenen, unterbewussten Gefühlen konfrontiert zu werden. Ich wusste natürlich, dass es wohnungslose Personen gibt, aber wie vermutlich viele Studierende in dieser Vorlesung, hatte man sich nie wirklich mit dem Thema befasst oder es einfach verdrängt. Während der Vorlesung machte sich in mir ein Gefühl von Schuld breit. Schuld, weil ich weggesehen hatte. Schuld, weil ich in dem Moment nicht mehr wusste, ob ich nie geholfen hatte, weil ich es nicht besser wusste, selbst nichts hatte oder einfach nicht wollte.
Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass es wichtig war, sich dem Gefühl von Scham zu stellen und offen für die anfangs ungewohnten und eventuell sogar unangenehmen Themen zu sein. Diese Sitzung ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Im weiteren Verlauf des Semesters habe ich mich bewusst dazu entschieden, nicht mehr wegzusehen, wenn ich Missstände beobachte, sondern zu hinterfragen und zu verstehen. Auch die Beobachtungsaufgabe hat mir diesbezüglich einen weiteren Blickwinkel verschafft. Ich dachte, es wäre eine einfache Aufgabe, zu protokollieren, was passiert – lag aber falsch. Bei der Auswahl der verschiedenen Orte für die Aufgabe haben wir uns für die Stadtbibliothek in Bremen entschieden, was mich etwas verwundert hat, da ich nicht wusste, was man an so einem Ort beobachten könnte. Als wir uns am Eingang getroffen haben, habe ich gemerkt, dass etwas Angst in mir aufstieg, und ich habe mich fehl am Platz gefühlt, da die Stadtbibliothek ein Ort war, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Ich habe aber schnell versucht, meine Unsicherheiten zu überwinden, um mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Es war schwer, sich auf die wesentlichen Aspekte zu fokussieren, da ich nicht wirklich wusste, was wichtig genug war, um es aufzuschreiben. Die Unsicherheit am Ende der Aufgabe, nichts zu Papier gebracht zu haben, ist schnell verflogen, denn es wäre schwerer gewesen, nichts zu schreiben als zu viel. Trotzdem war es sehr beruhigend, als ich erfahren habe, dass wir das Feedback mit unseren Gruppenmitgliedern besprechen und uns in diesem Rahmen reflektieren konnten.
Die Gruppenarbeit mit besagten Mitgliedern und dem Thema „Sound“ war für mich die erste Art von Vortrag, die ich an der Uni gestaltet habe. Es war interessant, sich mit dem Thema zu beschäftigen – vor allem, weil ich nicht wusste, inwiefern Sound kulturwissenschaftlich sein kann. Ich war überrascht davon, wie vielseitig das Thema gestaltet werden konnte, da das Themenfeld doch recht groß war. Mir war bewusst, dass Klänge im Alltag bedeutsam sind, wurde jedoch trotzdem davon überrascht, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von ihnen sein kann und wie sehr ich selbst von der Wahrnehmung bestimmter Sounds beeinflusst werde.
Nach den Gruppenvorträgen ging es in Richtung des freien Textes. Schon wieder wusste ich nicht genau, was auf mich zukommen würde. Ich wusste nicht, was ich schreiben sollte – nicht, weil die Aufgabe schwer gestaltet war oder es nichts gab, worüber ich schreiben könnte. Ich wusste nicht, wofür ich mich entscheiden sollte. Ich wollte nichts verpassen, indem ich das falsche Genre wähle oder das für mich falsche Thema. Ich wollte über alles schreiben, was ich gelernt hatte, und bin zu dem Entschluss gekommen, das in gewisser Weise auch zu tun.

